„Wirt, gibt es hier in der Stadt
Menschen, die Getränke mit heilender Wirkung verkaufen?“
Der Mann hinter der Bar musterte mich einen Moment lang. Dann antwortete er:
„Ich habe was da. Hilft über so ziemlich alle Schmerzen hinweg.“
„Was würde das kosten?“
„Die Flasche oder ein Glas?“
„Zum Ausprobieren ein Glas.“
Der Wirt nickte, beugte sich unter die Theke, wühlte einige Zeit hörbar
zwischen Flaschen, bis er eine hervorholte, von der er den Staub
herunterpustete. Zäh ergoss sich die Flüssigkeit in das kleine, tönerne Glas.
Er schob es mir herüber und ohne vorher daran zu riechen, stürzte ich das Zeug
direkt herunter. Es fühlte sich dicklich geworden an, ähnelte in seiner
Konsistenz schlechtgewordener Milch. Das Brennen begann erst in der Kehle, zog
sich aber noch einmal am Gaumen hoch – nur um schnell von einer extremen Süße
übertüncht zu werden. Was blieb war ein Nachgeschmack, als hätte ich meinen
Kopf in Pferdescheiße gedrückt. Und ein warmes Gefühl, das sich durch den
Körper zog.
„Schmeckt, als müsste es helfen“, stellte ich fest.
„Ich glaube, was wir suchen, ist eine Art Alchemist. Oder so etwas“, warf Jenn
ein, die mit mir am Tresen stand.
„Achso“, sagte der Wirt. „Geht runter an den Hafen, ans Ende des Kais. Fragt
nach dem Kräutersudler, der dürfte was für euch haben.“
Besagter Alchemist war recht
leicht zu finden: Er hatte einige der wenigen Wohnhütten in dieser Gegend
bezogen, die vor allem von größeren Lagerhäusern der Händler besetzt war. Als
er auf unser Klopfen hin die Tür öffnete, bot sich auch die erste Spekulation,
warum. Der Alchemist wirkte zerzauselt, das Gesicht unter wildem Bartwuchs kaum
zu erkennen.
„Ja, wie kann ich helfen?“, fragte er auf Comentang. Ich drängte mich an ihm
vorbei in die Hütte, Jenn folgte mir. Eine leise Begrüßung grummelte ich dabei
in meinen sorgsam geflochtenen Bart.
„Wir suchen nach Heiltränken“, erklärte Jenn dem Mann, der auch ein einsamer
Druide sein könnte.
„Oh! Das ist eine … was macht Ihr da?“, begann er und unterbrach sich gleich.
Ich stapfte durch seine Wohnung, die mit Kisten zugestellt war und von deren
Decke beinah hundert verschiedene Kräuter herunterhingen. Neben einer
Kochstelle gab es noch einen Tisch voller Gerätschaften, wie sie auch Wydor
oder Boged besessen hatten.
„Sieht ja nicht schlecht aus“, meinte ich dann. „Könnt Ihr denn Heiltränke
brauen?“
„Ähm, ja … sicher“, sagte der Alchemist und kratzte sich am haarigen Hals.
„Wie, wie, wie …“
„Wie viele könnt ihr denn brauen.“
„Also, wenn ich denke, dass vielleicht … also, ich schaffe, mit dem was ich
hier habe – Drei. Ja, drei sollte ich schaffen.“
„Wie viel kostet uns das?“, fragte Jenn.
„Nun, also, man sagt so“, der Alchemist unterbrach sich und blickte zu mir, wie
ich vor einer gläsernen Apparatur stehenblieb und prüfend mit dem Glas dagegen
schnickte. Vielleicht war es ja nur eine oberflächliche Fälschung. Um
Unbedarften teure Trünke zu verkaufen. Ich warf dem Alchemisten einen scharfen
Blick zu.
Er schluckte. „Ich würde sagen, wir machen für drei einen, ähm, ja,
Freundschaftspreis. Fünfhundert Goldstücke.“
Jenn legte den Kopf schräg, wägte etwas ab. Ich sah sie fragend an, dann nickte
sie. „Einverstanden. Wie lange braucht Ihr für die Tränke?“
„Einen Tag. Morgen Abend könnt ihr sie abholen.“
„Dann hoffe ich mal, dass Ihr uns keinen Mist andreht“, sagte ich zum Abschied
und der Alchemist wurde blass.
Auf dem Weg zurück zum Gasthaus
hielten wir noch bei einem Lederhändler, den Jenn nach einer Rüstung für Utz
fragte. Der Mann war zunächst etwas verdutzt, nahm aber Maß, nannte einen Preis
und eine Arbeitszeit von drei Tagen. „Eine Hunderüstung macht man auch nicht
alle Tage. Ich bin sehr gespannt, wie es wird.“
„Ich freue mich auf das Ergebnis“, verabschiedete sich Jenn freundlich und wir
kehrten wieder in den schnarchenden Hering ein. Dario und Zedd waren dort, wo
wir sie verlassen hatten: bei einer Tasse. Ein etwaiges Gebet hatte ihren
Tagesablauf sicherlich aufgelockert. Jenn und ich bestellten Bier, Utz bekam etwas
Wasser und wir tauschten uns mit den anderen aus. Der Preis für die Heiltränke
schien nicht schlecht zu sein, wie Zedd feststellte. Vorausgesetzt, sie
hielten, was uns versprochen wurde.
Dann kamen Suena und Mara durch
die Tür. Hektisch sahen sie sich im Raum um, blickten auch in die Ecken, kamen
erst dann zu uns. Suena hatte ein paar leichtere Schrammen, als wäre sie
gestürzt und auch Mara schien, als hätte sie sich anstrengen müssen. Ein paar
ihrer Haare standen ab und hingen ihr im Gesicht.
„Wir haben ein Problem“, begann Suena. „Ich hatte meine dunkle Kapuze tief ins
Gesicht zogen, als ich mit Mara auf dem Weg zum Marktplatz war. Wir blieben an
einem Stand stehen, der einige Stoffe im Angebot hatte. Mara fragte den Händler
gerade, ob er uns daraus etwas schneidern könnte oder einen guten Schneider
kenne – da hörten wir einen lauten Ruf von der Seite. Ich blickte hoch und sah
einige Stadtwachen. Sie zeigten in unsere Richtung, einer von ihnen hielt einen
Pergamentfetzen in der Hand. Vage war darauf eine Person zu erkennen. Mara und
ich stürmten sofort los, die Männer spurteten uns hinterher. Schnell versuchten
wir, vom belebten Markt herunterzukommen und in die Seitengassen. Die Straßen
waren voll, alle wollten etwas kaufen oder verkaufen, Eselskarren verstopften
noch zusätzlich die Wege. Die Stadtwachen brüllten hinter uns irgendetwas auf
Erainnisch, dann auf Comentag: „Halt! Ergebt euch!“
Wir rannten weiter. Ich schob mich zwischen den Menschen hindurch, verlor einen
Moment Mara aus den Augen … dann war sie weg. Kurz sah ich nach hinten. Sie war
von einem wütend keifenden Händler aufgehalten worden, der auf am Boden
verstreute Ware zeigte. Die Wachen waren schon auf dem Weg zu ihr. Aber sie
würde sich sicher rausreden können, sie war nicht gesucht. Ich drückte mich in
eine Seitengasse. An einer Hauswand hing eine Leiter. Sofort kletterte ich nach
oben aufs Dach. Unter mir hörte ich Rufe. Die Wachen hatten gesehen, wo ich hin
war.
Über das Dach rannte ich weiter, balancierte mich auf den nassen Schindeln aus.
Einige Häuser standen so dicht, dass ich ohne Sprünge über sie hinweglaufen
konnte. Hinter mir hörte ich einen Schrei. Als ich mich umsah, sah ich nur
noch, wie einer der Stadtwächter über die Kante des Dachs nach unten rutschte.
Das Haus war nicht hoch, er würde es überleben.
Ich lief weiter, so schnell es das nasse Dach zuließ – und so weit es führte. Eine
Gasse unterbrach den Weg, den ich genommen hatte. Sie war nicht zu breit, um
über sie hinwegzuspringen. Doch das gegenüberliegende Haus hatte ein Stockwerk
mehr. Ich blickte durch ein offenstehendes Fenster in eine kleine Küche. Die
Wachen hinter mir kamen näher. Ich lief einige Schritt zurück, nahm Anlauf,
sprang ab. Spürte noch, wie ich auf den nassen Schindeln wegrutschte. Meine
Beine schlugen gegen die Hauswand, aber es gelang mir, mich noch in das Fenster
hinein zu katapultieren. Ich landete auf einigen umherstehenden Töpfen, hörte
einen Moment lang nur lautes Scheppern, dann einen Schlag gegen die Hauswand.
Der nächste Verfolger war aus dem Spiel. Ich rappelte mich auf, sah eine
erschrockene Frau am Herd stehen, murmelte Entschuldigung auf Comentang und
lief weiter. Rasch rannte ich die Treppe runter, auf die Gasse. Und sah an
ihrem Ende gleich die nächste Gruppe Stadtwachen stehen. Über mir hörte ich
Rufe, lief in die andere Richtung. Da wurde ich am Arm gepackt und in einen
Hauseingang hineingezogen.
Ein Mann mittleren Alters zog
mich einen kleinen Krämerladen voller Töpferwaren und warf die Tür hinter mir
zu. „Ein Glück, dass ich dich gesehen habe! Hier sollten sie dich nicht finden.
Erstmal nicht“, sagte er.
„Wer seid Ihr?“
„Erkennst du mich nicht? Ich bin es, Morathi!“
„Ich kenne keinen Morathi“, sagte ich ihm, was ihn offensichtlich schwer
erschütterte. Er wich einen Schritt von mir zurück, musterte mich noch einmal
und fragte: „Ist dir etwas geschehen? Du bist es doch, Suena? Hast du einen
Kopftreffer abbekommen?“
„Woher kennt Ihr meinen Namen?“
Morathi schüttelte den Kopf. „Wie kann das sein … wir waren jahrelang gemeinsam
in dieser Stadt aktiv! Du bist eine von uns. Von den Schwarzen Schatten.“
„Den was? Erklärt Euch. Jetzt.“
„Bis vor einem Mond warst du Teil unserer Gruppe. Dann gab es eine Razzia.
Dieser verdammte Dorchan, er hat zu viel gewollt.“
„Wer ist Dorchan? Was haben wir … was habt ihr in der Stadt gemacht?“
„Wir haben uns gegen den Fürsten eingesetzt! Weil es nicht rechtens ist, dass
Menschen von Nicht-Menschen beherrscht werden. Aber Dorchan hat es übertrieben.
Hat eine Weise Frau getötet.“
Ich habe den Kopf geschüttelt. Was Morathi erzählte, klang verrückt. Und
gefährlich.
„Ich glaube kaum, dass ich mit Leuten zu tun hatte, die eine Heilerin
angreifen.“
„Das war ein Fehler! Und Dorchan wurde dafür bestraft. Er sitzt zusammen mit
den anderen jetzt im Gefängnis.“
Ich habe einen Moment lang durchgeatmet und es dann noch einmal mit Vernunft
versucht: „Mein Name ist Suena, soweit habt Ihr Recht. Doch der Rest kann nicht
stimmen. Vor einem Mond war ich noch in Ealalinn. Und davor mit meinen Freunden
noch weiter im Norden. Ich bin zum ersten Mal in Cuanscadan.“
„Und die Steckbriefe? Wie erklärst du sie dir dann? Der Fürst hat ein Kopfgeld
auf dich ausgesetzt. Du bist die beste von uns. Unsere Anführerin.“
Es wurde immer verrückter. „Wann soll das alles passiert sein? Ich bin
einundzwanzig Jahre alt. Wie soll ich mir da eine Führungsposition in einer
Rebellengruppe erarbeitet haben?“
„Einundzwanzig? Du siehst zwar jung aus … aber du müsstest einunddreißig sein.
Du bist schon seit zehn Jahren bei uns!“
Ich wurde hellhörig. „Welches Jahr haben wir?“
„2433 nach der Landung“, sagte Morathi sofort. Ich stockte. Es war 2323 ndL. Da
war ich sicher. Eigentlich.
„Verzeiht, aber das muss alles ein großes Missverständnis sein“, versuchte ich
es erneut zu erklären und musterte meinerseits den Schädel Morathis. Von einer
größeren Kopfwunde war dort keine Spur zu sehen. Unauffällig blickte ich aus
dem Fenster, ob dort noch Wachen waren. Ich musste hier weg. Wachen sah ich
keine. Dafür jedoch Mara, die gerade in die Gasse bog. Rasch drückte ich die
Tür auf und winkte ihr zu, nur um gleich wieder im Zimmer zu verschwinden.
Vielleicht hatte sie ja eine Erklärung.
Mara hatte mich gesehen und kam kurz darauf durch die Tür. Morathi wich
angesichts der hochgewachsenen Elfe zurück. „Und ihr seid …?“
„Skeptisch“, sagte Mara. „Was geht hier vor sich?“
„Das ist Morathi. Er ist überzeugt, dass ich seit zehn Jahren Teil der
Schwarzen Schatten sei. Einer Gruppe in Cuanscadan, die den Fürsten stürzen
will, weil in seinen Adern Coraniaid-Blut fließt. Ich soll sogar die Anführerin
sein. Und es soll das Jahr 2433 sein.“
Mara zog nur die Brauen hoch und musterte Morathi. „Interessante Geschichte“,
sagte sie dann. „Ich denke, wir gehen jetzt am besten schnell auf den Markt, besorgen
dir neue Kleidung und vergessen das hier.“
„Aber sie wird gesucht! Das ist gefährlich!“, wandte Morathi ein. „Ihr solltet
mit mir die Stadt verlassen. Ich habe einen Freund verständigt und wir können
mit seinem Schiff übermorgen ablegen. Dann können wir uns nach Mokattam
absetzen. Gar nicht so weit entfernt von deiner Heimat, von Moro.“
Er wusste also, wo ich herkam. Ursprünglich, noch bevor man mich versklavt
hatte. Ich fragte ihn noch ein paar Dinge, ob er von meinem Leben wusste. Und
er schilderte mir, dass er mich als entlaufene Sklavin kennengelernt hatte. Als
Zauberin. Er wusste vieles über mich. Zu viel, als dass es gut geraten war.
„Wir sollten jetzt wirklich gehen“, beharrte Mara.
„Dann geht. Beratet euch. Aber bitte, seid vorsichtig! Und wenn ihr eure
Meinung ändert: Ich bin bis übermorgen hier und warte“, sagte Morathi zum
Abschied. Mara und ich gingen los, direkt zum schnarchenden Hering. Es ist
gerade zu gefährlich auf den Straßen.“
Suena blickte in ungläubige
Gesichter.
„Wir sollen welches Jahr haben?“, fragte Jenn.
„Sicher, dass da keine Kopfverletzung war?“, warf Zedd ein. „Manche
Verletzungen können zu durchaus komplexen Zuständen führen …“
„Wie soll das überhaupt gehen? Du warst doch offensichtlich nicht zehn Jahre
bei ihnen“, wiederholte Mara ihre Skepsis.
„Ich weiß es auch nicht“, sagte Suena. „Aber das war schon sehr seltsam.“
„Ich frage den Wirt“, bekundete ich und trottete hinüber zu dem Mann, der schon
nach seinem „Heiltrunk“ griff. Ich hob abwehrend die Hände und fragte: „Welches
Jahr haben wir?“
„Was?“
„Welches Jahr.“
„Das Jahr willst du wissen? Warum das denn?“
„Sag mir doch einfach das Jahr.“
„Nach der Landung?“
„Natürlich nach der Landung!“
„2433“, sagte der Wirt kopfschüttelnd. Ich blinzelte einige Male, dann ging ich
zurück zu unserem Tisch. „Wir haben ein Problem. Ich glaube, der Wirt ist auch
verrückt.“
„Wir sollten zu Lord Byron gehen“, schlug Suena vor. „Ihm können wir vertrauen
und er kann uns sicher einige Fragen beantworten, die Morathis Geschichte
bestätigen oder widerlegen. Zum Beispiel, was die Weise Frau anbelangt. Oder
meine Steckbriefe.“
„Und die Gefangenen. Hatte er dir ihre Namen genannt?“, fragte Mara.
„Neben Dorchan waren das noch Krickl und Meodag. Sie sollten im Gefängnis
sitzen, wenn Morathis Geschichte stimmt. Vielleicht können wir sogar mit ihnen
sprechen.“
„Du solltest aber hier bleiben“, wandte ich mich an Suena. „Hier bist du
erstmal sicher, und wir können ja nicht alle Wachen der Stadt niederschlagen,
wenn sie wieder Jagd auf dich machen.“
Mara machte eine abwägende Miene, schwieg aber dazu. Suena seufzte und nickte.
„Das stimmt wohl. Ich verstecke mich zunächst hier, bis wir wissen, woran wir
sind.“
„Und wir bleiben hier, falls es hier Probleme geben sollte“, sagte Zedd und
Dario stimmte mit ein.
Jenn, Mara und ich gingen durch
die Oberstadt zu dem Anwesen, in dem Lord Byron zurzeit untergebracht war. Der
Diener erkannte uns natürlich wieder, auch wenn es ihm lieber schien, es wäre
in meinem Falle anders. Mit einem umso breiteren Grinsen – das von der
Drachenkralle, die auf meiner Brust hing, noch unterstrichen wurde – ging ich
an ihm vorbei.
Man hatte dem Adeligen bereits ein kleines Büro zugewiesen. Scheinbar hatte er
sich, kaum wieder frei, sofort in die Angelegenheiten stürzen müssen, die
während seiner „Abwesenheit“ liegengeblieben waren. Er blickte von dutzenden
Pergamenten auf, als wir eintraten.
„Seid gegrüßt.“
„Seid gegrüßt, Lord Byron“, erwiderte Jenn. „Wir kommen, da wir einige Fragen
haben. Vielleicht seltsame Fragen. Möglicherweise sogar prekäre Fragen.“
„Das habe ich mir schon fast gedacht“, antwortete er. „Um was geht es genau?“
„Zunächst eine etwas banalere Frage … Welches Jahr haben wir?“
Seine Augenbrauen hoben sich und sollten für den Rest des Gesprächs auch nicht
mehr sinken. „2433 nach der Landung Gilgalars an den Ufern Valians.“
Jenn seufzte. „Das wird jetzt seltsam für Euch klingen. Aber wir, also wir
glauben, ähm, wissen, dass es das Jahr 2423 ist.“
„Erklärt das.“
„Ich bin 2401 geboren, ich bin zweiundzwanzig. Das Jahr ist 2423“, sagte ich.
„Uns allen geht es so“, nahm Jenn den Faden auf. „Mara, Suena, Zedd, Dario, Gor
und mir. Wahrscheinlich sogar Utz, aber er kann nicht sprechen. Wir lebten ganz
normal, bis wir heute erfuhren, dass es das Jahr 2433 sein soll. Das macht für
uns keinen Sinn, aber es ist so. Könnt ihr Euch vorstellen, was für unseren … Zeitsprung gesorgt haben könnte?“
„Das klingt zunächst sehr seltsam“, begann Lord Byron. „Natürlich will ich
nicht an eurer Geschichte zweifeln, aber ihr müsst verstehen, dass sie sehr
unwahrscheinlich ist. Und ich bin leider nicht derjenige, der euch in dieser
Sache helfen könnte. Dafür bräuchte es schon Magier.“
„Gibt es eine Magiergilde in Cuanscadan?“
Lord Byron schüttelte den Kopf.
Jenn überlegte kurz, dann ging sie zum nächsten Punkt über: „Dann kommen wir zu
Dingen, bei denen Ihr uns womöglich helfen könnt. Die Sache mit den
Steckbriefen von Suena.“
„Eine diffizile Angelegenheit. Ihr wisst, warum sie gesucht wird?“
„Ehrlich gesagt, sind wir uns da unsicher.“
„Sie ist Teil einer Verschwörung, die sich vorgenommen hat, den Fürsten zu
stürzen. Vor einem Mond sind sie durchgedreht und haben eine Weise Frau getötet
– hier, in Cuanscadan! Unser Fürst hat durchgegriffen und alle festnehmen
lassen. Zurzeit ist sie flüchtig und muss belangt werden. Mein Einfluss reicht
nicht soweit, dass ich sie davor schützen könnte.“
„Aber da müsst Ihr doch merken, dass etwas nicht stimmen kann! Suena war vor
einem Mond weit entfernt von Cuanscadan. Überhaupt war sie noch nie hier!“
„Es … muss eine Erklärung geben. Man sagt ihr magische Fähigkeiten nach. Aber
auch ich will nicht glauben, dass sie diejenige ist, die wir suchen. Vielleicht
ist es auch eine gefährliche Verwechslung.“
„Oder etwas anderes“, sagte Jenn und ächzte. Diese Zeitverschiebung machte
unseren Köpfen ordentlich zu schaffen. „Könnten
wir mit den Gefangenen sprechen? Vielleicht haben sie Informationen über diese
seltsamen Ereignisse.“
„Das ist nicht möglich. Sie wurden unter der Burg weggesperrt und sollen dort
bleiben, bis ihnen der Prozess gemacht wird. Auf Hochverrat steht der Tod.“
„Und was sollten wir nun Eurer Meinung nach tun?“
„Am besten verlasst ihr die Stadt. Mit der Zeit lösen sich diese Wechselspiele
vielleicht auf und die wahren Übeltäter werden gefasst.“
„Wenn es nur Verwechslungen wären“, sagte Mara leise.
„Vielen Dank für Euren Rat“, verabschiedete sich Jenn von Lord Byron. Mara und
ich nickten ihm nur knapp zu, dann verließen wir das Haus. Es schien, als würde
Morathis Geschichte stimmen – in seiner Welt, oder so ähnlich.
Wir gingen zurück zum
schnarchenden Hering, wo wir den anderen das Ergebnis des Gesprächs mitteilten.
Es war wenig, bestätigte aber einige der Aussagen von Suenas Mitverschwörer.
Irgendetwas war richtig schief gelaufen.
„Wir brauchen dringend ein paar Antworten“, stellte Suena fest. Sie überlegte
etwas, dann sagte sie: „Ich will zum Hafen. Vielleicht kann ich im Wasser meine
Mentorin erreichen.“
„Das ist ein ganz schönes Risiko“, meinte ich.
„Aber wenn wir alle gemeinsam gehen, werden wir dich schon decken können“,
sagte Mara. „Es wird dunkler, menschliche Augen erkennen nicht mehr viel und du
gehst einfach in der Mitte unseres Pulks. Die Antworten könnten es wert sein.“
„Sollten“, brummte ich.
Die Wissbegierigkeit überwog und
so machten wir uns wenig später auf den Weg zum Hafen. Es war bereits dunkel,
der Weg zum Hafen aber noch ausgeleuchtet. Erainnische Hafenarbeiter mischten
sich mit fremdländischen Matrosen und suchten ihre Spelunke oder bereits einen
Ort zum Schlafen. Je näher wir dem Hafen kamen, umso mehr dünnte sich die Menge
aus. Umso mehr Aufmerksamkeit erregte eine Gruppe wie die unsere –
Aufmerksamkeit einer Stadtwache.
„Was treibt euch zu dieser Stunde zum Hafen?“
„Wir wollen zu unserem Boot. Zu dieser Zeit weiß man ja nie, wer sich da
vielleicht zu schaffen machen möchte“, sagte Mara ohne zu zögern.
„Haltet die Augen offen. Wir tun unser Bestes, aber im Hafen treibt sich immer
noch der ein oder andere Dieb herum“, antwortete der Wächter und ging weiter.
Mara erntete anerkennendes Nicken und wir gingen weiter, bis wir einen Pier am
Hafenende erreichten. Suena ging ihn entlang und begann in das Wasser der
Delphinbucht zu starren. Es kam keiner, der sich über uns wunderte, und sie
kehrte nach einer Weile zu uns zurück. Zunächst traten wir den Rückweg vom
Hafen an. Erst an einem Tisch in der Ecke des schnarchenden Herings erzählte
Suena, was sie erfahren hatte.
„Die Linien der Welt scheinen auseinandergedriftet zu sein. Eine große magische
Verwerfung ist geschehen. Es lässt sich nicht sicher sagen, ob das mit unserem
Problem direkt zusammenhängt. Aber es ist wahrscheinlich.“
„Was soll das heißen? Linien der Welt?“, fragte ich.
„Irgendetwas ist richtig schief gelaufen“, erklärte Suena. Ich brummte.
„Das hilft uns jetzt nicht so richtig weiter“, stellte Mara fest. „Konntest du
noch etwas erfahren?“
„Zentrum dieser Anomalie ist Chryseia. Doch sie riet uns, nicht direkt dorthin
zu fahren. Zunächst sollten wir aber schlicht Cuanscadan verlassen, um Abstand
zwischen uns und diese Situation hier zu bringen. Bis wir mehr wissen, was sich
dort in Chryseia zuträgt.“
„Also nehmen wir Morathis Schiff. Auf nach Eschar“, sagte Jenn.
„Dort gibt es Sand. Unendlich viel Sand“, erwiderte Mara.
„Klingt interessant“, kommentierte ich.
„Du wirst überall Sand haben. Und es ist heiß. Richtig heiß. Das ist keine
schöne Gegend.“
„Eine Erfahrung mehr“, konstatierte ich. „Vielleicht halten wir auch noch in
den Küstenstaaten. Ich habe gehört, dort soll es allerlei interessante
Entwicklungen geben.“
„Wenn Suena nicht dort auch noch gesucht wird“, überlegte Zedd.
„Nun, mittlerweile sind zehn Jahre vergangen. Das wäre schon etwas
ungewöhnlich“, überlegte Suena, was vielleicht eine gute Seite dieser Medaille
war.
„Auf nach Eschar!“, bekräftige Jenn und wir stimmten mit ein. Auch wenn Mara
ihre Unzufriedenheit nicht unterdrückte.
Am nächsten Morgen gingen wir
gemeinsam zu Morathis Tonwarenladen. Er befand sich, wie von Suena beschrieben,
in einer schmalen Seitengasse. Die Tür war unverschlossen. Der schmale, eher
unscheinbare Erainner stand hinter dem Tresen und schreckte kurz auf, als wir
eintraten. Sein Blick zuckte unruhig über uns hinweg, bis er Suena fand und
sich etwas beruhigte.
„Wer sind diese Leute, Suena?“
„Meine Begleiter. Meine eigentliche Gruppe.“
„Sie hat sicher von uns erzählt. In eurer Welt irgendwann“, erklärte ich.
„Immerhin haben wir gemeinsam einen Drachen getötet.“
Morathi zuckte mit den Schultern. „Sie sprach nie viel über ihre Vergangenheit
auf Reisen.“
„In zehn Jahren kein Wort über uns? Suena!“, wandte ich mich empört um.
Abwehrend hob sie die Hände. „Das war nicht ich!“
„Aber er kennt dich seit zehn Jahren, sagt er. Und du hast uns nicht einmal
erwähnt!“
„Das ist doch vielleicht nur eine mögliche Zukunft. Wahrscheinlich kannte ich
euch in Morathis Welt gar nicht.“
„Eine mögliche Zukunft? Wir sind doch
hier“, erwiderte ich verdutzt.
„Das … ach, egal“, meinte sie und drückte sich an mir vorbei. „Morathi, wir
wollen dein Angebot annehmen. Auf dem Schiff raus aus Cuanscadan.“
„Ich sehe, du kommst zur Vernunft“, erwiderte er erleichtert. „Kommen deine
Erinnerungen auch wieder?“
Sie seufzte. „Nein … wie auch immer. Wir wollen hier erst einmal nur weg.“
„Einverstanden. Morgen früh legen wir ab. Kommt dann zur Südseeperle. Und
stellt euch auf eine lange Reise ein. Nach Mokattam dauert es fast einen ganzen
Mond. Einen Zwischenhalt würde ich gerne so lange wie möglich aufschieben.“
„Wird für Verpflegung gesorgt sein?“
„Wenn ich weiß, wie viele ihr seid …“
„Wir sechs sowie ein Hund. Und wir hätten vier Pferde, chryseiische Kaltblüter,
die wir ebenfalls gerne mitnehmen würden.“
„Pferde?! Auf eine so lange Seereise?“
„Es sind wunderschöne Tiere!“, beharrte Suena. „Wir haben sie als Dankgeschenk
erhalten.“
Morathi fuhr sich durch die Haare und rieb sich die Ohren. „Das ist
kompliziert. Aber ich denke, wir könnten organisieren, dass sie uns
nachgeschifft werden. Auf der Seeperle ist kein Platz für sie, aber auf einem
anderen Kahn schon. Wenn alles glatt geht, sollten sie dann einige Tage nach
uns dort ankommen.“
„Das hoffe ich doch“, sagte Suena.
„Warum eigentlich Mokattam?“, fragte Mara nun nach.
„Ich habe einen Freund dort unten. Ein Händler, der uns sicher unterbringen
kann, bis wir überlegen, wie wir weiter vorgehen.“
„Und was ist mit euren Kameraden? Den drei Gefangenen?“, fragte Jenn.
Morathi schüttelte zunächst nur den Kopf. Dann erklärte er: „Sie werden strengstens
bewacht, in einem Gefängnis mitten in der Burg. Der einzige Weg, der nicht mit
Wächtern gepflastert ist, würde durch die ältesten Kanalisationstunnel der
Stadt führen. Und wenn ihr nicht gerade zehn Minuten durchgehend tauchen könnt,
ist das nicht zu machen.“
Jenn sah kurz zu Suena, doch auch sie schüttelte den Kopf. Dafür schien sie
keinen passenden Zauber parat zu haben. Oder wollte ihr Leben nicht für ein
paar Fanatiker riskieren. Was ich ebenso verstehen würde.
Wir verbrachten den restlichen Tag damit, unsere verbleibenden Angelegenheiten zu klären. Suena verschanzte sich im schnarchenden Fisch, Mara, Zedd und Dario planten die Verschiffung der vier Kaltblüter. Jenn und ich verkauften unsere weniger atemberaubenden Pferde. Anschließend teilte sie dem Ledermeister mit, dass sie die Rüstung für Utz leider nicht mehr entgegen nehmen könne und daher den Auftrag zurückziehen müsse. Am Abend gingen wir dann zu dem Alchemisten und holten unsere Heiltränke. Sie sahen nicht viel anders aus, als diejenigen, die ich bisher gesehen und getrunken hatte. Also hoffte ich, dass das ausreichte. „Ansonsten werden wir dich hier finden“, teilte ich dem ohnehin geduckt umherlaufenden Mann mit. Eifrig nickte er.
Die Nacht schlug gerade erst in
graues Zwielicht um, da legte die Seeperle bereits ab. Morathi stand mit uns an
Heck und gemeinsam blickten wir auf Cuanscadan zurück. Der Gestank nach Fisch
ließ allmählich nach und wir verzogen uns zum Bug, blickten hinaus auf die
Bucht der Delfine, in Richtung Süden. Bald begann es zu regnen und eine steife
Brise blies über Deck. Zum Abschied gab Vesternesse uns noch beste Grüße mit.
Die nächsten Tage vergingen bei rauem Wetter träge und zäh. Zunächst hatten wir
noch die bewaldete Küstenlinie Süderainns im Blick. Dann ließen wir das Land
hinter uns.
Es war ein seltsames Gefühl, als
ich am dritten Tag der Reise erwachte und zum ersten Mal in meinem Leben keinen
Streifen Erde sehen konnte. Doch kein Land hieß nicht, dass es hier keine
Menschen gab. Morathi teilte uns mit – kurz nachdem er anmerkte, dass der
eigentliche (und selbstverständlich nicht anwesende) Schiffsbesitzer nicht
unbedingt wisse, wohin sein Schiff gerade steuerte – dass die Regenbogensee für
ihre Piraten berüchtigt war. Angesichts der Handelswege in die Küstenstaaten
sei das auch nicht gerade überraschend.
Die Ruhe an Bord gab meinen Rippen endlich die nötige Zeit, vollständig
zusammen zu wachsen. Und nach fünf Tagen Seereise war ich zum ersten Mal seit
mehr als einer Trideade schmerzfrei. Erleichtert teilte ich Zedd meine Genesung
mit, als er wie jeden Tag sehen wollte, dass alles in Ordnung war. Da hörten
wir ein lautes Krachen vom Bug her. Die Matrosen an Deck begannen sofort
durcheinander zu rufen. Die Seeperle verlor an Fahrt. Ein weiteres Krachen.
„Jenn, was rufen die Leute?“, riefen wir ihr auf Vallinga zu.
„Die Matrosen sagen, wir müssen irgendwas gerammt haben!“, übersetzte sie das
Erainnische. Wir folgten dem Pulk zum Bug, sahen ins Wasser.
Und erblickten dutzende riesiger
Fische. Sie waren größer als Pferde und von pechschwarzer Färbung. Einige weiße
Flecken, vielleicht riesige Augen, blitzten an ihren Köpfen auf – Köpfe, die
sie immer wieder und wieder gegen den Bug des Schiffes stießen. Der Kapitän
brüllte etwas und sofort liefen einige Matrosen unter Deck. Aus dem Meer vor
uns stachen immer wieder die Finnen der Fische wie Schwerter durch das Wasser.
„Was sind das denn für Biester?“, brüllte ich Zedd zu.
„Schwertwale. Wenn die so weiter machen, können die durchaus das Schiff
zerlegen.“
Suena stellte sich an den Bug und begann einige Worte zu murmeln. Kurz darauf
ließen zwei der Schwertwale ab – nur um in den Mahlstrom ihrer weiterhin
aggressiven Artgenossen gerissen zu werden. Ein Blutteppich machte sich breit.
Suena sah entsetzt auf das Schauspiel.
Ich versuchte noch, mit einem Pfeilschuss Wirkung zu erzielen, doch das blieb
wie alle unsere Bemühungen fruchtlos. Stattdessen kamen die Matrosen wieder an
Deck und begannen unsere Lebensmittelvorräte ins Wasser zu werfen.
„Die Tiere müssen hungrig sein“, erklärte der Kapitän. „Sonst würden sie nicht
ein so großes und unergiebiges Ziel wie die Seeperle angreifen.“
„Reicht das dann noch für uns, um bis Mokattam zu kommen?“, fragte Mara.
„Nein, jetzt nicht mehr. Wir werden einen Zwischenhalt in Tura einlegen müssen.“
„Nein“, sagte Mara.
„Was?“
„Wir machen keinen Zwischenhalt in Tura. Das Essen können wir doch auch
rationieren.“
Der Kapitän zeigte nur auf das dutzend leere Kisten, das auf Deck verteilt war.
Die Einschläge am Bug hatten aufgehört und die Schwertwale zogen davon .
„Abgesehen vom Essen, sollten wir auch nach dem Bug sehen lassen“, erklärte der
Kapitän.
„Das bietet uns auch eine Möglichkeit“, versuchte Suena Mara zu überzeugen. „In
den Küstenstaaten gibt es den Covendo Mageo. Diese Magiergilde kann endlich die
Artefakte untersuchen, die wir zuletzt gefunden haben.“
„Wir sollten allerdings aufmerksam bleiben“, mahnte Mara.
Zwei Tage waren wir noch auf See,
dann näherten wir uns der Küste. Tevarra. Tura. Die Stadt zog sich weit an der
Küste entlang, in ihrem Hafen lagen chryseiische Schiffe, erainnische,
albische. Und andere, die ich nicht zuordnen konnte. Einige waren von
gewaltiger Größe, besaßen drei Masten und riesige Segel.
„Das ist die turanische Kriegsflotte“, erklärte der Kapitän, der sich den
Anblick mit uns vom Bug aus ansah. Seine Mannschaft erledigte das Einfahren
ohne Probleme. Ich blickte über den Hafen hinweg auf die Stadt Tura – die
größte, die ich in meinem Leben jemals gesehen hatte. Hinter den großen
Scheunen und Hafenkontoren kam die Innenstadt mit schindelbedeckten
mehrstöckigen Häusern. Immer wieder ragten Gebäude aus weißem Marmor aus. Und
über allem thronte ein großer Hügel, übersät mit gewaltigen Tempeln, deren
Säulen bereits jedes Gebäude überragen mussten, das in Serygion – der einzigen,
wirklichen Stadt Fuardains – stand.
„Wie viele Menschen leben hier?“, fragte ich und konnte den Mund kaum
schließen.
„Achtzigtausend“, sagte der Kapitän und schien ein wenig stolz, welchen
Eindruck Tura auf mich machte. „Und sie ist nicht einmal die größte Stadt der
Küstenstaaten.“
Mein Staunen endete nicht, als
wir am Hafen anlegten. Wir sagten Morathi Bescheid, dass wir auf Landgang
gingen – der uns im Gegenzug dringlich darauf hinwies, dass wir am nächsten
Morgen wieder bei der Seeperle auftauchen sollten.
Dann ging es nach Tura hinein. Am Hafen liefen Menschen aus allen Ländern
durcheinander und ich merkte, dass der helle, nordische Hauttyp seltener wurde.
Einige Männer hatten dunklere Haut wie Dario und Zedd, manche waren ganz
schwarz. Und da waren einige, die sogar leicht gelblich wirkten. Bevor ich mit
dem Finger auf sie zeigen und Suena fragen konnte, schlug sie mir schon auf die
Hand. „Das sind KanThai. Und zeig nicht mit dem Finger auf Leute.“
Ich grummelte etwas vor mich hin und wir verließen den Hafen – was sich als
nicht ganz so einfach erweisen sollte. Kaum hatten wir den Kai verlassen,
wurden wir von einigen Hafenwächtern auf ein großes Haus verwiesen, das neben
der Prachtstraße Turas lag. Hier wurde Neu-Vallinga gesprochen, das zwar einige
Vokabeln mit der Handelssprache teilte, aber insgesamt viel komplexer war.
Soviel sagte zumindest Suena, die für uns die Dolmetscherin spielte. Im Haus
selbst gab es dann einen langen Tresen, an dem gleich mehrere Wirte standen,
die man voneinander mit Bretterverschlägen getrennt hatte. Doch hier trank niemand
Alkohol. Und das war auch keine Schenke. Man servierte uns trockene Pergamente.
„Was wollen die?“, fragte ich Suena.
„Wir müssen unsere Artefakte angeben, wenn wir in Tura einreisen wollen. Hier
werden alle magischen Gegenstände kontrolliert.“
„Fortschrittlich!“, staunte ich und blickte verständnislos auf die Pergamente
vor mir. Der Mann am Tresen – den man wohl auch nicht Tresen nannte, sondern
„Schalter“ – sprach glücklicherweise Vallinga. Auch wenn er nicht sehr
begeistert schien, sich mit mir herumschlagen zu dürfen. Ich hatte wie, wie wir
alle, mein komplettes Gepäck mitgenommen. Der Ogerhammer an meinem Rucksack
sprach für sich. Erstaunlicherweise war ich als erster von allen mit meinem
Pergamentkram fertig …
Sobald jeder von uns ein
Pergament in der Hand hatte, das wir nicht verlieren sollten (von dem aber
keiner von uns genau lesen konnte, was darauf stand) machten wir uns auf zur
Magiergilde. Dem Kovento Mago. Kavent. Megoe. Magoe …
„Der Konvent, Gor. Sag einfach Konvent“, meinte Suena, nachdem sie mein
halblautes, nach Korrektur fragendes Murmeln gehört hatte. Ich nickte und
befasste mich mit der Stadt Tura, durch die wir schritten, wobei alle andere
mit Ausnahme von Jenn schienen, als würden sie das jeden Tag machen. Was
angesichts ihrer Abenteuer sogar nicht mal ganz gelogen war. Doch ich sah
fasziniert in über die mit Steinen ausgelegten Wege, die hier selbst in den
kleinsten Gassen befestigt waren. Dicht gedrängt zogen sich die Häuser den
Hügel hoch. Nach oben hin schienen sie fast zusammenzufallen – der Eindruck
verschärfte sich noch durch die Wäscheleinen, die zwischen den Wänden gespannt
waren.
Je weiter wir uns vom Hafen entfernten, desto weitläufiger wurde jedoch auch
Tura. Größere Häuser, einige sogar mit einer Wiese vor der Tür. In manchen
Fenstern glitzerte gar Glas im Sonnenlicht. Und die Straßen … waren sauber.
„Wohin entleeren die Turaner denn ihren Abfall? Und … sich selbst?“, fragte ich
in die Runda. Mara rümpfte nur kommentarlos die Nase, während Zedd erklärte:
„Hier gibt es – wie in jeder zivilisierten
Stadt – Abwasserkanäle. So bleibt der Schmutz da, wo er hingehört: raus aus der
Sonne.“
Ich blickte auf meine Füße, die auf festem Stein standen. Und wohl auch über
Scheiße. Faszinierend.
Die Magiergilde Turas und der
ganzen Küstenstaaten war gut organisiert. Wo ich vor meinem Stamm noch
verheimlicht hätte, dass ich Langbogen und Ring eines Elfen hatte, nahm ein
junger Magier diese Artefakte kurz in Augenschein, nickte bedächtig und teilte
mir mit, was die Untersuchung kosten würde. Die Fuardwyn hätten sie
wahrscheinlich schon aus Verdacht auf dunkle Geister verbrannt. Und mich
vielleicht auch. Hier zahlte ich dreißig Goldstücke für jedes Fundstück und
erfuhr, dass der elfische Langbogen über das Schlüsselwort „Lero“ einen
magischen Pfeil heraufbeschwören könne. Allerdings solle ich das nicht oft
machen. Wahrscheinlich würde diese Fähigkeit nach mehr als drei Benutzungen
„ausbrennen“. Und der Ring, den der zugehörige Elf bei sich getragen hatte: Er
schützte vor Feuer. Kein Wunder, der Bogenschütze wollte ja auch einen Drachen
töten.
Nebenbei erfuhr ich noch, dass der schwarze Stab, den Suena verwahrt hatte, gar
nicht schwarzmagisch war. Stattdessen sei er in der Lage, Gegenstände schweben
zu lassen – wiederum nicht unbegrenzt häufig. Und zuletzt war da der Bihänder,
den Mara der schlangenhäutigen Wächterin abgenommen hatte.
„Embrix ist hier in den Griff eingraviert“, las der Magier vor.
„Seit ich ihn besitze, kann ich mich nur noch mit Mühe und Not durchringen,
eine andere Waffe zur Hand zu nehmen“, erklärte Mara.
„Das wundert mich kaum. Der Griff des Schwertes ist verflucht.“
„Nur der Griff?“
„In der Tat. Das reicht für diesen Effekt aber auch aus. Wir könnten die Waffe
an uns nehmen und sie zerstören. Oder sie für Euch umschmieden lassen. Das
würde allerdings einiges kosten.“
„Behaltet das Schwert. Ich führe Tog-Nuar, den Feuerbringer, seit Jahren und
dabei wird es bleiben.“ Dabei tätschelte sie den Griff ihres Bihänders. Der
Magier legte das verfluchte Schwert unbeeindruckt zur Seite. Bei dem Wort Fluch
hätten uns die meisten Vesternesser wahrscheinlich schon auf den Galgenbaum
verwiesen. Mara musste sich noch einmal überwinden, um die magische Anziehungskraft
der Waffe hinter sich zu lassen. Dann konnten wir die Magiergilde verlassen –
und kehrten zunächst in ein Gasthaus ein. Eine ruhige Nacht in einem Bett würde
nach einer halben Trideade auf See gut tun. Und vielleicht gab es hier ja auch
etwas zu trinken …