Wir beschlossen, die nächsten Monde in Corrinis zu verbringen, um dort zu lernen und Wege zu finden, unseren jüngst erlangten Reichtum sinnvoll umzusetzen. Doch zunächst hatte ich noch ein eigenes Vorhaben und verabschiedete mich für einige Tage von meinen Gefährten. Mit dem Pferd, das die letzten Tage außerhalb der Stadtmauern auf einer Koppel untergebracht worden war, setzte ich wieder ans Festland über und begann die Reise nordwärts in Richtung Tidford. Es war ein seltsames Gefühl, wieder alleine zu reisen und wenn es nur für wenige Tage und auf einer großen Handelsstraße war. Nicht einmal Maglos hatte ich mitgenommen. Er schien mir bei Caileass gut aufgehoben und der ehemalige Abenteurer selbst schien dem Hütehund ebenfalls einiges abgewinnen zu können.
Drei ruhige Tage vergingen, bis ich Tidford erreichte und dort konnte ich bei einem gewöhnlichen Schmied schnell in Erfahrung bringen, wo ein gewisser Gnomenschmied namens Artur Cuinn wohnte. Es handelte sich um ein eher kleines Haus im Stadtkern. Sofern man von einem Stadtkern sprechen kann, da die Stadt – gelegen am großen Fluss Tuarisc – auch auf fünf kleinen Inseln erbaut wurde, die in dem schnellen Gewässer lagen. Das Haus des Gnoms verfügte über einige Türen in halber Größe, doch ich klopfte verständlicherweise an jener Pforte an, die mir für unerwartete Kunden gemäß erschien. Anschließend öffnete ich und trat herein.
Unter den Straßen von Corrinis
Wir waren bereits eine Weile hier. Nur halbherzig hatten wir die Zelle abgesucht oder zumindest die Bereiche, an die wir mit der kurzen Fußfessel kamen. Nicola sinnierte, ob er gewisse Zaubersprüche einsetzen könnte, um uns im Zweifelsfall hieraus zu befreien. Doch ob das funktionieren würde oder nicht – würde uns eine Flucht wirklich weiterhelfen? Unser gesamter Besitz war in Gewahrsam, die Stadtwache dürfte zu nicht geringen Teilen unsere Gesichter kennen und schlussendlich würden wir nie wieder einen Fuß nach Corrinis setzen können.
Doch all unsere Überlegungen spielten ohnehin keine Rolle mehr, als plötzlich ein Mann an unsere Kerkertür kam und sie aufschloss. Er wirkte bereits etwas gesetzter, besaß einen dichten braunen Bart und vor allem: er trug die Kleidung einer Stadtwache.
„Ich hole euch hier heraus. Sagt einfach Nichts und folgt mir“, sagte er hastig.
„Wer seid Ihr überhaupt?“, fragte ich dennoch – denn die plötzliche „Befreiung“ kam mir mehr als merkwürdig vor. Doch eine Antwort erhielt ich nicht und so blieb mir wenig übrig, außer dem seltsamen Mann und meinen Begleitern aus der Zelle zu folgen. Wir gingen bis in den Raum, wo sich die eigentlichen Kerkerwächter befanden: allesamt im Tiefschlaf oder bewusstlos am Boden. Zweifelsohne war hier Zauberei im Einsatz gewesen und ein weiteres Mal blickte ich argwöhnisch zu unserem „Retter“.
„Zieh euch ihre Kleidung an, damit ihr nicht auffallt“, forderte er uns nun auf. Kommentarlos folgten wir der Aufforderung und fanden einigermaßen passende Ausstattung bei den Bewusstlosen, allerdings stellte Ricardo die Frage: „Was ist mit unseren Sachen?“
„Das wird sich finden. Folgt mir jetzt“, blieb der Mann uns weiterhin jede Erklärung schuldig, betätigte aber irgendeine Art Geheimschalter. Ein Tunnel öffnete sich in einer Wand und wir huschten schnell hindurch. Er war niedrig und eng, doch nicht allzu lang…
Blasse Hochzeit
Etwas mehr als zwanzig Tage verbrachten wir noch in Crossing – oder in der Umgebung. Ich nutzte diese Zeit, um mich wieder etwas in die Natur zurückzuziehen und Erholung von dem brutalen Massaker an der Schule der Alten Meister zu finden. Selbst Maglos begleitete mich nicht auf jeder dieser Erkundungsreisen durch die nahegelegenen Wälder, die ich immer wieder erschreckend hohl vorfinden musste. Sie waren sehr klein und in weiten Teilen gerodet worden, als der Mensch sich dieses Land urbar gemacht hatte, und boten nahezu nur noch jenen Wesen Platz, die dem neuen Herrscher dieser Welt gleichgültig waren oder die er jagen konnte.
Doch zumindest eine Stelle fand ich vor, welche mein Gemüt besänftigte. Es war eine vergleichsweise unpraktische Stelle zwischen vier eng stehenden Bäumen, an deren Füßen sich dichtes Moos getummelt hatte, zwischen dem nur wenige Pilze hervorschossen. Dabei plätscherte ein wirklich kleiner Bach dahin, in dessen klarem Wasser jedoch einige schöne Steine lagen. Ob Nicola sie mitnehmen würde, wenn er den Weg hierherfände? Der Gedanke, den alten Magier durch das Unterholz wanken zu sehen, ließ mich schmunzeln. Ich würde hier alles so lassen, wie ich es gefunden hatte – und nur die Erinnerung mitnehmen, als einen kleinen Ruhepunkt, zu dem ich mich zurückbesinnen konnte.
Als ich den Ort verließ und wusste, dass wir bald aufbrechen würden, um nach Corrinis zu reisen, war ich nicht ganz ohne Wehmut und so warf ich einen verträumten Blick zurück auf diese winzige Stelle, um verwundert festzustellen, dass sich einige Eichhörnchen auf den Ästen des knorrigsten der vier Bäume zusammengefunden hatten. Sie blickten mich an, ebenso wie das kleine, junge Reh, das soeben ins Bild trat. Wir blickten einander an, tauschten Blicke aus dunklen Augen, ehe die Tiere davonhuschten und ihren Alltag aufnahmen. Ich wandte mich nun auch ab und kehrte zurück nach Crossing mit einem Gefühl leichter, wohliger Wärme in meinem Inneren.
Alles endet im Feuer
Wir befanden uns in einer großen, leeren Weite aus stofflosem Weiß, das wir zwar nicht berühren konnten, aber welches uns dennoch trug. Ein Ort, für den man keinen Begriff finden konnte außer einer Negation aller anderen. Sechs Wesen inmitten dieser Einöde, bei acht Wolken in den farblichen Entsprechungen der Essentien unserer Welt, die womöglich gleichermaßen die fahlen Splitter längst vergangener Zaubermeister waren. Niemand von uns konnte erklären, was hier geschah – wir waren Pioniere auf einem Pfad, den keiner von uns hatte betreten wollen und den wir doch alle hatten betreten müssen… auch wenn unsere Motive in einer faszinierenden Bandbreite bis hin zu schnöden, eher menschlichen Begierden reichten.
Amabella und Feanor diskutierten angeregt, was nun zu tun sei. Irgendwas an dem Ritual hatte funktioniert und wir waren wohl mitten im Prozess der Zerstörung der acht Rosen der Macht begriffen, doch mit einer derartigen Zwischenwelt hatte keiner von uns gerechnet. Ricardo versuchte davon zu laufen und es gelang ihm eine Weile lang. Als er sich jedoch umdrehte, und ich bizarrer Weise genau in jenem Moment blinzeln musste, stand er direkt wieder bei uns. Damit schied das, abgesehen von allen anderen Gründen, aus unserem Repertoire der Möglichkeiten aus. Daher begannen Nicola, Miyako und ich mit den Linien zu experimentieren, die wir in der Luft ziehen konnten. Wir stellten fest, dass sie sich bei längeren Bewegungen ebenfalls zu verfärben begannen, auch wenn wir damit nicht sonderlich viel weiter anfangen konnten.
Unsere ersten Versuche zielten darauf ab, mit den passenden Farben die jeweiligen Wolken zu streifen, was jedoch keinen größeren Effekt erzielte. Lediglich schwache Strahlungen magischer Kräfte waren zu spüren – als würde die genannte Wolke einem Herzen gleich einen kräftigen Schlag tun.
Sodann verwandten wir unsere Energien darauf, Verbindungen zwischen den Wolken herzustellen. Dabei versuchten wir verschiedene Kombinationen, erst nach einem bestimmten Farbschema, dann nach Gegensätzen, zuweilen auch schlicht zufällig. Doch all unsere Bestrebungen verliefen im Sand und es war dann Feanor, der eine Idee zu haben schien.
„Es geht um Auslöschung oder Gegensätze“, oder etwas in der Art flüsterte er vor sich hin, während er zur goldschimmernden Wolke schritt. Diese war der Essentia Metall zugeordnet, was auch die Rose gewesen war, die der alte Zauberer so lange Zeit in seinem Magierstab mit sich geführt hatte.
Der Ursprung
Wir hatten gerade zu Abend gegessen, wofür man uns diesmal erstaunlich penetrant und mit Nachdruck eine Bezahlung abverlangt hatte, da kam ein Novize zu uns.
„Feanor ist von seinen Besorgungen in Candranor zurückgekehrt und wünscht euch zu sehen“, erklärte der junge Mann und verschwand sogleich wieder. Wir zögerten indes keinen Moment, standen auf und machten uns auf den Weg zum Arbeitszimmer des alten Magiers, das wir umgehend betraten.
Feanors Raum wirkte so wie immer, angefüllt mit Wissen, das aber nicht steril in den Regalen alterte, sondern wild aufgeschlagen und verteilt auf dem großen Schreibtisch herumlag. Die Gedanken des Zauberers ruhten wohl nie und ebenso wenig schien seine Arbeit einen Halt zu finden. Dutzende Bücher waren offen und das obwohl unsere Reise sich ihrem Ende näherte – oder?
Der Eispalast (oder: “Hol den Cirdor raus!”)
Miyako holte noch drei Eispickel, um uns mögliche Kletterpartien zu vereinfachen, ehe wir aufbrachen. Auch die Mannschaft verließ das Boot – vor allem, um zum Eiswall hinüberzumarschieren. Die festgefahrenen und teilweise wie Nussschalen aufgebrochenen Schiffe hingen dort zwischen den frostigen Zinnen, in den Augen der Waelingern gleich reifen Früchten, die sie nur ernten mussten. Zweifelsohne lagen dort noch einige Reichtümer in den Händen lange erfrorener oder verhungerter Menschen.
Aber unser Weg führte uns zum gewaltigen, in die Höhe ragenden Turm aus Eis. Umrankt wurde er von wilden zyklopischen Eiszacken, welche ohne feste Anordnung in jegliche Richtung wiesen und damit die gestrenge Bauform aufbrach. Es verlieh dem Gebilde eine fremdartige Form, die durch sein unnormales Material noch unterstrichen wurde.
Frosthauch
Als ich mich am Morgen ankleidete fiel mein Blick auf ein Amulett, das ich bereits einige Zeit nicht mehr eingehend betrachtet hatte. Es war aus Alchemistenmetall angefertigt worden und umfasste einen kleinen Smaragd. Als ich es an diesem Morgen des Elfttages in der ersten Trideade des Draugrmonds in die Hand nahm, spürte ich, dass es sich erwärmt hatte. Vage meinte ich mich erinnern zu können, dass sich dieses Gefühl in den letzten Tagen verstärkt hatte… wünschte nun tatsächlich Feanor wieder uns zu sehen?
Zunächst kamen wir zu viert beim Frühstück im Gasthaus „Zum Goldenen Käfig“ zusammen. Gerade hatten wir das Essen zu uns genommen, übernahm erst einmal Mara das Wort: „Es war mir eine Freude, mit euch gereist zu sein! Es war einige interessante Erfahrungen dabei – allerdings muss ich nun zunächst wieder eigene Pfade gehen. Ich möchte mich noch etwas in Candranor umschauen und dann sehen, wohin es mich verschlägt.“
Herzlich verabschiedeten wir uns von der Elfe, die uns dann verließ. Zu dritt blieben wir zurück und ich brachte zur Sprache, was mir am Morgen aufgefallen war: „Miyako? Hast du ebenfalls eine Veränderung am Amulett gespürt?“
„Ja, es hat sich erwärmt“, bestätigte die KanThai. „Wir sollten uns wohl auf den Weg zu Feanor machen.“
Bei diesen Worten zeigte ich auch einmal Ricardo mein Amulett, das uns der Magier des Elementarsterns überreicht hatte, ehe wir den Küstenstaatler kennengelernt hatten. Auch Groam hatte eines besessen, aber dieses lag nun am Grund des Meeresbodens unweit von Oktrea…
Zum Goldenen Käfig
Wir besorgten uns am nächsten Morgen Trockenfleisch und Brot für die weitere Reise nach Boras und kehrten schließlich zur Wogenwolf zurück, wo die Mannschaft begierig darauf wartete, endlich den Heimathafen ansteuern zu können.
Rasch waren wir abgelegt und fuhren den Fjord hinaus in die Waelingsee. Allerdings blieben wir die nächsten Tage stets in der Nähe des Festlands. Der Winter verstärkte seinen Griff um den Norden Midgards. Immer häufiger sahen wir Eisschollen auf dem Wasser treiben, wenngleich sie noch nicht ausreichten, um das Vorankommen der Wogenwolf effektiv zu beeinträchtigen. Dazu fiel immer wieder Schnee und die von uns erkennbare Küstenlinie kleidete sich Tag für Tag mehr in ein helles Weiß. Waeland zeigte sich hier in einer beinah poetischen Pracht: Schnee an Land, Eis auf dem Wasser und die gesamte Ordnung geprägt von den harschen Fjorden, die sich widerstandsfähig gegen das Meer empordrängten.
Der Fjorde Ruf, der Familie Trauer?
Der Winter näherte sich mit raschen Schritten und wir beschlossen, uns für die unsere nächste Reise auszustatten. Wir ließen unsere Rüstungen ausbessern, ich frischte meine Vorräte an Salben und Arzneien auf, Miyako und ich sicherten uns auch bei einem Alchemisten des Elementarsterns einige magische Heiltränke. Dabei drängte ich die KanThai durchaus dazu, etwas mehr als nötig einzukaufen – von einem großen Goldvorrat konnten wir uns in der Not wenig leisten.
Schließlich suchten Ricardo, Miyako und ich uns auf Drängen der Frau dicke, warme Kleidung für winterliche Gefilde. Ich war etwas verwundert, war es doch selbst in der kalten Jahreszeit in Candranor recht warm und das nächste Ziel der Reise stand noch nicht fest. Oder?
In den Tiefen des Nichts
Wir standen in den Tiefen einer riesigen Höhle, die – ob nun magisch oder natürlich geschaffen – vor beinah eintausend Jahren das Versteck der letzten Dunklen Meister dargestellt hatte. Nachdem wir uns durch die derzeit zerstörten Globen gekämpft hatten, waren wir nun hier, an diesem seltsamen Ort. Ein dreieckiger Torbogen war zu durchqueren, um an den Rand eines großen in den Fels eingelassenen Rings zu treten. Während die Wände von einer Schlange, welche sich selbst in den Schwanz biss, gezeichnet waren, wies der Boden ein riesiges Hexagramm auf. An jeder Spitze stand, kurz außerhalb des Rings, ein riesiger Obelisk, der sich trotz der Jahrhunderte noch unbeschadet in die Luft reckte.
Zentrum dieses bizarren Konstrukts war eine vulkangläserne Pyramide, mehr als doppelt so hoch wie ein Mensch. Mitten im Hexagramm angebracht stellte sie wohl eine Art Fokus dar – aber nur unvollständig. Auf der abgeflachten Spitze hatte wohl einst jene Kugel gelegen, die nun scheinbar wahllos vor Jahrhunderten heruntergerollt und schließlich zum Liegen gekommen war. Größer als ein Mensch und von kristallgläserner Struktur, wies sie silberne Fäden auf, die sich in ihrem Inneren zu einem unerkenntlichen Chaos oder einer wahnsinnigen Ordnung zusammenfügten.