Ilfarin Tinuhên

kmAlter: 120

Heimat: Broceliande (Alba)

Größe: 1,69 m

Gestalt: schlank

Bekannte: …

Der Mond leuchtete hell, gleich dem Schimmern eines Einhorns im ruhigen Gewässer. Die Nacht schafft wunderschöne Bilder, doch wird sie im Vergehen alles mit sich reißen. Zwielicht oder Morgen, Ende, Anfang oder Mitte – ein großes Durcheinander in dieser Welt. Es war jenes Chaos, in das ich hineingeboren wurde. Jenes stete Aufsteigen und Fallen, die Vermischung von allem zu einer großen Welt, die ich mit offenen Armen und dem Schrei neugeborenen Lebens begrüßte.

Ich wurde in eine ruhige Zeit geboren, abgelegenen im Broceliande. Meine Eltern lebten in keiner der großen Städte, sondern suchten den Kontakt zu wenigen, aber guten Freunden in versteckten Teilen des Waldes, von denen sich die Albai nicht einmal Geschichten erzählten.
Indiél – meine Mutter. Sie ist eine herausragende Fährtenleserin. Häufig erzählte sie mir Geschichten, wie sie den Wesen des Waldes nachgestellt hatte. Nicht um sie zu jagen, sondern um ihre natürliche Anmut in Momenten größter Ruhe zu bewundern.
Maergas – mein Vater. Ein Barde mit kräftiger Stimme, der mir viel über die Geschichten unseres Volkes erzählte. Meist jene aus lang vergangenen Tagen. Aber er war auch ein Krieger. Doch als ich ihn mit den Jahren immer wieder nach Unterweisung im Schwertkampf fragte, wirkte er müde und abweisend. Das war nicht, was er mir mitgeben wollte.

Die Jahre brachten es mit sich, dass ich mich immer wieder meiner Mutter anschloss, um den Wald zu durchstreifen und seine Schönheit zu betrachten. Schließlich wurde ich alt genug, um nicht mehr auf sie angewiesen zu sein und wählte eigene Pfade, die mich immer wieder weit von den anderen wegführten, hinein in das was manche Einsamkeit nannten, für mich jedoch tiefe Erfüllung und Ruhe bedeutete. Häufig blieb ich tagelang verschwunden, ernährte mich von den Gaben des Waldes oder gar nicht und genoss die Bilder, welche die Welt mir offenbarte.

Ich sah in den Himmel, wo das Licht erstrahlte. In fast seiner ganzen Kraft wurde es eingefangen, von gewaltigen, weißen Türmen umfasst. Eine weiße Wolkenmacht blendete für einen Moment meine Augen. Es war, als flösse eine himmlische Woge durch mich hindurch und eine tiefe Wärme breitete sich in meiner Brust aus.

Da hörte ich das Brechen eines Astes hinter mir und wand mich um. Wenige vor mir stand ein einsamer Wolf, zog die Lefzen zurück und knurrte mich tief an. Das Fell war schwarz und aus den roten Augen glomm mir eine Bosheit entgegen, die ich nur aus den Geschichten meines Vaters kannte. Langsam senkte er den Kopf, scharrte noch einmal mit der fast schon klauenhaften Pfote – dann grollte er laut auf und spurtete los. Für einen Pfeilschuss war die Zeit zu knapp, ich griff mein Jagdmesser und rollte mich zur Seite weg. Die Waffe war gerade einmal dazu geeignet, erlegtes Wild zu zerteilen – nicht unbedingt dafür, es zu töten. Doch mir blieb keine Wahl, der Dunkelwolf hatte meine Ausweichbewegung bereits erahnt und sprang auf mich, ehe ich überhaupt wieder auf den Beinen war. Der Aufprall presste mir alle Luft aus den Lungen und beinahe hätte ich meine einzige Waffe fallen lassen. Heißer Geifer troff mir ins Gesicht, ich versuchte mich zur Seite abzustoßen. Schützend brachte ich so die Schulter vor meine Kehle, ehe die scharfen Zähne sich boshaft in mein Fleisch bohrten und das Fleisch tief einkerbten. Ich schrie meinen Schmerz laut heraus, als die Bestie anfing zu reißen und zu zerren und das Blut floss über meinen Arm, den Hals und über mein Gesicht. Als mir das Rot über den Mund lief und der eiserne Geruch in meine Nase stieg, spürte ich plötzlich etwas anderes als den Schmerz. Es war mir, als könnte ich das Leben spüren, das gerade meinen Körper verließ. Als hätte das Blut noch immer Macht, die es nun in einer Woge aussandte. Instinktiv griff ich danach…nicht mit der Hand, sondern mit meinen Gedanken. Es war flüchtige Kraft, die sich vor mir in einer Wolke ansammelte, scheu und zaghaft – beinahe entglitt sie mir. Dann, all den Schmerz in meiner Schulter ignorierend, war es, als hätte ich sie endlich gepackt. Ein Ruck fuhr durch meine Glieder und der Wolf löste seinen Biss. Er knurrte mich an, ehe ich ihn mit meiner rechten Hand einen Schlag ins geifernde Maul versetzte, dass er von mir herunterfiel. Über meinen Blick hatte sich ein Schleier gelegt und ich nahm das Messer fester in die linke Hand und stürzte mich nun selbst auf den Angreifer. Der schien von meiner neuen Wildheit überrascht und überfordert und die ersten beiden Treffer hatten bereits ihren Weg ins Fleisch gefunden. Ohne nachzudenken setzte ich Stich um Stich und vertrieb den bösen Geist dieser Kreatur aus der Welt.

Leben ist mehr als das, was wir sehen. Es ist mehr, als wir Elfen oder Menschen. Mehr als Tiere. Mehr als die Wälder und Felder. Es ist eine Kraft, die alles umfasst und die Grundlage für alles Sein schafft. Leben ist Liebe aber auch Kraft, Stärke und manchmal Gewalt. Doch wird nie etwas genommen, ohne Sinn. Ein Wolf tötet nicht aus Bosheit, wir jagen nicht aus Spaß.

Die Druiden überlegten lange, ob sie mich ausbilden sollten. Ich schlich um den Hain herum, in dem sie diskutierten und hörte, wie es hin und herging. Eine Begabung wollten sie wohl nicht verleugnen…doch hätten sie Schwäche gespürt. Ein Glücksfall, mehr sei es nicht gewesen – von Talent ganz zu schweigen. Ich konnte es nicht verstehen und je mehr Zweifel ich hörte, desto mehr schien mir, dass ich es auch nicht wollte.
Doch schließlich kam Cianél zu mir, ein Freund meines Vaters, und erklärte sich bereit, mich auszubilden.

Es wurde Zeit der Kindheit den Rücken zu kehren und zu lernen, was mein Platz in dieser Welt war und wie ich ihn verteidigen konnte. Ich war bei diesem Schritt nicht allein – die Söhne von Indiéls Schwester lernten ebenfalls. Doch der Vergleich riss alsbald tiefe Wunden.
Die Druiden hatten nicht gelogen, als sie gesagt hatten, mir fehle es an Talent. Es krampfte in mir, wenn ich versuchte, nach den Wogen des Lebens zu greifen, um sie in neue Bahnen zu lenken. Und auch das Bogenschießen und Jagen vermochte ich nicht so zu erfüllen, dass irgendjemand geschweige denn ich selbst einen Hauch von Stolz hätte empfinden können. Nicht einmal die wundervollen Langbögen meines Volkes vermochte ich zu spannen.

So zog es mich trotz neuer Verantwortungen immer wieder weit weg von unserem Heim, dorthin, wo ich allein war. Wo es keinen Vergleich gab – nur die Natur und mich.

Ich hielt inne, blickte mich um. Ich stand auf einer Lichtung die Sonne fiel mir einer wärmenden Woge gleich um die Schultern während ein sanfter Wind mein unruhiges Gemüt kühlte. Eine innere Ruhe ergriff mich. Mit Sinn für Sinn schweifte ich über die Lichtung, ganz in meiner entspannten Haltung harrend. Ich roch den Duft der Blumen, fühlte das Moos an meinen Füßen, schmeckte den kürzlich gefallenen Regen, hörte die Lieder der Vögel und sah die Tiere des Waldes. Eichhörnchen, Hasen und sogar einige Wölfe. Ich erlebte die Dämmerung, die Nacht und den Morgen. Verharrte im tiefsten Gefühl des Lebens für Stunden, Tage, Wochen auf dieser Lichtung und genoss dieses Spiel um mich herum, einem Musikstück gleich welches aus dem tiefsten Inneren der Welt heraus komponiert worden war.
Da hörte ich einen Schrei. Es war kein Hilferuf, keine Verzweiflung. Es war ein Befehl, im Takt des Kommandierens, ein Misston in diesem Orchester der Natur. Weitere Schreie, eine Kakophonie, welche meine Ohren zu zerfetzen suchte. Das Leben um mich herum wirkte mit einem Schlag wie erdrückt. Und bedroht.

Ich spürte wie mein Herz schneller wurde, das Blut rasender und Zorn in mir aufkeimte. Hastig lief ich los, dem Lärm entgegen, den Bogen bereits in der Hand, die Sehne eingehängt. Dann entdeckte ich den Hort der Unruhe, das Verbrechen gegen die tiefe Einheit der Natur. Und noch etwas: ich war zum ersten Mal am Rand des Broceliande. Hier endete die Herrschaft meines Volkes und begann die Regentschaft jener, die meine Augen erblickten: Menschen. Ein gutes Dutzend, womöglich noch mehr. Sie hatten einige Bäume ausgewählt und waren mit Äxten gekommen. Hieb um Hieb, im Takt der Befehle eines großen, bärtigen Mannes, dessen kantiges Gesicht mit dem beinah zahnlosen Maul nicht still halten wollte. Drei Männer standen nahe bei mir und ich sah gerade noch, wie einer den letzten Hieb mit der Axt taten und ein Zucken durch den Baum ging. Hastig sprang ich vor und entging so knapp dem herabstürzenden Riesen, dessen gewaltiger Stamm sicherlich bereits Jahrzehnte gesehen hatte.
Da sahen sie mich und riefen etwas. Einer zeigte auf meinen Bogen. Der große, bärtige Mann kam herbei und blaffte mich an. Er überragte mich, doch ich spürte keine Angst. Nur Trauer über den Sturz… und Zorn.
„Verschwindet! Dies ist nicht euer Reich“, erwiderte ich in meiner Sprache und legte zur Bekräftigung die zweite Hand an mein Jagdmesser. Die Begründung für meine Worte nahm ich aus einer Selbstverständlichkeit heraus…die Menschen sahen Selbstgefälligkeit. Einer der Männer brüllte los, als ich den Griff meiner Waffe umschlossen hatte – ich verstand seine Worte nicht und sah ihn verwundert an. Da traf mich plötzlich die hölzerne Keule des Mannes vor mir am Kopf und ich sank zu Boden. Ich hörte lautes Gelächter und wollte aufspringen. Ein neuer Hieb und die Welt wurde einen Moment schwarz. Aber nicht lange, dann blickte ich auf und sah den Mann über mir, die Keule ein weiteres Mal gehoben und erneut etwas in seiner grässlichen Sprache daherreden.

Ein Pfeil surrte heran und durchbohrte seinen Kehlkopf. Die Augen weiteten sich im Moment größter Verblüffung und wanderten unverständlich zwischen die Bäume, aus denen sein Tod gekommen war. Weitere Boten des Untergangs kamen, trafen einen der Menschen ins Auge, einen anderen ins Herz. Die Holzfäller schrien laut durcheinander, ließen alles fallen und rannten los. Weitere Pfeile – Treffer für Treffer. Gebannt blickte ich den Flüchtenden nach, bis auch der letzte mit einem Schaft im Nacken niedersank. Erst als mich dieser Anblick traf, ich erkannte, dass keiner überlebt hatte – da drehte ich mich um. Zwischen den Bäumen standen sie, dutzende von ihnen. Sie hatten sich an dunklen Stellen postiert, wo ein Mensch sie kaum noch würde sehen können. Helles Gelächter erfüllte die Luft, da eilten sie davon. Sie hinterließen kein Geräusch, bis auf einer. Es war ein Elf, der sich neben mir hinkniete und mich mit hochgezogenen Brauen musterte.
„Rimbrûth“, sagte ich nur. „Die Wilde Schar.“
Bedächtig nickte mein Gegenüber.
„Ihr habt sie alle getötet…Warum?“
Er runzelte die Stirn. „Sie haben dich angegriffen. Warum fragst du noch?“
„Der Große, ja…aber die anderen?“
„Halfen nicht. Sie hätten dich gelyncht. Verfalle nicht dem Glauben an eine Welt, in der Menschen uns helfen würden. Ich weiß nicht, welche Geschichten dir erzählt wurden oder woher du kommst. Aber wisse eines: vor Jahrhunderten lebte unser Volk nicht in einem Teil des Waldes. Wir lebten im ganzen Wald, der dieses ganze Land bedeckte. Uns waren keine Grenzen gesetzt, wir waren zahlreich und stark. Die Menschen kamen und wir nahmen ihren Frieden an. Doch sie holzten die Wälder ab, eigneten sich immer mehr und mehr an, bis wir gezwungen waren, uns hierher zurückzuziehen. Ein lächerlicher Teil von dem, was uns zusteht. Unsere Geschichte war voll von jenen, die zu Frieden gemahnt hatte. Und nun? Unser Volk ist klein geworden und schwach. Wir werden das nicht mehr ändern können, doch werden wir nicht jammernd untergehen. Wir werden kämpfend sterben.“

Nun erhob sich der Elf ohne ein weiteres Wort. Er warf einen letzten, abschätzigen Blick auf mich, wie ich im Dreck lag ohne zu reagieren. Dann verschwand auch er zwischen den Bäumen und ließ mich zurück.
Unser Volk ist klein geworden – und schwach.

Am Anfang fiel der Regen sacht und leicht. Gleich einem beständigem Atem, Tropfen für Tropfen für Tropfen. Ruhe kehrte ein, wo sie niedergingen, denn beinahe hypnotisch war ihr majestätischer Fall und das langsame Versickern. Dann wurde der Takt schneller, aus einem sanften Flüstern wurde beständiges Rauschen. Die Masse wogte und es war als würden sich die Gedanken hunderter, ja tausender Bahn brechen in einem Gespräch, das die Welt einhüllte. Beständiger Regen. Schließlich war die Erde gesättigt von all den Tropfen, von ihrem Flüstern und Reden, so staute sich all das Wasser. Bis es sich bahnbrach. Aus einem Hauch ward ein Stoß und aus dem Stoß ein Sturm. Mit gewaltigen Schreien schoss die Flut los. Und der Regen? Er hielt an.

Fortan suchte ich immer wieder die Nähe zum Waldrand oder zu jenen Bereichen, in denen die Intensität der Natur nachließ, wo sie bereits mitten zwischen die Bäume ihre Hütten gesetzt hatten, als wären sie die Herren. Ich beobachtete blinde Holzarbeiten, tumbe Schlägereien, barbarisches Umschwärmen der Geschlechter.
Ihre Sprache wollte ich nicht lernen und schlug dieses Angebot meines Vaters aus. Er fragte mich wieso und ich erwiderte nur: Unser Volk ist klein geworden – und schwach.
Er runzelte die Stirn und er verstand wohl nicht, was ich meinte. Stattdessen ging er zu meinen Vettern und lehrte sie die Worte der Menschen. Jenes abgehackte Krächzen, von dem ich nicht glauben konnte, dass es tatsächlich ein System beinhalte. Ich wandte mich ab, wieder in die Einsamkeit, weg von den anderen. Als ich losging sah ich einen Langbogen, an einen Baum gelehnt. Entschlossen packte ich ihn, legte einen Pfeil darauf und begann die Sehen zu ziehen. Meine Arme begannen wie Espenlaub zu zittern, Schweißperlen liefen mir übers Gesicht und mein Atem wurde schwerer und schwerer. Ich ließ los; das Holz entglitt mir, als die Sehne wuchtvoll zurückschwang, doch der Pfeil prallte kraftlos gegen einen Baumstamm und klapperte zu Boden. Schwäche.

Ein Licht zwischen den Bäumen, gestaltgewordener Mondschein. Ein Tanz zwischen Laub und Blumen, der Wirbel fallender Blätter und eine tiefe Wärme, einem Odem gleich, der in alle Richtungen fortschlägt. Ein Blick, scheu, hinter einem Stamm hervor. Bewunderung, Neugier, Faszination für diesen Moment: als hätte glasklares Wasser das Licht der Gestirne gefangen und sei nun dabei, wieder zu zerfließen, doch zugleich immer wieder neue Form zu finden. Ein Blick, erkennend, zum Stamm. Blätter rascheln, silberhelles Lachen des Mondscheins. Schritte die sich entfernen und Schritte die folgen. Kurze Augenblicke des Sehens, gefolgt von langen Momenten der Trennung. Hastige Herzschläge, die Angst zu Verlieren wechselte sich mit dem seligen Gefühl des Findens. Schließlich eine Lichtung, Mondschein blieb stehen und sah ihr Gegenüber an.
Hast du jemals in Augen geblickt, so bodenlos, dass sie dich hineinziehen? Die Welt rückt hinter einen Schleier und du beginnst zu fallen. Bald ist es das einzige Gefühl, das du kennst und du beginnst es zu lieben. Du kennst nur noch den tiefen, endlosen Sturz – und diese Augen, das Zentrum deiner neuen Welt. Sonne und Mond, ein eigener Kosmos… sag mir, blicktest du schon einmal in solche Augen?

„Thiarâna. Mondschein.“
Ein weiteres Lachen, das mir wie mehr erschien, als alles, was ich jemals vernommen hatte. Eine tiefe Ruhe breitete sich gemeinsam mit einer warmen Woge in meiner Brust aus.
„Du bist mir gefolgt.“
„Ich werde gehen, wenn du das möchtest. Doch würde mir mein Herz bluten, wenn nicht gar versagen. Die Welt würde ihre Farbe verlieren, ein großes Durcheinander von Grau und Schwarz ohne den Schein des Mondes.“
Ein Moment der Stille, in dem mir alles durch den Kopf ging, bis ich vor Panik, der Angst vor einer Zurückweisung, beinahe erstickte. Dann die Befreiung: „Folge mir.“

Ein Wettlauf, beinahe wie ein Tanz. Immer wieder flackerte der Mond auf, doch blieb er stets auf Abstand, nicht greifbar, aber spürbar.
„Verweile hier“, sagte sie schließlich, als wir eine große Lichtung erreicht hatten. Ein großer Stein lag in der Mitte und erinnerte mich an jene Menhire, die einen Druidenkreis umringten. Dieser hier wirkte aber noch unfertig und mittlerweile moosbewachsen.
„Ich werde dich besuchen“, setzte sie noch hinzu und schenkte mir ein Lächeln.

Das Vergehen der Zeit wurde zu einer Nichtigkeit. Mal schien der Mond zweimal kurz hintereinander, doch es konnte auch Wochen und Monate dauern, bis er sich zeigte. Der Wald bot, was ich brauchte, auch wenn er hier… anders war. Dunkler, dichter und bedrohlicher. Am Anfang stand Furcht und Misstrauen, doch mit jedem Tag der verging, passte ich mich an und es begann mir zu gefallen. Die Allgegenwärtigkeit der Gefahr, der zu entwischen zu einem Spiel wurde. Spinnennetzte versperrten die Pfade, die ich suchte und Dunkelwölfe hetzten mich, bis mir der Schweiß in Strömen floss. Doch ich überlebte.
Es waren die Erinnerung an das Lächeln im hellen Gesicht, welches umrahmt von tiefschwarzem Haar eine Schönheit besaß, die mir kaum möglich erschien, und die Erinnerung an dunkle Augen, deren Sog mich fesselte, die mir den Willen gaben, zu bleiben. Jeden Moment hätte ich gehen können. Zurück zu meiner Familie, zurück zu den anderen. Aber wozu? Sie waren schwach, ich noch schwächer, aber an diesem Ort konnte ich nach etwas greifen, das mir höher erschien, als alles, was ich bisher gekannt hatte.

„Was denkst du von den Menschen?“
„Ich habe sie beobachtet…sie sind dumm und barbarisch. Unreif.“
„Sie sind mehr als das: eine Gefahr. Du weißt es.“
„Sie machten uns schwach. Einst herrschten wir – doch diese Zeiten sind verloren. Wir haben den Kampf gegen die Menschen aufgegeben.“
„Bist du so schwach? Siehst du keine Chance gegen ein so minderwertiges Volk?“
„Ich bin nicht das, was ich sein will.“
„Dann werde ich dich führen.“

Sie war Thiarâna, denn sie gab mir keinen anderen Namen zu erkennen und ich brauchte auch keinen. Wer sollte sich anmaßen, dem Mondschein seinen rechtmäßigen Titel zu verweigern? Das Licht meines Lebens, das Helligkeit an diesen sonst so dunklen Ort brachte. Ich spürte, dass hier Böses hauste, doch ich konnte seinen Klauen entgehen. Wunden waren Zeichen der Schwäche und ich wollte nicht mehr schwach sein. Diese Welt hier war kraftvoll, eine Stärke, die ich in mich aufzusaugen begann.
Ich blickte auf meine Hände und sah sie beinah nicht mehr. Waren sie grau?

Ich näherte mich der Lichtung und sah Thiarâna bereits dort stehen. Das war ungewöhnlich, denn stets wartete ich, bis sie sich mir zeigte. Beinahe wollte ich auf die Knie gehen und um Verzeihung bitten, dass sie diesmal warten musste. Doch noch etwas war anders, in der Art, wie stand, wie sie mich heranwinkte. Da erblickte ich es. Ein kleines Menschenkind, bewusstlos auf den Stein gelegt, mit einem Seil festgebunden. Verwundert sah ich zu Thiarâna auf, die mir plötzlich so nah war, wie noch nie. Beinahe berührte ihre Nase die meine und ihre Augen schlugen mich erneut in einen tiefen Bann. Plötzlich spürte ich etwas Kaltes in meiner Hand und sah verwundert herab. Sie hatte mir einen Dolch in die Hand gelegt. Überrascht blickte ich auf, doch sie war an mir vorbeigegangen und begann den unfertigen Menhir und mich zu umkreisen. Es brauchte keine Worte, es war klar, was sie wollte. Ihr Blick war fest auf mich gerichtet, während ich die Waffe in der Hand wog. Dann wanderte mein Blick wieder zu dem Menschenkind. Ein kleiner Junge. Der Nachfahre jener, die den Wald zerstört, mein Volk vertrieben und uns schwach gemacht hatten. Wenn er erwachsen werden würde, was sollte ihn daran hindern, genauso zu werden? Es musste hier und jetzt ein Ende haben, sollte mein Volk noch eine Chance haben, jemals wieder zu dem Glanz zu kommen, den es verloren hatte. Den Glanz und die Stärke, die ihm zustanden. Ich erhob den Dolch und sah wie ein Lächeln über Thiarânas Gesicht huschte.

Doch was sollte den Jungen daran hindern, nicht genauso zu werden? Ein Stoß mit der Klinge, ein schneller Tod, ein beendetes Leben. War es ihm vom Schicksal vorbestimmt, mein Volk zu quälen, bis es nur noch auf allen Vieren kriechen konnte? Ich sah auf ihn herab. Vielleicht…bestand eine Chance. Ein kleines bisschen Hoffnung. Ich sah auf, suchte ihren Blick und las darin Enttäuschung. Sie wusste, was ich sagen würde, doch ich sprach trotzdem: „Nein.“
Es war mir, als würde mir eine Welt entrissen werden, als sich ihre Augen schlossen und sie kaum merklich den Kopf neigte. Ein tiefes und unwiderrufliches Zeichen der Ablehnung nach all den… Jahren.

„Cirangal, du hast genug Zeit verschwendet. Töte dein Spielzeug endlich“, ertönte eine männliche Stimme zu meiner linken. Verdutzt blickte ich mich um, suchte den Sprecher. Ein Elf? Was suchte er hier? Und was meinte er…
Stahl fuhr durch Fleisch und die Welt stand still. Verblüfft sah ich über meine rechte Schulter. Thiarâna… Cirangal stand da, ganz nah bei mir. Und hatte mir einen Dolch von hinten ins Herz gestoßen. Im gleichen Moment, wie der Schmerz kam und ich wusste, dass mein Leben endete, war es aber auch, als würde ein dunkler Schleier fallen und ich konnte endlich wieder klar sehen.

Einen Moment später erklang ein tiefer, mächtiger Gesang, der mir eine Gänsehaut über den Körper jagte während Cirangal erschrocken einen Schritt zurück machte. Sie zeigte einen kurzen Moment lang womöglich mehr Emotion als in all der Zeit, die ich bisher kannte. Ihre Angst konnte ich beinahe selbst spüren, wenngleich mir nach und nach jegliches Gefühl schwand. Sie blickte mich noch ein letztes Mal an, ein seltsam leerer Blick, in dem sich Hass und Abscheu ebenso wenig spiegelte wie Mitleid oder Bedauern. Dann rannte sie davon und ich erblickte noch einen weiteren Schemen, der ihr folgte. Er rief ihr etwas in einer Sprache zu, die ich nicht verstand, die dunkel und grausam klang. Meine Knie knickten weg und ich stürzte gegen den Stein.

Dass ich die Augen wieder öffnete, erschien mir verwunderlich. Der Schmerz hatte nachgelassen, doch ich war noch am Leben. Und vor mir saß mein Vater Maergas. Er wirkte erleichtert, als er meinen suchenden Blick sah.
„Du warst in einem Albtraum gefangen, mein Sohn.“
„Nun bin ich wieder wach.“

Es war kein leichter Weg zurück nach Hause. Der dunkle Teil des Waldes, den ich nun lange Heimat genannt hatte, versuchte alles, um unser Gehen zu verhindern. Doch schließlich schafften wir es. Gemeinsam mit dem Menschenkind Lugan erreichten wir unseren Hain.
Die Reaktionen der anderen schwankten von Freude bis hin zu Zweifel. Manche sagten, ich hätte zu viel Zeit bei einer Schwarzalbe verbracht und mein Geist verdorben. Ich sei eine Gefahr. Alles, was ich sagte oder mein Vater berichtete, half nichts – es wurde Zeit zu gehen, obwohl ich gerade erst wieder angekommen war.

So brach ich wieder mit Lugan auf. Der kleine Junge hatte nicht viel mitbekommen, außer dass ihn eine schöne Frau in den Wald gelockt hatte und er dann von einem anderen „bleichen Elf“, wie er es nannte, gepackt und bewusstlos geschlagen wurde. Er brachte mir auf unserem Weg zu seiner Heimat, seine Sprache bei, sodass ich das erste Mal die Gelegenheit hatte, einen Menschen wirklich kennen zu lernen.

Es dauerte einige Tage, bis wir die kleine Ansammlung Hütten erreicht hatten, die Lugan Zuhause nannte. Die letzten Schritte hieß ich ihn allein zu gehen. Zu groß war meine Angst davor, dass man ihn ebenso verstoßen würde, wie mich. Ob das Sinn machte, konnte ich für mich nicht klären, doch ich beobachtete, wie die Tür aufging und eine Mutter vor Freude aufschreiend ihren kleinen Jungen in die Arme schloss und womöglich nie wieder losließ.
Für mich hingegen wurde es Zeit, aufzubrechen. Ich hatte die Dunkelheit gesehen und wäre fast für immer in einer sternenlosen Nacht gefangen gewesen. Nun kannte ich meinen Feind, diese dunkle Verzerrung des Lebens. Ich werde fortan alles dafür geben, diese zu jagen und zu vernichten.
Ich bin das Kind der Dämmerung. Ilfarin Tinuhên.