„Was soll das heißen, es gibt hier keinen Alkohol?!“
„Es tut mir sehr leid, aber in Tura wurde die Prohibition ausgerufen“, sagte der Wirt. „Es gab Missernten und der Fürst will verhindern, dass wir das wenige, was wir haben, in Alkohol umsetzen.“
„Ist denn kein Rest übrig, den man trinken kann?“, fragte ich entsetzt.
„Nun … seid ihr bereit für einen Spaziergang?“
„Dorthin, wo es Alkohol gibt?“
Der Mann rollte die Augen. „Etwas leiser, wenn’s geht. Geht eine Straße weiter. Dort gibt es ein Gasthaus, dessen Räumlichkeiten in einem Keller liegen. Man sagt sich, dass der Wirt dort noch ein paar Restbestände an Wein hat, die er vernichten muss. Damit sie nicht schlecht werden.“
„Sehr gut“, sagte ich zufrieden.
Jenn
In fremden Gezeiten
„Wirt, gibt es hier in der Stadt
Menschen, die Getränke mit heilender Wirkung verkaufen?“
Der Mann hinter der Bar musterte mich einen Moment lang. Dann antwortete er:
„Ich habe was da. Hilft über so ziemlich alle Schmerzen hinweg.“
„Was würde das kosten?“
„Die Flasche oder ein Glas?“
„Zum Ausprobieren ein Glas.“
Der Wirt nickte, beugte sich unter die Theke, wühlte einige Zeit hörbar
zwischen Flaschen, bis er eine hervorholte, von der er den Staub
herunterpustete. Zäh ergoss sich die Flüssigkeit in das kleine, tönerne Glas.
Er schob es mir herüber und ohne vorher daran zu riechen, stürzte ich das Zeug
direkt herunter. Es fühlte sich dicklich geworden an, ähnelte in seiner
Konsistenz schlechtgewordener Milch. Das Brennen begann erst in der Kehle, zog
sich aber noch einmal am Gaumen hoch – nur um schnell von einer extremen Süße
übertüncht zu werden. Was blieb war ein Nachgeschmack, als hätte ich meinen
Kopf in Pferdescheiße gedrückt. Und ein warmes Gefühl, das sich durch den
Körper zog.
„Schmeckt, als müsste es helfen“, stellte ich fest.
„Ich glaube, was wir suchen, ist eine Art Alchemist. Oder so etwas“, warf Jenn
ein, die mit mir am Tresen stand.
„Achso“, sagte der Wirt. „Geht runter an den Hafen, ans Ende des Kais. Fragt
nach dem Kräutersudler, der dürfte was für euch haben.“
Ein Lager am See
Der Weg wurde schmaler. Immer
dichter standen die Bäume, die Kronen schlossen sich zu einer dichten Decke.
Den ganzen Tag waren wir geritten und mussten nun im Kern des Forsts angekommen
sein, den diese Angreifer noch als mystisch bezeichnet hatten: der
Scharlach-Wald.
Mit Einbruch der Dunkelheit saßen wir von unseren Pferden ab und führten sie
langsam über den holprigen Boden. Ein gebrochenes Bein würde uns nicht
schneller voranbringen. Und wir sahen, dass der Weg nicht mehr lang war: In der
Düsternis vor uns zwischen den Bäumen waren mehrere Lichter auszumachen. Vier
kleine Punkte, wie von Fackeln, wanderten hin und her. Zwischen ihnen zwei
große Feuer, die zu Lagern gehören mussten – es sei denn, jemand wollte einen
Waldbrand riskieren.
Eine unruhige Vergangenheit
Eine angenehme Kühle öffnete mir die Augen. Ich lag noch immer mit dem Rücken auf dem Fels, der Regen hatte etwas nachgelassen. Das Blut in der Senke vor uns stieß noch immer bei jedem aufschlagenden Wassertropfen ein feindseliges Zischen aus. Wydor selbst lag noch immer tot da. Der goldene Drache – besiegt.
Mara hatte ihre Rüstung bereits wieder angelegt, Zedd musste sie schon magisch versorgt haben. Der Schmerz drängte sich wieder in mein Bewusstsein. Taubheit in den Fingern, übersät mit Brandblasen, ein tief wummerndes Pochen im Schädel. Die Hitze des Drachenbluts gewann wieder an Präsenz. Ächzend winkte ich mit der Hand und sofort war der Araner an meiner Seite. Mit heilenden Worten glitt er entlang meiner geschundenen Arme, ließ die Handflächen zuletzt neben meinen Schläfen zur Ruhe kommen. Ich spürte mehrere Minuten lang, wie das Feuer in mir zur Ruhe kam. Schließlich konnte ich mich aus eigener Kraft von dem scharfkantigen Boden aufrichten. Er hinterließ keinerlei Spuren auf meiner Haut.
In der Arena von Frost und Feuer
„Hilfe!“
Der Schrei gellte uns durch die Gitterstäbe entgegen. Dahinter lag eine Höhle,
die grob erweitert worden zu sein schien. Hinter dem ersten Gitter lag eine Art
Flur an den vier kleinere Kammern in den Fels abzweigten, allesamt mit eigenen
Eisenstangen und Türen gesichert. Eine der Türen war aus ihren Angeln
gebrochen, den verbogenen Scharnieren nach zu urteilen von innen.
Unsere Aufmerksamkeit richtete sich jedoch zunächst auf die hinterste Kammer –
abgeteilt durch einen Vorhang.
„Hilfe! Ist da jemand? Bitte, helft mir!“
Hinter dem Wasserfall
Das Fachwerkhaus war rechteckig. Damit war es zusammen mit der Schmiede das einzige Gebäude im gesamten Dorf, das sich der Kreisform widersetzte. Die Tür war unverschlossen und als nach mehrmaligem Klopfen niemand antwortete, traten wir ein. Wir mussten uns allesamt bücken, als wir eintraten, scheinbar waren die Anwohner etwas kleiner.
Die Tür führte zunächst in einen Flur, der fast das halbe Erdgeschoss einnahm. Rechterhand führten drei Türen in weitere Zimmer, gegenüber von uns eine Treppe nach oben, unter der sich hinter einem schmalen Türchen wahrscheinlich eine Besenkammer verbarg. Links von uns hingen sechs Gemälde an der Wand. Die dargestellten Menschen wirkten im Vergleich zu den sie umgebenden Menschen etwas klein. Bei zweien gab es sogar ein Ganzkörperporträt, das auch ihre Füße zeigte – unbeschuht, auf der bloßen Erde.
„Das sind Halblinge“, stellte Jenn fest. „Allesamt.“
Der goldene Schatten
Als wir am nächsten Morgen aufbrachen, folgte uns der Wolfshund weiter. „Sieht so aus, als hätten wir einen neuen Begleiter“, frohlockte Jenn. „Wie er wohl heißt?“
„Ich denke eher, er folgt uns, bis er den Mörder seines Herrn gefunden hat“, brummte ich.
„Hm … bis wir es erfahren, müssen wir wohl improvisieren“, sagte Jenn weiter, meinen pessimistischen Einwand ignorierend. „Da war doch dieser Zettel. ‚Utz‘! Ist doch genauso gut wie jeder andere Name. Komm näher, Utz!“
Der Wolfshund reagierte nicht.
Der Drachenkessel
Es dauerte einige Minuten, bis wir zur Sprache zurückfanden. Bis wir den Kampf verarbeitet hatten, die Kälte, die Hitze – den Abgrund und das dämonische Wesen in der Tiefe. All die Empfindungen aus Zorn und Wut, aber auch aus Angst, rangen miteinander. Doch es schien mir, dass dieser seltsame weiße Stein eine beruhigende Wirkung hatte. Sein sanftes, gleichmäßiges Glimmen verschaffte uns einen Fixpunkt. Langsam breitete sich die Ruhe aus, bis Jenn die Stille durchbrach: „Dieser Dolch, den ich gefunden habe, mit dem Rubin. Er sieht so edel und kraftvoll aus. Glaubt ihr, er hätte etwas gegen diesen Dämonenfürsten ausrichten können?“
Continue readingDas Grauen in der Tiefe
Plötzlich horchte Suena auf. Sie
wandte sich um und blickte in Richtung der Tür, die zum Hauptraum führte. „Habt
ihr das auch gehört?“
Ich wog meine Axt in der Hand, schüttelte aber den Kopf. Jenn und Zedd erging
es ähnlich, da merkte Suena noch einmal auf. „Da ruft jemand. Es ist … Dario!
Hey, Dario! Wir sind hier!“
Ich blickte angesichts des Rufens argwöhnisch zur Treppe hinab in die
Dunkelheit, doch schien sich nichts hervorzutrauen. Noch nicht. Nun kam aber
der eben angesprochene durch die offenstehende Tür herein: Dario Anvari, nicht
mehr so blass wie am vorigen Morgen. Er schien sich kurz bei Suena und Zedd zu
beschweren, wobei seine Gestik wohl auf die Lautstärke hinweisen sollte, mit
der er nach uns gerufen hatte. Ich vor mir unwillkürlich an meinem Kopf
entlang, wo unter den dichten, braunen Haaren das verkrüppelte Ohr lag.
Suena setzte den Ordenskrieger knapp ins Bild über unsere bisherigen
Erkundungen, wobei sie ihm auch die Scheiben zeigte, die er neugierig
betrachtete. Schlussendlich zeigte sie auf die offenstehende Tür und die
dahinterliegende Treppe – hinab in den Abgrund unter diesen Ruinen.
Knochentanz
Die Nacht brachte seltsame Träume
von hohen Hallen, zerfallenen Räumen, bodenlosen Löchern und daraus
hervorströmendem Nebel. Doch der nächste Morgen begrüßte uns, ohne, dass etwas
geschehen wäre.
Wir fachten das Lagerfeuer für das Frühstück wieder stärker an, da es seltsam
kalt zu sein schien. Doch Darios Gesicht wirkte unvermindert blass, egal, wie
nahe er an die Flammen heranrückte.
„Ich werde hierbleiben“, verkündete er nach einer Weile, während wir bereits
gegessen, er jedoch nur verkniffen auf das Dörrfleisch geblickt hatte. „Nach
den Pferden sehen, das Lager bewachen. Es ist kein schneller Weg von hier zu
den Ruinen. Und sollte uns jemand die Tiere streitig machen, bringt uns aller
Reichtum nichts.“
„Bist du denn sicher? Im Zweifelsfall stehst du dann alleine“, erwiderte Jenn.
„Ich stehe nie allein. Selbst wenn man ihn nicht immer sieht, so ist er da doch
immer da“, sagte Dario mit fester Stimme und wies auf die dichte Wolkendecke,
durch die das Licht der Sonne nahezu silbrig hindurchschimmerte – vielleicht
war sein Ormut irgendwo dort oben.