Alles endet im Feuer

Wir befanden uns in einer großen, leeren Weite aus stofflosem Weiß, das wir zwar nicht berühren konnten, aber welches uns dennoch trug. Ein Ort, für den man keinen Begriff finden konnte außer einer Negation aller anderen. Sechs Wesen inmitten dieser Einöde, bei acht Wolken in den farblichen Entsprechungen der Essentien unserer Welt, die womöglich gleichermaßen die fahlen Splitter längst vergangener Zaubermeister waren. Niemand von uns konnte erklären, was hier geschah – wir waren Pioniere auf einem Pfad, den keiner von uns hatte betreten wollen und den wir doch alle hatten betreten müssen… auch wenn unsere Motive in einer faszinierenden Bandbreite bis hin zu schnöden, eher menschlichen Begierden reichten.       

Amabella und Feanor diskutierten angeregt, was nun zu tun sei. Irgendwas an dem Ritual hatte funktioniert und wir waren wohl mitten im Prozess der Zerstörung der acht Rosen der Macht begriffen, doch mit einer derartigen Zwischenwelt hatte keiner von uns gerechnet. Ricardo versuchte davon zu laufen und es gelang ihm eine Weile lang. Als er sich jedoch umdrehte, und ich bizarrer Weise genau in jenem Moment blinzeln musste, stand er direkt wieder bei uns. Damit schied das, abgesehen von allen anderen Gründen, aus unserem Repertoire der Möglichkeiten aus. Daher begannen Nicola, Miyako und ich mit den Linien zu experimentieren, die wir in der Luft ziehen konnten. Wir stellten fest, dass sie sich bei längeren Bewegungen ebenfalls zu verfärben begannen, auch wenn wir damit nicht sonderlich viel weiter anfangen konnten.
Unsere ersten Versuche zielten darauf ab, mit den passenden Farben die jeweiligen Wolken zu streifen, was jedoch keinen größeren Effekt erzielte. Lediglich schwache Strahlungen magischer Kräfte waren zu spüren – als würde die genannte Wolke einem Herzen gleich einen kräftigen Schlag tun.
Sodann verwandten wir unsere Energien darauf, Verbindungen zwischen den Wolken herzustellen. Dabei versuchten wir verschiedene Kombinationen, erst nach einem bestimmten Farbschema, dann nach Gegensätzen, zuweilen auch schlicht zufällig. Doch all unsere Bestrebungen verliefen im Sand und es war dann Feanor, der eine Idee zu haben schien.
„Es geht um Auslöschung oder Gegensätze“, oder etwas in der Art flüsterte er vor sich hin, während er zur goldschimmernden Wolke schritt. Diese war der Essentia Metall zugeordnet, was auch die Rose gewesen war, die der alte Zauberer so lange Zeit in seinem Magierstab mit sich geführt hatte.

Dann zeichnete Feanor vor der Wolke ein Zeichen in die Luft, das zwar nicht übermäßig komplex schien, doch mir in seiner Struktur nicht einmal ansatzweise bekannt war. Und er verschwand. Binnen eines Augenblicks war er weg – und hatte keinen von uns auch nur ansatzweise in seinen Plan eingeweiht, sodass wir verstehen konnten, was passiert war. Keinen von uns, aber dafür… Amabella.
„Was ist geschehen?“, rief Nicola zu der Zauberin hinüber.
„Feanor hat das Zeichen der Auflösung aus dem Alphabet des Kreativen Chaos in die Luft gemalt“, erklärte sie. Oder sagte sie eher, denn keiner von uns verstand, was das heißen sollte. Nach einem Moment bemerkte das auch die Zauberin und sprach weiter: „Es handelt sich um ein uraltes magisches Alphabet, dessen Zeichen ausnahmslos eine gewisse Macht besitzen. An einem Ort wie diesem hier scheint sich diese Kraft zu vervielfachen – wir brauchen sie, um unsere Aufgabe zu erfüllen.“
„Aber was ist nun mit Feanor geschehen?“
„Das kann ich schwer sagen, aber der Ansatz der Auslöschung war wohl nicht der richtige gewesen. Schließlich wollte er diese goldene Wolke bannen und nicht sich selbst. Wahrscheinlich hat er sich mit dem Zeichen aus diesem Ritual herausgeworfen.“
„Dann bleiben uns also die Gegensätze“, meinte Nicola, der wohl auch die dahin geflüsterten Worte Feanors vernommen hatte. „Amabella, kennt Ihr die Zeichen dieses Alphabets?“
„Nur einige grundlegende Zeichen, Nichts was speziell die Elemente berührt.“

Da erinnerte ich mich an ein kleines Buch, das uns Feanor einst mitgegeben hatte. Es waren die „Essentien der Welt“ von einem gewissen Bertolomi dem Weißen. Darin befanden sich grundlegende Informationen über die natürliche und magische Beschaffenheit unserer Welt, mit ausführlichen Darlegungen über die verschiedenen Essentien. Und bei jedem Textabschnitt war ein bestimmtes Zeichen hinzugemalt worden, dessen Ursprung ich mir niemals hatte wirklich erklären können. Tatsächlich hatten sie schlicht wie kleine Kunstwerke gewirkt ohne besonderen Bezug oder Relevanz. Doch als ich die entsprechenden Seiten aufblätterte und Amabella zeigte, gingen ihr die Augen auf.
„Ja, ich erinnere mich! Das sind die Zeichen aus dem Alphabet des Kreativen Chaos! Hier für Metall, da für Magan und da… sie sind alle da.“
„Na dann…“, machte Nicola und entwand mir das Buch. „Wollen wir es doch angehen!“

Und fest entschlossen trat unser etwas ältlicher Begleiter vor die goldene Wolke des Metalls und zeichnete das Zeichen des Magans in die Luft, indem er mit allen zehn Fingern einen Punkt machte und sie von dort gleichmäßig spreizte. Es wirkte beinah wie eine schematische Darstellung der Sonne, schlug jedoch in eine dunkle, fast schwarze Farbe über.
Sodann ging ein Ruck durch die goldene Wolke, als wäre sie geschlagen worden. Sie wand sich, zuckte und ruckte. Plötzlich brachen aus ihrem Inneren hunderte Formen hervor, die zunächst wie Gegenstände fern jeglicher Geometrie wirkten, dann wie Kreise und Kegel, bis man einige Schimmer ausmachen konnte, die das rohe Metall und seine verschiedensten Formen zeigten: Schwerter, Rüstungen aber auch seltsame stählerne Konstrukte und… waren das Gebäude?
Doch ehe man wirklich erkennen konnte, was die goldene Wolke da gebar, verging sie und es blieb an der Stelle lediglich die weiße Leere dieser seltsamen Zwischenwelt.

„Dieser Vorgang scheint zu funktionieren. Wir müssen also die Gegenpaare der acht Essentien finden, um diese Wolken auflösen“, explizierte Nicola. Sogleich ging er zur schwarzen Wolke auf der gegenüberliegenden Seite, welche dem Magan zugehörte. Die chaotische Energie war der Wolke inhärent, wie mir schien, was sich gleichermaßen an einer gewissen Ausstrahlung an zerstörerischer aber auch schöpferischer Kraft zeigte. All das, was festes, geordnetes Metall nicht war – das fand sich im Magan.

Nicola zeichnete das nächste Zeichen in die Luft: es war zunächst ein Kreis, darin ein Kreuz, dessen Balken wie von selbst Löcher bildeten, die der Vorlage entsprachen. Die Farbe des Zeichens wandelte sich in strahlendes Gold, das uns beinah blendete, während die finstere Wolke vor dem älteren Magier zu zucken begann. In Wogen warf sie sich hin und her und es ergossen sich seltsame Formen daraus. Dabei war allein der Begriff der Form nicht genügend, alles war prozesshaft, wandelte sich. Wirbelnde Strudel aus chaotischer Dunkelheit umwoben die Wolke – und dann verschwand sie.

„Und nun zum Holz. Das Gegenteil ist sicher Feuer. Oder…“, überlegte Nicola.
„Holz steht für das Leben“, warf ich ein.
„Und Eis für den Tod“, erwiderte Nicola. „Dann sind es Eis und Holz. Dann Luft und Erde, schließlich Wasser und Feuer. So dürften wir sie alle zusammen haben.“

Also schritt der Magier weiter zur Tat und zeichnete vor der hellblauen Wolke der Luft das Symbol der Erde in die Luft: ein Viereck mit einer stilisierten Blüte in der Mitte. Aus dem „angegriffenen“ Gebilde kochten kleine Wirbelstürme hervor und gleichzeitig meinte man eine sanfte Brise auf der See zu spüren… dann verging auch diese Wolke und Nicola schritt zum braunen Dunst der Erde hinüber.

Das Zeichen der Luft bestand aus schlichten Kringeln, die hellblau erstrahlten, ehe sie zwischen die dunkle Wolke fuhren und sie auseinandertrieben. Bilder von Bergen, Steinen, Felsen und gar ganzen Kontinenten wurden heraufbeschworen, ehe jene Darstellung der Essentia dahinschwand.
„Und nun zur Wolke des Holzes“, verkündete Nicola und trat zu dem grünen Schleier. Das Symbol von Eis, dem Tod der Welt, glich einer Schneeflocke. Unser Magier zeichnete sie genau in die Luft und sie erhielt einen kurzen, blauen Schimmer – als plötzlich eine dunkle Farbe wie ein Gift hineinschoss und dann verschwand das Symbol. Nicola ächzte und sank zu Boden.

Hastig eilten wir zu ihm hin. Er atmete, blickte umher und nahm alles wahr… doch seine Bewegungen waren scheinbar völlig unkontrolliert. Seine Arme und Beine ruderten umher, ohne ihm einen Dienst zu erweisen, während er versuchte, etwas zu sagen: „Haa…. Mhh, Uggghh.“
„Was ist passiert?“, fragte Miyako.
„Ich habe so etwas noch nie gesehen. Aber…“, fing ich an und sah zu Ricardo. Wir schienen beide etwas Ähnliches zu denken, nur wagte ich kaum, es auszusprechen.
„Ein Teil von ihm ist… weg“, versuchte der Küstenstaatler es zu beschreiben. „Genau genommen all das basale seines Wesens, das Tierische. In der Fachsprache benutzen wir den Begriff ‚Anima‘. Es ist… weg. Schlicht und ergreifend weg.“
Ich nickte, das war auch mein Verdacht gewesen. Doch war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht klar gewesen, dass man seine Anima verlieren und weiterleben konnte. Was war das für ein schrecklicher Zustand?

„Ich könnte ihm helfen“, warf plötzlich Amabella ein.
„Ja, dann ziert Euch nicht!“, blaffte ich sie an. „Es geht um seine Existenz!“

Amabella zuckte mit den Schultern, da ihr meine Eile wohl vollkommen gleich war. Aber sie beugte sich über Nicola und zeichnete ein Symbol dieses bizarren Alphabets auf seine Stirn. Viel erklärte sie uns dazu nicht, doch das Zeichen flackerte auf, verschwand und Nicola zuckte etwas. Dann sagte er: „Ihhh leeeheee.“
„Zumindest etwas“, konstatierte Ricardo.
„Er wird sich allmählich erholen. Es ist kein Kinderspiel, wenn einem die Anima entrissen wird“, erklärte Amabella.

Doch wie war es dazu gekommen? Irritiert griff ich zu dem Büchlein, das ich selbst nur mit Hilfe lesen konnte. Also winkte ich die Bekannte Feanors heran, welche eine Passage vorlas: „Die mit dem Holz assoziierte Farbe ist Blaugrün.“
Und wie ein Mann starrten wir die Wolken um uns herum an und bemerkten, dass Nicola bei der rein-grünen gewesen war. Die blaugrüne befand sich etwas weiter rechts von uns.
„Aber was ist dann nur grün?“, fragte ich verdutzt über diese Farbzuordnungen.
„Wasser“, sagte Amabella, nachdem sie eine Seite weitergeblättert hatte.
Ich seufzte, stand auf und schritt zur blaugrünen Wolke und zeichnete das Symbol des Eises in die Luft. Ein Ruck ging durch die Essentia Holz und Erscheinungen von Pflanzen und Tieren schossen daraus hervor. Alles, was lebte, war mit dieser Kraft verbunden – nicht immer zum Guten, wie wir bei Geia gesehen hatten.

Doch dann war auch diese Wolke verschwunden und ich machte, nach einem sorgfältigen Blick ins Buch, bei der weißen Wolke des Eises das Zeichen des Holzes. Ich sah die Schimmer des Frosts, die Zacken und Berge einer toten Welt, von einer weißen Kälte überrannt.
Doch die Wolke verschwand schnell genug ohne meinen Verstand mit ihren abstrusen Alptraumbildern zu zermalmen. Ich atmete tief durch. Es war fast geschafft. Und wenn wir es richtig verstanden, beendeten wir damit eine Reise, die vor langer Zeit begonnen hatte.
Also zögerte ich nicht weiter und schritt zur rotglühenden Wolke. Das Zeichen des Wassers, in grüner Farbe, waren vier Wellenlinien, die von einem gemeinsamen Punkt ausgingen. Das Feuer wallte beinah in voller Macht vor mir auf und ich vermeinte die Hitze zu spüren, während meine Augen auf Vulkane und Lavaströme blickten.

Und dann war es nur noch eine letzte Wolke: das Grün des Wassers. Wie in seltenen, verborgenen Seen – eine Farbe, die man dem Element nur äußerst selten zuschrieb. Doch schien es das Abbild der Essentia zu sein. Und so zeichnete ich das Feuer in die Luft: vier züngelnde Striche, die von der kleinen Flamme bis hin zum Waldbrand ein Symbol für Zerstörung aber auch Wiedergeburt waren.
Aus der wabernden, grünen Wolke ergossen sich Bilder von Wasserfällen, Seen und Meeren… und dann verschwand auch sie.

Und es blieb die große, weite und leere Weiße. Und wir fünf Gestalten, einer davon gerade darin begriffen, das Laufen aufs Neue zu erlernen.
„War es das? Sind die Rosen zerstört?“, fragte ich in die Stille hinein.
„Möglicherweise. Gewissheit erlangen wir, wenn wir zurückkehren“, sagte Amabella.

„… und wie machen wir das?“, hakte Miyako nach.
„Wir sind hier nicht auf Midgard…“, setzte die Magierin an.
„Aho bwauhen ui dah Aichen ehh Miiwwelwehhen“, ächzte Nicola mit zunehmender Sprachlichkeit – jedoch noch immer fern einer verständlichen Artikulation. Außer für Ricardo: „Ah! Wir brauchen das Zeichen der Mittelwelten. Das Multiversum in seinen verschiedenen Schichten beherbergt unsere Heimat in einer so genannten, ausgeglichenen Ebene.“
„Das Oktagon ist das Zeichen der Ebene der Finsternis“, erinnerte ich mich. Während einer Lernzeit in Candranor hatte ich in einer Vorlesung über die Theorien des Multiversums gesessen und dabei einige, grundlegende Informationen aufgeschnappt. „Das Heptagon, quasi eine Stufe darunter, ist Symbol für die Nahen Chaoswelten.“
„Genau. Und das Hexagon ist das Zeichen der Mittelwelten“, schloss Ricardo und malte sogleich das Sechseck in die Luft. Doch Nichts geschah.

„Das reicht wahrscheinlich nicht aus“, gab Amabella zu bedenken. „Wir brauchen nicht nur einen Ort, sondern auch eine Zeit.“
„Die Gegenwart“, schätzte Ricardo.
„Wünschenswert“, kommentierte die Zauberin. „Gebt mir gerade noch einmal das Buch, Ilfarin.“
Ich gab ihr „Die Essentien der Welt“ in die Hand und sie besah sich den Einband.
„Ja, dachte ich es mir. Hier auf der Rückseite ist ein berühmtes Zitat mit den Zeichen des Kreativen Chaos geschrieben. Kurz gesagt, es geht um die Beständigkeit der Elemente in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und das hier… ist das Zeichen der Gegenwart.“
Sie zeigte auf ein Symbol, das unweigerlich verbunden schien mit seinen Nachbarn. Sein Vorgänger beschrieb eine gerade Linie, deren genauer Verlauf jedoch durch dutzende Überlagerungen schwer zu erkennen war. Der Nachfolger indes wirkte nebulös, denn aus einer Linie wurden ein Dutzend in unterschiedlichen Stärken. Und das von uns gesuchte Zeichen schließlich waren mehrere Striche, die zum größten Teil parallel verliefen, aber sich an einigen Stellen durch Kurven tangierten. Es schien eine lang vergessene Wahrheit in diesem Alphabet des Kreativen Chaos zu liegen, doch so unbekannt wie mir die Schöpfer dieser Zeichen waren, blieb mir der endgültige Sinn.

Wir nickten, konnten ja auch nicht mehr machen, da wir kaum etwas verstanden, und Amabella zeichnete das Hexagon der Mittelwelten in die Luft und mitten hinein die Linien unserer Zeit.
Das Weiß um uns herum waberte in seiner Formlosigkeit auf, umschlang uns und überlagerte jede andere Wahrnehmung, die wir hatten. Innerhalb eines Augenblicks sah ich Nichts mehr, hörte Nichts mehr und fühlte dann auch Nichts mehr. Unergründliches Weiß wechselte hinüber in den lichtlosen Gruß der Dunkelheit…

Ich schlug die Augen auf. Mein Körper fühlte sich an, als wäre ich nicht durch Sphären gereist, sondern von einem Berg gesprungen. Meine Gelenke waren steif und schmerzten, mein Hirn pochte und das Herz raste ungleichmäßig. Ich spuckte etwas Blut aus, da ich mir wohl auf die Zunge gebissen hatte. Erst nach einigen Momenten konnte ich mich etwas sammeln und mich bewegen. Eingeschränkt bewegen.

Ich war gefesselt. Man hatte uns alle gefesselt, neben mir lagen Miyako, Ricardo, Nicola, Amabella und auch Feanor. Wir befanden uns noch inmitten unseres Ritualkreises, doch nicht mehr in unseren jeweiligen Bereichen. Zudem waren die größten Teile des Beschwörungsbereichs grob zerstört worden, wahrscheinlich als man uns hindurch geschleift hatte.
Um uns herum stand ein gutes Dutzend an schmierigen Gesellen, etwas weiter entfernt brannte ein Lagerfeuer und darum standen mindestens noch einmal so viele. Wahrscheinlich sogar mehr, aber von meiner Position aus konnte ich das kaum erkennen. Wer waren diese Männer? Gewöhnliche Wegelagerer wohl kaum, dafür waren wir viel zu weit weg von den Straßen. Konkurrenten um die Rosen, die uns jetzt auf den letzten Metern aufgelauert hatten?
Hektisch blickte ich mich um – wir hatten die Rosen in den Ritualkreis gelegt. Sie waren weg. Hatten diese Barbaren sie etwa an sich genommen? Konnten wir so brutal bei unserem letzten Schritt gescheitert sein?

Da trat jemand an uns heran, der sich von seinen raubeinigen Begleitern durch eine schmierige Art und Weise abhob. Er war recht groß, aber über seine Statur konnte man wenig sagen, so verhüllt wurde sie von seinem Mantel – der nur aus Taschen zu bestehen schien, welche ausnahmslos gefüllt waren. Das verlieh dem Mann etwas Unförmiges, das komisch hätte sein können, trüge er nicht am Gürtel eine Reihe von Dolchen und vor allem in seinen Augen einen Schimmer, der mir gar nicht behagte. Als er dann noch mit schnarrender Stimme zu reden begann, war meine Abscheu bereits voll entfaltet:
„Ah, ihr seid erwacht. Das ist vorzüglich, da ich einige Fragen habe. Doch möchte ich mich natürlich nicht den galanten Formen der Höflichkeit entziehen. Ich bin Ruelstan Blutbad. Man nennt mich auch ‚Den Sammler‘. Solltet ihr weder den einen noch den anderen Namen gehört haben, so ist dies lediglich ein Zeichen einer gewissen Unbildung. Denn jeder, der interessant genug ist und es wert ist, kennt mich. Ich bin derjenige, der magische Artefakte beschafft. Und ich kriege, was ich will. Immer.“
Auf seine Rede reagierten wir sechs mit einem Schweigen – und das war nicht einmal aus Angst geboren, was diesem Banditenhauptmann wohl gar nicht erfreute.
„Ihr wisst euer Glück, mich treffen zu dürfen, nicht zu schätzen. Kretins seid ihr alle zusammen, aber das soll unsere Verhandlungen nicht weiter stören. Ihr habt in Crossing meine Aufmerksamkeit erregt und nun will ich es wissen: Wo sind sie?“
Wir sahen einander an und schwiegen. Doch damit schienen wir es bereits zu weit getrieben zu haben, denn Ruelstan packte Amabella am Kragen und riss sie auf die Beine. Sie versuchte sich zu sträuben, doch war sie ebenso zerschlagen wie wir anderen. So hing sie ohnmächtig in dem scheinbar kräftigen Griff des Banditenanführers, der in die freie Hand einen Dolch nahm.
„Ich werde sie töten, wenn ihr nicht anfangt zu reden“, sagte der „Sammler“ als würde er erklären, welcher Wochentag gerade sei.
„Was sucht Ihr denn überhaupt?“, fragte Miyako dagegen.
„Die Schmuckstücke eben. Die… Steine“, hauchte der Mann und Gier funkelte aus seinen Augen.
„Sie sind offensichtlich nicht da“, kommentierte ich. „Falls es euch nicht aufgefallen ist, aber ihr habt uns gefesselt. Und unsere Sachen bereits an euch genommen.“

Den beißenden Hohn und Spott konnte ich mir nicht verkneifen. Was wagte dieser dahergelaufene Streuner es, uns am Ende dieser langen Reise alles zunichtemachen zu wollen. Wir hatten einer verhexten Wolfsbestie die Bernsteinrose aus dem Schädel geschlagen, das verwunschene Reich einer Naturgewalt überwunden, den Feuersturm von Arthlinn gebändigt und zuletzt den Eispalast im Jokulsund bezwungen. Und nun meinte irgendein Banditenführer, weil er sich eine Gruppe von heimatlosen Marodeuren zusammengesucht hatte, er habe einen ernsthaften Anspruch auf die magischen Artefakte; allein, weil er sie wollte.
Zorn wallte in mir auf und ich vermeinte der Körperspannung meiner Begleiter die gleiche Empfindung zu entnehmen. So hatte Ruelstan uns zwar gefesselt, doch kooperieren würden wir nicht.

Doch ebendas schien der Mann zu merken und ohne eine weitere Bemerkung schnitt er Amabella die Kehle durch. Sie ächzte nur kurz, dann sackte sie im Arm Ruelstans zusammen, der sie zu Boden warf, als sei sie ein Spielzeug, auf das er keine Lust mehr hatte. Bereits als sie auf dem Boden aufkam, war die Freundin Feanors tot.
„Überlegt es euch noch etwas. Meine Männer und ich werden nun etwas feiern und morgen früh sprechen wir uns wieder“, erklärte der Mann mit dem Namen Blutbad. Er wandte sich ab und ging bereits in Richtung des großen Lagerfeuers, wo bereits erste Schnapsflaschen die Runde zu machen schienen, da drehte er sich noch einmal um: „Ach, denkt bitte nicht schlecht von mir. Ich werde euch selbstverständlich gehen lassen, wenn ihr mir alles sagt. Nur eure Schätze werde ich behalten.“
Und bei den letzten Worten trat Ruelstan Blutbad noch einmal zu uns und strich Miyako über die Wange. Wäre sie weniger überrascht gewesen, hätte sie ihm wohl in dem Moment einen Finger abgebissen.

Dann zog sich die Bestie mit ihren Lakaien zum Lagerfeuer zurück und ließ uns unbeaufsichtigt. Nur ab und zu kamen nun einige Banditen zu uns hinüber und prüften, ob die Fesseln noch saßen. Die volle Aufmerksamkeit schien nun bei ihrem kleinen, eigenen Fest zu sein.

Amabella war tot, sinnlos dahingeschlachtet. Doch wir waren kaum in der Lage, den Verlust ihres Lebens zu realisieren. Viel zu sehr trieb uns diese Situation um, das Adrenalin kochte heiß in den Adern und wir mussten dringend einen Ausweg finden. Während wir leise flüsterten, fiel uns auf, wie still Feanor blieb. Behutsam, kurz nachdem einer der Banditen bei uns gewesen war, tastete ich ihn dann ab – er war eiskalt. Sein Atem ging nicht mehr, das Herz schlug nicht. Ich öffnete seine Augen und blickte in ihre gebrochene Leere.
„Er ist tot“, flüsterte ich tonlos. Auch die anderen hatten es bemerkt.
„Sein… Zauber? Ist er so katastrophal schief gegangen?“, fragte Ricardo.
„Der Körper weist keine Verwundungen auf, nicht einmal Anzeichen eines Schocks. Er ist einfach gestorben.“
„Sein Astralleib… seine Seele hat ihn verlassen“, sagte Nicola, der mit Mühe und langsam wieder sprechen konnte. „Es hat ihn noch schlimmer erwischt als mich. Das… lässt sich nicht mehr umkehren.“

Geschockt blickten wir vier auf den Leichnam, der neben uns gefesselt im Gras lag. Feanor war tot? Jetzt? Wo wir es scheinbar geschafft hatten? Denn die Rosen waren weg – die Banditen hatten sie nicht genommen. Und wir hatten sie auch nicht mehr.
Doch es war uns nicht vergönnt, auch nur einen Tropfen des Glücks aus dem Erfolg zu ziehen. Mit Feanor war unsere große Konstante dieser Unternehmung gestorben und wir würden niemals völlig verstehen können, was geschehen war. Auch Amabella war gestorben – einfach so ermordet. Von einem Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht war, am Ende eines Weges, den sich wohl keiner von uns golden ausgemalt hatte – aber doch auch nicht in diesen Schattierungen des tiefsten Dunkels.

Umso entschlossener waren wir nun, uns aus dieser Lage herauszuwinden. Kalter Grimm erwachte und eilends versuchten wir die leichtsinnig lockeren Fesseln abzustreifen, was mir bereits nach einigen Minuten gelang. Die Feier der Marodeure war mittlerweile voll im Gange und es wurden albische Trinklieder angestimmt. Seit einiger Zeit war Niemand mehr zu uns gekommen, also half ich meinen Freunden ebenfalls die Seile loszuwerden und wir rappelten uns vorsichtig auf. Noch immer schmerzten sämtliche unsere Gelenke und es war schwierig einen klaren Gedanken zu fassen. Dennoch konzentrierte ich mich mit der verbliebenen Kraft darauf, die Verbindung zu der mich umgebenden Natur zu finden.
Miyako machte indes einen Wagen der Banditen auf, der nicht weit von uns entfernt war. Im fahlen Licht des Mondes konnte ich die silberne Spitze meines Speeres ausmachen – diese Narren hatten unsere Ausrüstung unbewacht gelassen.

Die KanThai blickte zu mir und ich nickte. Vorsichtig schlichen wir hinüber zu dem Wagen, wobei meine Füße stets das Moos auf der Erde fanden. Leichtfüßig und vereint mit der Natur schritt ich hinüber, Miyako knapp hinter mir.
Und gerade war ich beim Wagen angekommen… da trat die eigentlich professionelle Schleichkünstlerin auf einen Ast. Zischend zog ich die Luft ein, als meine Begleiterin hastig einen Sprung nach vorne machte und sich glücklicherweise leise neben mir abrollte. Die vereinzelten Blicke der Banditen, sofern sie dem Geräusch überhaupt gewidmet wurden, verliefen ins Leere.

Wir griffen unsere notwendigsten Waffen und andere Ausrüstungsteile, da entdeckten wir einen kleinen Beutel… den üblicherweise Gero um seinen Hals trug. Ich warf einen Blick hinein und sah sechs kleine Fläschchen, fünf mit blauer und eine mit roter Flüssigkeit darin. Miyako musterte sie ebenfalls skeptisch, doch wir beide konnten nicht mit Sicherheit sagen, was darin war. Allerdings erinnerten wir uns beide noch genau an die Schlacht in der Mallachtéara.
Womöglich hatten wir eine Chance.

Vorsichtig schlichen wir mit dieser Ausstattung zu Nicola und Ricardo zurück und überreichten ihnen ihre Waffen. Dann huschte ich noch weiter zu Gero während Miyako bei den beiden anderen zurückblieb, da mir mein Einklang mit der Natur hier weiterzuhelfen schien als die jahrelange Erfahrung der KanThai. Noch immer waren die Banditen mit sich selbst beschäftigt.
Der Hausdrache blickte mich bereits erwartungsvoll an, als ich bei ihm ankam. Die Männer Ruelstans hatten ihn gar in eiserne Ketten gelegt, die ich nicht lösen konnte. Doch Gero knurrte entschlossen: „Rot macht groß“ und stieß mit seiner Schnauze gegen seinen kleinen Beutel, den ich in der Hand hielt.
„Wie damals?“, flüsterte ich zurück.
„Ja“, brummte der kleine Drache.

Ich zögerte einen Moment. Eigentlich wäre es mir lieber gewesen, wenn wir zunächst geflohen wären. Ein Rückzug, bis wir wieder bei vollen Kräften waren, um dann die gerechte Vergeltung an Ruelstan Blutbad und seiner Bande zu üben. Doch sobald ich Gero die rote Flüssigkeit einnehmen ließ, war die Sache ausgemacht und er würde gegen die Horde anrennen – es mussten beinah vierzig Mann sein, die da beim Feuer saßen.

Offensichtlich bemerkte der tapfere Hausdrache mein Zögern – wie ich dasaß mit schwerem Atem von der Anstrengung, die mir jede Bewegung bereitete.
„Blau ist für Kraft“, sagte er dann. „Nehmt.“
Ich seufzte schwer und nickte. So musste es also sein und ich entkorkte das kleine Fläschchen mit der roten Flüssigkeit und hielt es Gero an den Mund. Er umschloss den gläsernen Hals und trank den magischen Trunk in einem Zug aus. Sofort begann er zu zucken, während sein Körperumfang verschwamm… und größer wurde. Bereits nach wenigen Sekunden hörte ich das Eisen seiner Ketten knirschen und hastete zu meinen Freunden zurück – jedem eines der Fläschchen mit blauem Inhalt in die Hand drückend.

Wir stürzten das magische Gebräu ebenfalls rasch hinunter und ich spürte, wie einige Kräfte zurückkehrten – doch das war weit davon entfernt, ausgeruht zu sein. Immer noch zerschlagen im Gefühl blickten wir einander an.
„Sollen wir fliehen?“, fragte ich und sprach damit den Gedanken aus, den ich gehegt hatte.
Just in diesem Moment brachen die Ketten Geros sämtlich auseinander und der Hausdrache erreichte seine furchteinflößende, völlig durch Zauberei induzierte Größe. Mehr als vier Meter lang mit einem Maul voller scharfer Reißzähne stürzte er unter lautem Gebrüll auf die Menge der Banditen am Feuer zu. Diese stoben auseinander und griffen geschwind zu den nächstbesten Waffen – manche packten nur Dolche, andere aber gewaltige Schlachtbeile. Der erste Rausch war wie weggeblasen und den laut gebrüllten Befehlen Ruelstans folgend bewegten sich die Marodeure wie eine militärische Einheit… und acht von ihnen begannen zu uns zu rennen.
„Wir können nicht fliehen“, konstatierte Miyako.
„Ich will auch eigentlich nicht mehr weglaufen“, murrte ich. Ich hatte genug. Sollte es hier und jetzt enden, dann sollte es nun so sein.
„Nehmen wir so viele mit, wie wir können“, sagte Ricardo entschlossen.
„Für Feanor“, setzte Nicola angestrengt hinzu.

Einige Sekunden waren uns noch vergönnt, die ich nutzte, um die Haut Ricardos und von mir zur Rinde werden zu lassen – während Nicola unsere Reihe entlangschritt. Zuerst berührte er den Küstenstaatler und grünblaue Flammen züngelten sogleich um seinen Körper herum. Dann verzauberte er auch Miyako, die das kommentarlos hinnahm, und zuletzt mich. Ich spürte die Wärme und keinen Schmerz, denn es war mehr Lebensenergie als Feuer, die diesem Spruch innewohnte. Der Zauberer hatte etwas vor, doch vorher schützte er uns – doch nicht sich selbst, dafür schien seine Kraft nicht zu reichen. Ich sah die Entschlossenheit in seinen Augen. Er zögerte nicht, sich selbst zu gefährden, und das versetzte mir einen kalten Stich ins Herz. Ich stand hier mit drei so teuren Freunden Seite an Seite. Und wofür? Ein letztes Gefecht.

Wir zogen unsere Waffen und dann erreichten uns die Marodeure – zwei stürmten sogleich auf jeden von uns zu. Das Gelände war zu offen, um das zu vermeiden, doch Nicola nutzte seine Zauberkraft, um uns einen Vorteil gegen die Masse zu verschaffen: er zeichnete ein geheimes Symbol in die Luft und sogleich strömte davon ein grünbrauner Nebel aus. Die Flammen entlang meiner Arme und Beine züngelten auf und schienen diesen Hauch zurückzuschlagen, der sich nun den Weg des geringsten Widerstands suchte: den Banditen entgegen.
Die ersten, die es erreichte, verzogen jedoch nur das Gesicht und stürzten sich unbeeindruckt auf Nicola – und uns.

Ich versuchte durch einen raschen Ausfall gleich einen Gegner aus dem Spiel zu nehmen, doch blitzschnell wich der Mann aus und nicht nur das: er trat selbst voran und zog mein vorne stehendes Bein weg. Meine Rückwärtsbewegung geriet unkontrolliert und ich stürzte zu Boden. Sogleich prasselten Schläge meiner Gegner auf mich ein und ich rollte mich nur mit größter Mühe unter ihnen weg. Dann hörten die Angriffe plötzlich auf und die beiden Männer krümmten sich. Ihre Gesichter waren aschfahl geworden, nun grün und ihre Mägen schienen sich zu verkrampfen. Um sie herum spielte der grünbraune Hauch, den Nicola heraufbeschworen hatte!
Erleichtert blickte ich zum Zauberer, der mir diese erste Verschnaufpause verschafft hatte – und sah seine Bedrängnis. Im reinen Nahkampf bekam Nicola ohnehin Probleme, doch dazu war er selbst ebenso wenig vor dem ekelerregenden Hauch geschützt wie unsere Feinde. Gerade so entging der Magier den Hieben seiner beiden Angreifer, die zwar die Gesichter verzogen hatten, aber den Geruch wohl ertragen konnten.

Ich sprang auf und stellte mich schützend vor Nicola, der sogleich einige Schritte nach hinten machte und so nur knapp seinem eigenen Zauber entrann. Die Marodeure vor mir schnaubten nur und schlugen mit ihren Waffen auf mich ein – doch durch den geschickten Einsatz meines Schilds überstand ich die erste Angriffskombination und schlug mit schnellen, wenn auch wenig schmerzhaften, Stichen zurück.
Da hörte ich von rechts den entsetzen Ruf Ricardos, und ich sah, dass er selbst nicht in Gefahr war: Miyako war zu Boden gegangen! Gleich beide ihrer Gegner hatten Schlachtbeile und schwangen diese gewaltigen Äxte wie die Berserker. Unsere Begleiterin war bereits zweimal schwer getroffen worden und blutete aus tiefen Schnitten – ihre gesamte Kleidung war bereits nach diesen wenigen Sekunden voller Blut.
Doch gegen ihren eisernen Willen und unseren Zusammenhalt schienen auch zwei albische Axtkämpfer Nichts auszurichten: Ricardo warf wie beiläufig einen Heiltrank aus seiner Tasche zu ihr und sie trank es in einem Schluck aus, während Nicola herbeilief und mehr durch lautes Rufen als durch gekonnte Schläge die Aufmerksamkeit von unserer gestürzten Freundin abzog. Die Wunden Miyakos schlossen sich gerade einmal an den Rändern. Doch einer Schwertkämpferin wie ihr reichte das, sie sprang durch einen reinen Impuls ihrer Beine auf und zog einem Banditen die Klinge über das Gesicht – er zuckte zurück und überlebte diesen überraschenden Angriff nur knapp.

Indes drangen die zwei Banditen auf mich ein, während meine ursprünglichen Kontrahenten begannen, ihre Mahlzeit von sich zu geben. Das war mein Glück, denn bereits die Angriffe der beiden Marodeure brachten mich an den Rand meiner Kräfte. Gerade so ließ ich den Streich einer Axt an meinem Schild abgleiten, da traf mich ein Dolchstoß vor die Brust. Die Klinge durchbohrte ein Stück meiner zu Rinde gewordenen Haut und Blut floss heraus. Die Kräfte, die mir der Trunk aus Geros Tasche verschafft hatte, waren bereits erschöpft. Ich keuchte schwer, während ich mit größter Mühe noch einige Angriffe gegen meine Feinde vorbrachte, um sie mir etwas vom Leibe zu halten. Das Ritual hatte uns allesamt hochgradig geschwächt und ich sah, dass auch meine Freunde am Ende waren – Miyako bereits halbtot. Und wir hatten nicht einen unserer Gegner überwunden.
Lediglich Gero war es, der uns Mut machte. Der tapfere Hausdrache fegte durch mehr als zwei Dutzend Banditen und schleuderte mit vereinzelten, schweren Attacken diese verfluchten Marodeure durch die Gegend. Man konnte Ruelstan Blutbad sehen, der wild umherlief und seine Befehle brüllte. Und es entfaltete Wirkung – die Albai drangen mit ihren Äxten auf den Drachen ein, als wollten sie einen Baum fällen. Unser Verbündeter forderte einen hohen Blutzoll unter den Männern des „Sammlers“ – doch auch er selbst steckte etliche Hiebe ein.

Doch nicht alles war in rot und schwarz geschrieben. Ich ließ meinen Speer fallen und zog aus Geros Tasche, die derzeit an meinem Gürtel hing, das letzte blaue Fläschchen hervor, das ich hastig entkorkte und einen gierigen Schluck nahm. Es gelang mir gerade so, das zu vollführen, ohne von den beiden Angriffen meiner Gegner getroffen zu werden… und dann griff ich auf die Kraft meines Blutes zurück, das mir aus einem tiefen Schnitt über den Bauch lief.
Flammende Wut entbrannte in meinen Adern, ein roter Schleier legte sich über meine Augen. Wie ein wildes Tier fletschte ich die Zähne und sprang, den Speer rasch wieder aufgehoben, einen der Banditen an. Die silberne Spitze der Waffe drang dem Mann in die Flanke, der fluchend zurückfuhr – aber immer noch lebte. Doch nun war ich ein Gestalt gewordener Rachegeist der Natur, mit einer Haut aus Rinde und dem Zorn des Tiers in mir. Und unablässig attackierte ich meine Angreifer, während ich ihre Hiebe und Stiche zur Seite wischte.

Nicola hielt sich indes wacker und kämpfte zwischen Ricardo und Miyako. Ohne großes kämpferisches Können, am Ende seiner Kräfte und nahezu verkrüppelt durch das Ritual focht der Zauberer noch mit dem, was er hatte. Ungestüm schwang er den Magierstab durch die Luft – und lenkte die Gegner ab.
Was ein junger Fechter aus den Küstenstaaten für sich zu nutzen wusste. Mit einem überraschenden Ausfall war er plötzlich dicht an einem der Marodeure… und hatte ihm das Florett durch die Brust getrieben. Gekonnt zog Ricardo sich sogleich wieder zurück, während der Bandit niederging! Wir machten wieder Boden gut!

Doch auch dieser kurze Moment der Freude verdüsterte sich: der Streich eines Schlachtbeils streifte Nicola am Schädel. Benommen stolperte der ältere Zauberer einige Schritt zurück und stürzte dort ohne weitere Regung in sich zusammen.
Und dann: der Partner des Banditen hob seine gewaltige Axt hoch in die Luft und ließ sie sodann, einem Blitzschlag gleich, niederfahren. Der Schlag galt Miyako, die versuchte, den Angriff mit dem Langschwert abzulenken. Doch für ein solches Manöver war sie viel zu geschwächt, die Waffe wurde ihr aus der Hand geschlagen und die Schneide der Axt bahnte sich weiter ihren Weg… ins Schlüsselbein der KanThai und weiter.

Es war als würde Miyako in den Boden gerammt werden; das Schlachtbeil warf sie direkt nieder und der Bandit zog es nach hinten weg, sodass die Wunde noch weiter aufgerissen wurde. Blut floss aus unserer Freundin und ich wusste nicht mehr, wie viel da noch sein konnte. Die Schwertkämpferin lag am Boden, übersät mit Treffern, die eine Eiche gefällt hätten. Und sie zuckte nicht mehr.

In welchem Schwarz war dieser Weg gezeichnet? Wer hatte so wenig Erbarmen, dass die hellsten Töne gerade einmal einem Grau ähneln mochten? Dereinst hatte sich in Alba eine Gemeinschaft zusammengetan, die nicht wenig später noch einmal verstärkt wurde. Ein Elf, ein Zwerg, ein Halbling und eine Menschenfrau. Ohne Angst vor ihren Aufgaben waren sie vorangeschritten. Bis nach Erainn, wo das Verfluchte Land seinen ersten Tribut gefordert hatte. Dann jedoch war ein kurzer Strich in strahlendem Weiß erfolgt, als weitere Menschen zur Gruppe stießen. Doch es ging nach Chryseia, wo Hexerei und Chaos einen Zwerg und einen jungen Zauberer forderten. Geschwächt und doch entschlossen zog die dezimierte Gruppe weiter. Wieder nach Alba – und nun lag Miyako Kinjo in ihrem eigenen Blut. Nachdem sie so viel vergossen hatte, und doch meistens auch um der guten Sache willen, sollte es nun für sie zu Ende sein?
Nein.

Mit einem Schrei sprang ich an Ricardo und seinen Gegner vorbei, ließ meine Kontrahenten zurück, und ich rollte mich über die Schulter ab. Ich hockte nun direkt neben Miyako, die Nichts mehr mitbekam, und ich entkam nur knapp den erbosten Angriffen der umstehenden Marodeure. Die Augen der KanThai waren geöffnet, blickten aber nur noch mit schwachem Licht empor. Aus meiner Tasche riss ich einen eigenen Heiltrank hervor und goss ihn Miyako über die Lippen, sodass der Großteil der Flüssigkeit in ihren Hals lief. Sie verdrehte die Augen, sie brachen… und dann schoss das Leben durch ihren Körper! Miyako sprang von der Schwelle des Todes zurück auf den dreckigen, blutverschmierten Boden Albas. Ihr Blick streifte mich und ich vermeinte ihre Dankbarkeit zu erkennen, dann wurde sie ohnmächtig.

Aber sie lebte. Vorerst.
Doch jetzt waren es nur noch Ricardo und ich, beide mit einer verzauberten Haut aus Rinde. Der Küstenstaatler nickte mir grimmig zu und wir stellten uns Rücken an Rücken, um gegen die anstürmenden Banditen zu bestehen. Doch all das wäre ohnehin vergeblich, wäre da nicht Gero, der sich durch weitaus mehr Feinde schlug, als wir vier das getan hatten. Feanors Alchemie war ein letztes Gnadengeschenk für uns gewesen, doch es stand zu befürchten, dass aller Mut vergebens war: auch der Drache blutete aus einem Dutzend Wunden.

Doch der Blick ging nicht nach vorne in die Zukunft, oder auf das, was war. Er ging einzig und allein zum nächsten Angriff und zur nächsten Abwehr. Schlag um Schlag, wie schon so oft.
Einer meiner Gegner war derjenige, der Miyako das erste Mal niedergestreckt hatte. Mein Sprung schien diesen Mann noch immer etwas überrascht zu haben, zudem hatten die zahlreichen Attacken der KanThai seine Kräfte mehr als überstrapaziert. Er wankte einen Moment zu lang – und ich stieß zu. Das Silber des Speers fraß sich durch seine Brust und zersetzte sein Herz. Sterbend sank der Mann zu Boden, doch sein Platz wurde direkt vom nächsten eingenommen.
Wir kämpften mit allem, was wir hatten. Ricardos Mut trug ihn weiter, als ich das jemals für möglich gehalten hatte und ich konnte mich nur noch dank meiner Verbindung zur Natur auf den Beinen halten. Nun war ich wirklich Tier und kämpfte ohne Gnade – und erwischte einen weiteren der Marodeure. Damit hatten wir gerade einmal den dritten Bandit niedergestreckt. Und sie streckten den Dritten von uns zu Boden: ich spürte wie ein Gewicht gegen meinen Rücken prallte und daran herabsank. Der heimtückische Stich eines Dolches war es gewesen, der schließlich Ricardos meisterhafte Paraden umgangen war. Der Küstenstaatler hatte alles gegeben, doch jetzt schien er am Ende.

Aber gewisse Vorbereitungen hatten wir doch getroffen! Ricardo holte mit letzten Kräften die Blätter eines Krauts hervor, das er vor einigen Wochen in Tura erstanden hatte, und schob sie in seinen Mund. Fast sein gesamtes Gold hat er dafür ausgegeben und nun… schlossen sich beinah sämtliche Wunden, die er am Leib hatte.
Mit einem Triumphschrei sprang er in Akrobatenmanier auf und machte sogleich einen Ausfall, der den ersten Banditen, der sich wieder genähert hatte, sofort zurückschlug. Ricardo verpasste ihm einen Treffer im Gesicht, ein Erinnerungsstück für die Zukunft – falls der Marodeur eine haben würde.
Doch der nächste Bandit stand bereit und schlug dem Küstenstaatler die Axt in die Flanke. Es warf ihn zur Seite, als es gerade wieder alles aufriss, was vor Sekunden magisch geschlossen worden war.

Ermattet wankte ich umher und zog den letzten Heiltrank aus der Tasche, den wir in Petto hatten. Ich ließ ihn für Ricardo fallen und wurde just in diesem Moment getroffen. Das Eisen drang tief, doch ich spürte das warm hervorschießende Blut nicht mehr. Die tierische Wut ebbte ab, das Feuer wich aus meinen Adern und ich fühlte mich plötzlich so kalt.
Und Ricardo stürzte den Heiltrank hinab und erhob sich ein weiteres Mal wie der Phönix aus der Asche. Er zögerte nicht einen Augenblick, als er das verdutzte Gesicht eines Marodeurs sah, der nicht glauben konnte, dass der Fechter schon wieder auf den Beinen war. Den plötzlichen Angriff Ricardos fing er gerade noch ab, doch mein Begleiter passte sein Ziel binnen eines Augenblicks an und stach dem Banditen mitten in die Hand. Blut quoll hervor, als die Haut durchbohrt wurde und schreiend ließ der Mann seine Waffe fallen – und rannte im nächsten Moment davon.

Im selben Augenblick warf ich mich mit aller Kraft in einen letzten Angriff und rammte den Silberspeer in den Bauch eines Marodeurs, der sofort blutspuckend zu Boden sank. Ich schaffte es nicht mehr, meine Waffe zu befreien, stand dann plötzlich unbewaffnet da. Gerade so blockte ich noch einen Angriff von vorne weg – dann traf mich eine Keule am Hinterkopf und ich kippte vornüber in den blutdurchtränkten Matsch. Nur noch aus den Augenwinkeln sah ich, dass Ricardo sich noch einige Sekunden mit der Übermacht ein Gefecht lieferte. Dann traf ihn von der Seite eine Axtklinge am Knie. Wieder stürzte Ricardo – und diesmal hatte er Nichts mehr um wieder aufzustehen.
Drei Männer von Ruelstan Blutbad standen nun über uns; jene zwei, die von Nicolas Zauber geschwächt worden waren, hatten sich mittlerweile wieder erholt. Sie überlegten wohl einen Augenblick, wen von uns sie zuerst töten sollten, da drangen die Schreie ihrer Kameraden wieder heran. Gero wütete noch immer gegen diese Schergen und so ließen unsere Gegner uns im Schlamm liegen und hasteten zum Kampf gegen den Drachen.

Wir vier lagen geschlagen beieinander und konnten Nichts mehr tun. Lediglich der Blick zu Gero war möglich, der noch von etwa einem halben Dutzend Banditen umringt war. Er hatte etliche bereits niedergemacht, doch nun humpelte er und eine große Wunde klaffte an seinem Hals. Viele Schuppen waren weggerissen und das Fleisch des Drachen lag offen. Auch die Kräfte des Tranks schienen allmählich nachzulassen und der Hausdrache verlor die ersten Zoll seiner magisch erweiterten Größe.
Da trat Ruelstan Blutbad vor Gero und erhob seine zweihändig geführte Axt. Er schrie dem Drachen etwas entgegen, verhieß ihm wohl sein Ende – da zuckte das Maul vor und umschloss den Schädel des Banditenanführers. Das Knacken hallte bis zu uns und Gero riss den „Sammler“ darüber hinaus in die Luft, schleuderte ihn etwas hin und her, bis er ihn schließlich losließ… und Ruelstan flog in unsere Richtung.

Die Marodeure dachten jetzt aber nicht mehr daran, aufzugeben. Sie hatten uns überwunden und Gero schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Aber ihr Hauptmann sollte das alles nicht mehr überleben: er war knapp neben mir aufgeschlagen, das Genick offensichtlich gebrochen und verdreht, darüber hinaus hatte ihm unser schuppiger Verbündeter beinah das gesamte Gesicht weggerissen. Was blieb war eine blutige Masse, die dem wohl selbstgewählten Namen des Mannes alle Ehre erwies.
Und da waren die zahllosen Taschen im Mantel des „Sammlers“. Ich kroch zu ihm hinüber und tastete ihn ab. Das meiste war durch den Sturz zerbrochen oder aufgeplatzt, doch ich entdeckte einen gläsernen Flachmann mit einer unbekannten Flüssigkeit. Ich zog den Korken ab und stürzte die kleine Portion meine Kehle hinunter… und hoffte, dass es kein Gift war.

Kaum benetzte die Flüssigkeit meine Kehle, spürte ich wohlige Wärme aufflackern. Die Kälte glitt von mir ab und ich bekam wieder ein Gefühl in meine Finger. Das Glück war mir hold gewesen! Ich konnte wieder stehen und schleppte mich zu Miyako. Dicht daneben lagen Ricardo und Nicola, beide am Ende, doch am Leben. Ebenso wie die KanThai, doch ihre Kräfte würden wir nun vor allem brauchen können. Noch ein letztes Mal, denn Gero drohte an den letzten Banditen zu scheitern.
Ich kniete mich neben meine Begleiterin dieser vielen Reisen und legte die Hände auf ihre Wunden. Im Blut spürte ich die verblassende Kraft des Lebens, das jedoch einer stark schlagenden Quelle entsprang. Meine geistigen Fühler drangen bis zu diesem Ursprung vor und behutsam begann ich ihm weitere Kraft zuzuführen. Das Leben wurde stärker während sich gleichzeitig die Wunden zu einigen Teilen unter meinen Händen zusammenzogen.

Miyako schlug die Augen auf und instinktiv griff sie direkt nach ihrem Schwert, das nicht weit neben sie gefallen war. Behutsam legte ich ihr die Hand auf die Schulter und sie atmete einmal tief durch, ehe ich ihr auf die Beine half. Gemeinsam sahen wir dann zu Gero hinüber, der beinah wieder Normalgröße erreicht hatte. Die beiden Banditen, die noch standen, bearbeiteten ihn mit wachsendem Erfolg. Vom Gebrüll des zornigen Drachen war nicht mehr viel übrig, unser Freund hatte alles gegeben.

Miyako und ich brauchten uns nicht einmal anzusehen, als wir antrabten. Ich hob meinen Speer vom Boden auf und umfasste ihn mit beiden Händen. Dann beschleunigte ich meinen Schritt, zielsicher über umherliegende Leichen und Leichenteile hinweg. Meine Begleiterin war nicht neben mir, das Schwert zur Seite weggestreckt.
Und wir beendeten das Massaker mit einem Ansturm. Auf den letzten Metern machte ich volles Tempo und stieß dem rechten der beiden Marodeure die Spitze des Stoßspeers mit aller Macht in den Rücken, dass es die Wirbeln auseinanderdrückte und einige Organe zerteilte. Eine Sekunde später war Miyako bei dem linken und letzten Banditen und schlug ihm von rechts nach links mit dem Schwert in den Nacken, was den Kopf beinah abtrennte. Damit sanken die letzten beiden Schergen von Ruelstan Blutbad zu Boden.

Wir hatten es geschafft. Aber zu welchem Preis?

Ich schritt zu Ricardo und Nicola hinüber und versuchte sie mit rudimentärer, erster Hilfe auf die Beine zu bringen. Für einen größeren Heilzauber an ihnen fehlte mir die Kraft, also versuchte ich anschließend, meine eigenen Energien zu stärken – scheiterte jedoch. Und es wunderte mich auch nicht, dass ich bei der Allgegenwärtigkeit des Todes keine Verbindung zum Leben finden konnte. Ich sah während meiner Versuche, wie Miyako zwischen den Marodeuren hin und her schritt. Wer noch atmete oder zuckte, zu dem kniete sich die KanThai als gestaltgewordener Todesengel hin und beendete mit dem Dolch, was meistens Geros Reißzähne nicht geschafft hatten. Einen Moment verspürte ich das Verlangen, ihr dabei zur Hand zu gehen, zwischen diesen minderwertigen Kreaturen umherzugehen und das mickrige Rest Leben, das sich noch in ihnen befand zu zerquetschen. Ich erschrak vor mir selbst und warf den Gedanken weit von mir. Diese Männer verdienten zweifelsohne ihre Strafe, doch sollte sie mit der Gleichgültigkeit der Gerechtigkeit ausgeführt werden anstatt im verheerenden Mahlstrom des Hasses. Man mag das für fadenscheinig halten, wenn man es nicht versteht – aber genau hierin liegt ein entscheidendes Moment für mein persönliches Überleben.

Gero kam zu uns hinüber und stupste vorsichtig mit der Nase gegen Feanors Bein. Es war eine Geste, die mir das Herz auseinanderriss und ich wandte mich ab.
„Ist Feanor weg?“, fragte der kleine Hausdrache mit schwacher Stimme.
„Ja“, brachte Nicola hervor. „Seine Seele ist aus ihm herausgerissen worden.“
Der Drache schrie nicht, klagte nicht, ja er weinte nicht einmal. Und darum, dass er uns solchen Schmerz ersparte, traf es mein Herz noch viel schwerer. Es gab keinen Ausweg für all unsere Trauer.
„Feanor hat gesagt, dass… wenn er tot ist. Dass er dann ein Ende mit Feuer will“, sagte Gero nach einiger Zeit in seiner unbeholfenen Art.
„Er wollte verbrannt werden?“, fragte Nicola noch einmal nach.
„Ja.“

Miyako, die gerade ihre Tätigkeit beendet hatte, hörte vom letzten Wunsch des großen Zauberers und begann aus der Umgebung Feuerholz heranzuschaffen. So blieb Ricardo, Nicola und mir noch etwas Zeit, zu überlegen.
„Sind die Rosen wirklich zerstört?“, musste ich es noch einmal zur Sprache bringen.
„Ich denke doch. Was sonst sollen diese Wolken symbolisiert haben? Wir haben umgekehrt, was damals geschehen ist. Und nun ist Frieden“, erklärte Ricardo seine Ansicht der Dinge.
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, wägte Nicola ab. „Wer weiß, wo die Rosen nun hin sind? Selbst wenn wir sie auf dieser Ebene gebannt haben, heißt das nicht, dass sie wirklich zerstört wurden. Wer weiß, was alles möglich ist, wenn man die Sphären dieses Multiversums wirklich verstehen könnte.“
Damit traf unser älterer Begleiter die chaotische Natur der Macht wohl so genau, wie es eben ging. Doch zumindest stellten wir fest, als wir Feanors Taschen absuchten, dass nicht er es war, der möglicherweise in seinen letzten Momenten die Rosen vor dem nahenden Ruelstan bei sich versteckt hatte. Also waren diese Artefakte wohl wirklich weg. Zumindest nicht mehr auf Midgard – eine große Erleichterung, denn das hieß, dass das Lebenswerk unseres alten Freundes, dem wir uns mittlerweile ebenso entschlossen verschrieben hatten, erfüllt war.
Doch was wir fanden war ein kleines goldenes Amulett, das einen länglichen Rubin einfasste. Es verspürte eine gewisse, magische Aura, ähnelte aber Nichts das Nicola noch Ricardo und auch nicht ich jemals gesehen hatten. Allerdings wusste Gero einen Rat: „Feanor wollte, dass das mit ihm verbrannt wird. Amulett mit Körper.“
„Wieso?“, fragte Ricardo.
„Macht ihn vollständig, vielleicht. Geist und Körper zusammen weg.“

Doch etwas an dieser Konstellation alarmierte mich. Und es war kein leichtes Unwohlsein, es war vielmehr der Blick in den Abgrund.
„Er wollte verbrannt werden? Und dieser Stein soll dabei sein?“
„Ja“, erwiderte Gero, der angesichts meines scharfen Tons irritiert wirkte.
„Ich glaube nicht, dass wir das tun sollten. Nach allem, was wir über die Rosen der Macht erfahren haben… klingt mir das zu ähnlich. Ich will nicht, dass was auch immer noch von Feanor übrig ist, in diesen Stein gezwungen wird.“
Gero schwieg, da er scheinbar nicht verstand. Also fuhr ich fort: „Lassen wir Feanor so sterben, wie es nun geschehen ist. Selbst die Alten Meister haben ihr Ende herbeigesehnt. Es wird für unseren alten Freund nichts Gutes haben, wenn er in einem so ähnlichen Ritual verabschiedet wird. Und auch für diese Welt wird es nichts Gutes haben, wenn wir eine neue ‚Rose‘ erschaffen. Es tut mir leid, Gero, aber das können wir nicht tun.“
In diesem Moment sah ich den kleinen Hausdrachen ein und erst jetzt, all der Hektik und Hitze des Kampfes entledigt, erkannte ich wieder, wie viele Wunden der Vertraute Feanors erlitten hatte. Sofort kniete ich mich neben ihn hin, um nach einigen der Verletzungen zu sehen, doch Gero entwand sich meinem Griff.
„Ihr braucht nicht fürchten. Meine Zeit ist da.“
„Deine Zeit?“
„Ich werde halten, einen… Schlaf.“
„Der Drachenschlaf“, hauchte Nicola. „Ich wusste nicht, dass es ihn wirklich gibt.“
Gero nickte. „Ich werde Fels, unerschütterlich und stark. Und ich werde mit dem Amulett schlafen. Nichts wird Menschen bedrohen.“
„Nein. Nichts ist ewig und wir verlagern nur das Problem“, blieb ich unerbittlich. „All das mag womöglich erst in tausend Jahren Bedeutung erlangen – doch auch das ist eine Zeitspanne in der wir denken müssen.“
„Ich halte das ebenfalls für eine schlechte Idee“, erklärte Miyako, die genug Holz zusammengesucht hatte und nun das Amulett Feanors an sich nahm. „Wir könnten es an die Gilde des Elementarsterns schicken. Damit verstehen sie, dass er tot ist. Das wird auch sie schwer treffen.“
Ricardo und Nicola schienen ebenfalls skeptisch und so war es ausgemacht.

Gero schien unsere Entscheidung nicht zu akzeptieren, doch er nahm sie hin. So begannen wir das Holz für den Scheiterhaufen aufzuschichten und legten schließlich den Körper des Mannes darauf, der zuerst Auftraggeber gewesen war, dann auch Lehrmeister. Zuweilen ein Begleiter und letzten Endes doch auch ein Freund. Auf seine eigene Weise.
Von den Resten des großen Lagerfeuers nahmen wir die Glut und legten Feuer an das Gerüst unter Feanors Leichnam. Rasch züngelten die Flammen empor und knisternd schlugen die Funken in den kühlen Nachthimmel empor. Keiner von uns brachte es über sich, letzte Worte über den Toten zu sprechen. Zu tief saß allein die Erschöpfung, aber auch die schwer zu fassende Erkenntnis, was sich binnen einer Stunde hier abgespielt hatte. Binnen so wenig Zeit schien sich alles verdreht zu haben.
Da zuckte Miyako. Irritiert blickte ich zu ihr hin und erkannte, dass sie gerade ihre rechte Hand zur Hilfe nahm, um die linke zu halten – in der das Amulett Feanors zu leuchten begonnen hatte. Es drängte zum Körper des Zauberers! Sofort packte ich mit beiden Händen zu und versuchte Miyako dabei zu helfen, dieses mir so unheilvolle Artefakt zurückzuhalten. Doch seine Kraft wurde innerhalb weniger Sekunden um ein Vielfaches stärker und selbst die Kraft von zehn Männern hätte es nicht mehr halten können.

Wir ließen los – und das Amulett Feanors schoss geradezu durch die Flammen zu seinem Körper. Und dann… verschluckten sich die Flammen beinah selbst, es wirkte als wäre ein Strudel in meinem Blick entstanden und ich verstand für einige Sekunden nicht, was ich da sah. Aber irgendwie verschwanden das Holz, die Flammen und auch Feanors Körper in dem seltsamen Amulett, dass der Zauberer sein eigen genannt hatte.
Ein düsteres Gefühl bemächtigte sich meiner und ich eilte zu den dunklen Kohleresten, die als einziges von der Feuerbestattung übrig geblieben waren. Darin lag das Amulett und in seinem Rubin erkannte ich das letzte Flackern eines Feuers und meinte gerade so noch darin Feanors Gesicht zu sehen. Auch meine Gefährten sahen das, als sie neben mir standen – und wir alle wurden Zeuge, wie das Bild verblasste und der Stein sich verdunkelte bis er gänzlich schwarz war.

Dann war Gero bei uns und hob das Amulett auf. Doch trotz all der Tragik dieser Situation musste ich ihm wieder entgegentreten:
„Gero… dieses Amulett. Wenn es Feanor beinhaltet, so wird er nie frei sein. Schlimmer noch, er wird womöglich in einer fernen Zukunft eine Gefahr sein. Für andere und auch sich selbst.“
Der Hausdrache reichte mir nur das Amulett und ich nahm es vorsichtig in die Hände. Ich spürte keinen Hauch von Magie mehr… das einstige Artefakt schien plötzlich leer und tot. Doch vor allem anderen, schien es so. Und in dieser Sache glaubte ich meinen Vorahnungen mehr als meiner leicht zu täuschenden Wahrnehmung.
Nicola sprang mir zur Seite: „Selbst wenn dieses Artefakt nun leer wirkt, könnte es noch immer eine Verbindung zu Feanor oder einem Teil von ihm herstellen. Der Missbrauch solcher magischen Spuren kann fähigen Nekromanten gelingen. Dieses Amulett ist gefährlich.“
„Ich werde damit schlafen. Dann kann Niemand an das Amulett herankommen. Es wird sicher sein, für immer“, blieb Gero stur. Und obwohl ich im Geiste wusste, dass wahrscheinlich auch der Drachenschlaf keine unüberwindbare Hürde sein würde, konnte ich schließlich den letzten Wunsch unseres kleinen, geschuppten Freundes nicht abschlagen. So gab ich ihm das Amulett und tröstete mich damit, dass es damit fürs Erste aus der Welt war. Ich musste schließlich auch einsehen, dass ich derzeit nicht wusste, wie man nun dieses Artefakt zerstören konnte – womöglich wusste es keiner. Und sollte der Tag kommen, da das Grab Geros geplündert wurde, so würde ich dann vor Ort sein und die Sache zu einem Ende zu bringen.

Der Hausdrache nahm das Amulett an sich und schleppte sich mit seinen letzten Kräften zum größten Baum dieser Lichtung. Unter seine Krone legte er sich hin, wobei er beinah wie eine Katze wirkte. Behutsam schob er seine Vorderpfoten unter den Kopf – genau dazwischen lag das Amulett.
Dann schlief Gero ein und allmählich erkannten wir, wie sein Körper Stück für Stück zu Stein erstarrte. Und zwischen seinen Gliedern eingeschlossen: das letzte Artefakt Feanors.
„Zumindest bietet die Lichtung ein abschreckendes Bild“, konstatierte Nicola zynisch. Und das konnte man wohl so sagen: beinah vierzig Banditen lagen verteilt unter dem Sternenhimmel, zuweilen im wahrsten Sinne des Wortes. Dazwischen noch die dutzenden, zumeist zerbrochenen Waffen und schließlich auch die Reste einiger Feuer. Ein Bild, das mich wohl ebenso verfolgen würde wie die Schlacht in der Mallachtéara oder die Hallen unter Oktrea.

Wir gingen etwas auf Abstand und schliefen etwa eine halbe Stunde, ehe wir uns an den Aufbruch machten. Keiner wollte noch länger als nötig hier verweilen. Wir stellten fest, dass die Banditen scheinbar einen Weg für zwei Kutschen gefunden und dazu etliche Reitpferde mitgenommen hatten. Vier der Tiere nahmen wir mit, um zu unserem Wagen und den glücklicherweise in Sicherheit geblieben Maglos zurückzukehren. Als wir dann noch etwas Proviant suchten und einige genauere Untersuchungen der beiden Kutschen durchführten, stellten wir fest, dass Ruelstan und seine Bande einen gewaltigen Schatz mit sich herumgeschleppt hatten. Ich glaubte zu allererst an eine Illusion, so fremd wirkte mir die Vorstellung, dass wir jetzt plötzlich auf Gold, Edelsteine und Geschmeide gestoßen waren. Das schien wie eine Belohnung – aber für was? Für was?
Der „Sammler“ hatte außerdem seinem Titel gemäß einige Artefakte mit sich geführt. Wir fanden unter anderem zwei Paar Stiefel nach der Machart meines Volkes, die diese Bestie wohl auf dem dunkelsten Wege an sich gebracht hatte. Außerdem waren da noch eine Wünschelrute, eine Springwurz sowie zwei kostbare Kurzschwerter, die unverkennbar spezielle Eigenschaften besaßen. Sogar eine besondere Rüstung fiel uns ins Auge und noch weitere Sachen. Es fühlte sich absurd an, all diese Dinge an uns zu nehmen – denn keiner von uns fühlte die üblicherweise damit verbundene Süße des Erfolgs. Wir waren alle leer und allein. Das war Nichts, was ein paar Artefakte wettmachen konnten und so warfen wir sie nahezu beiläufig zu unserem Gepäck und ritten los.

Maglos erwartete uns aufgeregt bei der Kutsche. Er merkte, dass irgendetwas geschehen war, doch blieb ihm nicht mehr, als mir mitfühlend über die Hand zu lecken und mir mit dieser vertrauten Geste etwas Normalität zurückzugeben.
Dann ritten wir weiter. Zurück auf die Straße, dann in südlicher Richtung. Und nach einigen Tagen erreichten wir Crossing – wo wir beschlossen, eine lange Ruhepause einzulegen. Wir hatten eine beinah absurde Menge an Gold, die für einen klugen Menschen wohl ein Auskommen bis ans Lebensende darstellen mochte, und so konnten wir Abenteurer es uns zunächst für einige Zeit gut gehen lassen. Denn es mochte zwar viel hinter uns liegen, doch wir waren noch lange nicht an einem Ende. Die tiefere Entschlossenheit, die hinter unseren jeweiligen Bestrebungen lag, war noch standhaft.

Nur wenige Abende nach unserer Rückkehr in die mir nun beinah ruhig erscheinende Stadt, wurden wir plötzlich in dem von uns gewählten Gasthaus angesprochen. Wir hatten eine recht teure Heimstätte gewählt, „Zur goldenen Tränke“, und nahmen nach einem ruhigen Tag eine gute Mahlzeit ein, da schienen sich zwei Männer gegenseitig zu versichern, dass wir die richtigen waren und traten schließlich an uns heran. Sie sprachen Albisch – was ich noch immer nicht beherrschte. Es gefiel mir zum einen seiner Ästhetik nach nicht und vor allem sprach nahezu jeder, mit dem ich sprechen wollte, auch die allgemeine Handelssprache Comentang. Und so auch diese beiden Männer, als ich fragte: „Was wollt Ihr?“
„Seid Ihr Ilfarin? Und Ihr Miyako?“, fragte der eine.
„Ja. Was gibt es?“
„Wir haben Briefe für euch!“, erklärte er. „Und außerdem noch für einen gewissen Olo Platschfuß und einen Garric Falstaff. Wisst ihr, wo die sind?“
„Garric haben wir schon lange nicht gesehen“, erwiderte ich etwas verdutzt, dass dieser Name plötzlich wieder auf den Tisch gekommen war. „Und Olo ist tot.“
„Mensch, dass man aber auch immer an irgendwen adressiert wird, der keine Heimat hat“, beschwerte sich der Mann, der offensichtlich ein Bote war. Ich drückte ihm daraufhin ein Silberstück in die Hand und scheuchte ihn davon, etwas ärgerlich darüber, dass er den Tod eines Adressaten und unseres Freundes nicht einmal vorgeblich bedauerte. Dann entfaltete ich den Brief, der allerdings auf Albisch geschrieben war – und lesen konnte ich es erst recht nicht. Miyako erging es gleich, doch wir bemerkten zumindest, dass es derselbe Text war nur mit einem angepassten Adressaten. Die Bediensteten der „goldenen Tränke“ erwiesen sich als sehr hilfsbereit und einer der umhergehenden Kellner konnte sogar lesen. Er nahm meinen Brief zur Hand und las leise für uns vor:
„Mein lieber Ilfarin,
viel zu lange ist es nun her, aber ich hoffe ihr habt mich noch nicht vergessen. Wir wurden damals ja mehr als plötzlich und harsch getrennt. Mir geht es gut. Ich bin nun wieder nach Alba – in meine Heimatstadt Corrinis gezogen. Ich hoffe, wir können uns dort treffen. Ich feiere am neunten Tag des Hirschmonds meine Hochzeit, zu der wir euch alle von Herzen gerne dabei haben möchten. Hoffentlich erreicht euch der Brief rechtzeitig, wo auch immer ihr gerade seid. Sagt mir bitte bis zum Ende des Feenmonds Bescheid. Auf ein baldiges Wiedersehen,

Caileass“

Verblüfft und auch erfreut blickten Miyako und ich uns an. Unser alter Freund war in Corrinis! Und er würde dazu auch noch bald heiraten! Dies war doch endlich die Freude und Ruhe, die ich mir so sehr zu sehen wünschte.

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