„Was soll das heißen, es gibt hier keinen Alkohol?!“
„Es tut mir sehr leid, aber in Tura wurde die Prohibition ausgerufen“, sagte der Wirt. „Es gab Missernten und der Fürst will verhindern, dass wir das wenige, was wir haben, in Alkohol umsetzen.“
„Ist denn kein Rest übrig, den man trinken kann?“, fragte ich entsetzt.
„Nun … seid ihr bereit für einen Spaziergang?“
„Dorthin, wo es Alkohol gibt?“
Der Mann rollte die Augen. „Etwas leiser, wenn’s geht. Geht eine Straße weiter. Dort gibt es ein Gasthaus, dessen Räumlichkeiten in einem Keller liegen. Man sagt sich, dass der Wirt dort noch ein paar Restbestände an Wein hat, die er vernichten muss. Damit sie nicht schlecht werden.“
„Sehr gut“, sagte ich zufrieden.
Wir aßen noch in dem Gasthaus, bevor wir dann zu der geheimen
Weinkneipe aufbrachen. Sie war tatsächlich schnell gefunden und schien auch gut
besucht. An einem Dutzend Tische in dem geräumigen Kellerausbau saßen mit
Sicherheit nahezu einhundert Leute. Als wir eintraten ernteten wir sofort
einige misstrauische Blicke. Nachdem man uns gemustert hatte, verloren die
meisten jedoch bald ihre Skepsis, während wir ungestört auf die Bardame
zugingen. Eine wunderschöne junge Frau mit langem, rotblondem Haar.
„Was darf ich euch bringen?“, fragte sie auf Vallinga, aber mit einem
prickelnden, südländischen Akzent.
Ich starrte. Jenn fragte: „Wir haben gehört, dass es ein paar Fässer ausgelaufen
sein sollen und wollten fragen, ob wir dabei helfen können, die Sauerei
wegzumachen.“
„Aber natürlich. Macht es euch doch an einem Tisch bequem. Dort haben wir
Wasserkaraffen bereitstehen. Was anderes können wir derzeit leider nicht
anbieten. Aber ich schaue mal, ob ihr uns nicht noch helfen könnt.“
Wir setzten uns und ich fragte Suena: „Wie … spricht man hier eigentlich Frauen
an?“
Meine Frage löste allgemeines Prusten aus. „Hey! Bei uns in Fuardain wäre das
ganz einfach. Ich würde sie beanspruchen, denjenigen umhauen, der sie mir
streitig machen will und dann geht’s ins Zelt.“
„Ähm. Nein“, sagte Suena. „Sag ihr doch erstmal ‚Hallo‘ und frag sie nach ihrem
Namen.“
Die Bardame kam zurück und hatte ein paar Kelche auf einem
Tablett. Vielversprechende rote Flüssigkeit schwappte in ihnen hin und her.
„Wir freuen uns sehr über eure Hilfe. Falls ihr uns je fünf Silberstücke
dalassen könntet, wäre das sehr willkommen.“
Ich legte ihr schnell die Münzen hin, dann fragte ich: „Hallo? Ähm, hallo. Wie
ist dein Name?“
„Hallo“, sagte sie lächelnd. „Mein Name ist Tia.“
Ich nickte. Dann antwortete ich: „Mein Name ist Gorlan! Freunde nennen mich
Gor, als nenn mich doch gerne Gor.“
Sie kicherte, sagte dann: „Freut mich, dich kennenzulernen, Gor.“ Mit ihrer
Bezahlung ging sie davon. Was ein Anblick.
Erwartungsvoll blickte ich in die Runde. „Das lief doch gar
nicht schlecht, oder?“
„Du hast sie am Haken, das merkt man direkt“, sagte Zedd.
„Ich frage mich geradezu, wer hier wen verführt“, setzte Jenn dazu.
„Ich würde vorschlagen, wir versuchen mal hier etwas mehr Stimmung in diese
Weinkneipe zu bringen. Beim Tanz lernt man sich dann auch besser kennen.“
„Ich habe sogar eine Laute dabei!“, sagte Jenn. Verdutzt blickten wir sie an.
Sie zuckte die Achseln. „Man weiß ja nie!“
„Du kannst ein Instrument spielen?“
„Also … naja, ich hab‘ eine Laute dabei. Falls einer von euch spielen kann.“
Wir waren etwas verdutzt, doch Suenas Plan setzten wir dennoch um. Sie begann
einen schönen, schnellen Gesang, zu dem Jenn zumindest zu tanzen wusste. Ich
schloss mich ihr an. Zwar kannte ich nicht diesen Tanz nicht, aber stattdessen
konnte ich mit ein, zwei Saltos Begeisterung bei den Umstehenden auslösen.
Schließlich sprang ich rückwärts und landete auf einem Tisch – ohne eine
Karaffe oder einen Kelch umzustoßen. Die Leute klatschten. Und ich glaubte,
dass Tia kurz zu mir hinübersah und zwinkerte.
Dann gab es jedoch Geräusche von der Tür. Etliche Fußschritte.
Und im nächsten Moment standen Stadtwachen in der Schenke.
„Ihr steht alle unter Arrest für die Missachtung des fürstlichen Dekrets zur
Prohibition. Zur Strafe sollt ihr bis zum morgigen Mittag in ein paar Zellen
ausnüchtern, in der Hoffnung, dass ihr darüber nachdenkt, wie sehr ihr mit
eurem Verhalten der Stadt und allen Einwohnern schadet.“ Der Mann näselte ein
wenig.
„Wenn hier einer der Stadt schadet, dann seid ihr das!“, brüllte ich. Zedd
versuchte es mit Diplomatie. Mara damit, sich vorbei zu schleichen. Jenn wollte
sich über den leider nichtvorhandenen zweiten Ausgang verdrücken. Suena war
unauffällig. Doch am Ende – zwischendurch flogen ein paar Fäuste an
vereinzelten Stellen – wurden wir mit der gesamten Trinkgesellschaft abgeführt.
Irgendwer musste die Kneipe verpfiffen haben. Angesichts der Tatsache, dass wir
Wildfremde direkt von ihr erfahren hatten, vielleicht auch kein Wunder.
Man brachte uns zur Burg Turas. In ihrem Innenhof waren ein paar große Zwinger
aufgebaut worden, in die man uns in Grüppchen zu jeweils zwanzig Leuten
steckte. Bis zum Morgengrauen erhielten wir keine weitere Auskunft oder eine
andere Unterkunft. Mehr oder weniger bequem teilten wir uns den knappen Platz
am Boden und verbrachten dort eine der schlechtesten Nächte unseres Lebens.
Am Morgen begannen wir etwas nervös zu werden. „Wir müssen noch
Morathis Schiff erwischen“, stellte Suena fest. „Sie werden bald ablegen und
wahrscheinlich nicht auf uns warten.“
„Hier stehen überall Wachen. Wie sollen wir verschwinden?“, fragte Mara. Und
erhielt keine Antwort. Es wurde Mittag, bis wir freigelassen wurden – und kaum,
dass wir zum Hafen geeilt waren, stellten wir fest, dass Morathi tatsächlich
bereits abgehauen war.
„Dieser Strichling“, fluchte ich.
„Andererseits“, begann Mara. „Müssen wir jetzt ja auch nicht mehr nach Eschar.
Zu dem ganzen Sand.“
„Und wenn wir schon länger hier sind: vielleicht weiß man beim Covendo noch
etwas über unser kleines ‚Zeitproblem‘“, schlug Suena vor – und überzeugte uns.
„Vielleicht ist es eine Fügung Ormuts“, überlegte Zedd. „Lasst uns diese Chance
ergreifen!“
Wir erfrischten uns zunächst etwas, um bei der Magiergilde
nicht direkt an der Tür abgewiesen zu werden. Dann machten wir uns zu ihnen auf
den Weg zu dem großen Marmorbau. Mara und Suena gingen voran, die eine machte
Eindruck, die andere bot Fachwissen. Zedd gab seine Ideen hinzu, die gut waren,
solange er nicht allzu lange über seinen unsichtbaren Freund sprach. Jenn
brachte noch mit ihrer Neugier Ideen ein – und ich versuchte irgendwie mit
Bauernschläue die Nachfragen zu unterstützen.
Zunächst war ich sehr erstaunt, als man uns nicht direkt aus dem Gebäude warf,
als Suena einem Magier mitteilte, dass wir in der „falschen“ Zeit seien.
Stattdessen verwies man uns an einen Gelehrten namens Sevario, der uns in einer
engen Schreibstube empfing und den Ausführungen gebannt lauschte. Als wir
fertig waren (und alle Details zu unserem Abgang aus Cuanscadan ausgelassen
hatten) lehnte er sich zurück, strich sich über den Mund und erklärte dann: „Es
ist sehr unwahrscheinlich, was ihr mir berichtet. Wirklich unwahrscheinlich.
Aber solche Dinge sind möglich. Man kann aus seiner eigenen Zeit herausgerissen
werden. Die genauen Umstände sind in der Regel vielschichtig und komplex,
häufig kaum zu rekonstruieren. Ich empfehle euch, einen Experten aufzusuchen
und das baldmöglichst. Eine Reise zwischen Zeiten und den damit verbundenen
Welten birgt Gefahren, die man kaum abschätzen kann. Es kann nahezu alles
passieren und wenig davon dürfte für euch glücklich enden.“
„Was wäre eine solche Gefahr?“, fragte Mara, sichtlich beunruhigt.
„Je länger ihr hierbleibt, desto mehr Möglichkeiten werden sich aufsummieren.
Magische Rückkopplungen. Differenzen zwischen Zeitlinien und
Nivellierungserscheinungen. Eurer Leben kann in Gefahr geraten.“
„Zu wem könnten wir gehen, der uns dabei helfen könnte, wieder in unsere Zeit
zu kommen?“
„Geht nach Diatrava. Dort studiert der Gelehrte Gersilaos die Zeit. Wenn euch
jemand in den Küstenstaaten helfen kann, dann ist er es.“
Wir bedankten uns bei dem Magier, der uns als erster die
Geschichte von unserer Zeitverschiebung in Ansätzen zu glauben schien. Seinem
Rat folgend statteten wir uns für die Reise aus, was auch ein paar Mietpferde
miteinschloss, und machten uns noch am selben Tage auf den Weg nach Diatrava.
Der Weg führte über eine anfänglich gut ausgebaute Handelsstraße durch das
Fürstentum von Tevarra. Rechterhand sahen wir den Golf von Tura, von dem uns
ein frischer Wind entgegenstrich, was die Hitze der hiesigen Sonne sehr
erträglich machte. Entlang der Straße hingen etliche Weinreben und Olivenbäume
an den Hügeln. Viele der Pflanzen waren jedoch ausgedörrt – die Missernten der
turanischen Bauern schienen keine Lüge gewesen zu sein.
Nach einem Tag erreichten wir den dünnen Landstrich, der zwischen dem Golf von
Tura und den Kaf-Bergen lag und den Übergang zum Fürstentum Serenea markierte.
Das Land wirkte hier leerer, der Handel verlief offensichtlich zumeist über die
See. Regen begann auf uns niederzuprasseln, sodass wir Berge und Meer fast nur
noch durch einen Schleier jenseits der uns umgebenden Pinien erkennen konnten.
Dann hörten wir das Knacken von Ästen – dutzendfach. Etwas kam auf uns zu, aus
dem Pinienhain. Etwas mit vielen Beinen.
Wir zogen unsere Waffen und ließen unsere Pferde etwas auseinandertrotten. Mara
und ich waren nicht abgeneigt, aus dem Galopp anzugreifen. Dann sahen wir
jedoch den Verursacher des Geräusches. Die Verursacher. Es waren Menschen, wie
für die Schlacht gerüstet. Zunächst vereinzelt, gingen bald dutzende über den
Hügel und auf uns zu. Keiner würdigte uns eines Blickes, während wir verdutzt
auf ihre Ausrüstung starrten. Manche trugen Felle und große Äxte, andere
verdreckte aber zweifellos hochwertige Metallrüstungen. Viele der
verschiedensten Rüstungen und Waffen hatte ich in dieser Form noch nicht
gesehen. Sie wirkten teilweise wie aus der Zeit gefallen. Ein Krieger hatte ein
Netz und einen Speer dabei, seine einzige Rüstung war ein golden schimmernder
Korbhelm. Der nächste konnte einer dieser albischen Ritter sein, dem nun jedoch
das Ross fehlte und dessen Lanze umso fehlplatzierter schien.
„Was ist das für ein Heer?“, fragte ich verblüfft. Dann sahen wir die Standarte
dieser fremden Legion. Ein Mann in Vollrüstung reckte sie hoch über die Köpfe
und Speerspitzen der Soldaten. Am Ende der Stange war ein eiserner Kreis
auszumachen, auf dem ein metallener Vogel saß und seine Schwingen ausbreitete.
Neben dem hünenhaften Standartenkrieger ging eine dunkle Gestalt in schwarzem
Umhang. Mittlerweile wurden wir gewahr, dass mehr als hundert Krieger in diesem
Tross waren, der an uns vorbeizog ohne uns eines Blickes zu würdigen. Wo sie
auf uns zuliefen und wir ihre Augen sahen, wirkten diese leer und ziellos. Als
wären sie selbst auch nicht wirklich im Hier und Jetzt.
„Was geschieht … he, Jenn! Dario!“, rief Zedd plötzlich. Unsere beiden
Begleiter hatten sich aus unserer Formation gelöst. Sie trotteten in demselben
orientierungslosen Gleichschritt der anderen Krieger mit. Fort von uns. Der
Standarte nach, die mittlerweile an uns vorbeimarschiert war.
Wir riefen ihnen weiter nach, doch sie reagierten nicht mehr.
„Sie müssen verhext worden sein!“, rief Zedd. Dann eilten wir unseren Freunden
nach. Ich hängte den Ogerhammer wieder an eine Schlaufe im Sattel und zog
stattdessen ein Seil, das ich mit wenigen Griffen zu einem Lasso knotete. Suena
sprang vom Pferd und lief zu Jenn. Sie packte sie an den Schultern und drehte
sie zu sich um. „Jenn!“
Erst wurde Suena ausdruckslos angestarrt. Dann zog unsere Freundin ihr Rapier.
Der Soldatentross machte auf der Stelle Halt. Und kehrten uns die Gesichter zu.
Sofort war Mara zur Stelle, um den ersten Angriff Jenns zu parieren, woraufhin
sich Suena eilends auf ihr Pferd flüchtete. Zedd und sie gewannen zunächst
etwas Abstand gegenüber der feindseligen Horde und schienen sich auf
Zaubersprüche zurückziehen zu wollen. Ich hatte mein Lasso fertig geknotet und
ritt auf Dario zu. Er hatte seinen Krummsäbel bereits gezückt und schien
entschlossen, den Kampf mit uns zu suchen. Ich schleuderte ihm die Fessel
entgegen – und der Kreis schloss sich um ihn. Ohne Regung blickte Dario auf das
Seil, das sich um seine Brust herum zuzog und seine Arme an den Körper presste.
Ich ließ das Pferd wenden und preschte in die entgegengesetzte Richtung davon.
Dario wurde von den Füßen geholt, jede Gegenwehr wurde ihm unmöglich und ich
versuchte ihn auf Abstand zu den Verfluchten zu bringen.
Suena wirkte kurz darauf einen Zauber und Jenns Angriffsbemühungen gegen Mara –
die diese beinah in Bedrängnis gebracht hätten – brachen ab. „Bist du wieder
bei uns?“, fragte die Elfe sie. Doch Jenn starrte sie nur mit leeren Augen an.
Und verlor ihre Konturen. Verdutzt griff Mara nach ihr, doch erhaschte nur noch
Luft. Jenn hatte sich aufgelöst. Dario ebenso. Und der Rest der Legion folgte
binnen eines Augenblicks. Mitsamt des Standartenträgers und der mysteriösen,
vermummten Gestalt neben ihm.
Langsam zog ich das Lasso ein und entknotete es wieder, während
ich zu den anderen hinübertrottete. „Was war das denn für eine Hexerei?“
„Diese Krieger stammten aus verschiedensten Zeiten. Manche der Rüstungen kommen
mir aus Beschreibungen vergangener Jahrhunderte bekannt vor“, sagte Suena.
„Möglicherweise sind wir nicht die einzigen, die in der Zeit verloren gegangen
sind.“
„Ich hasse diese Zeitdilemmata“, gab Mara missgelaunt kund. „Was sollen wir
jetzt dagegen machen? Jetzt sind auch noch Dario und Jenn verschollen. Und wer
kümmert sich jetzt um diesen Hund?“
Sie wies auf Utz, der den Boden beschnüffelte, wo Jenn zuletzt stand. Zedd ging
zu dem Tier hinüber und strich ihm langsam und behutsam über den Kopf. „Das
kann ich übernehmen, ich kenne mich ja mit Tieren einigermaßen gut aus“,
erklärte er. „Was wir allerdings in Bezug auf die Entführung unserer Freunde
machen sollen …“
„Wenn es ein Zeitproblem ist – wie mit uns“, führte Suena aus. „Dann ist es
doch nur ratsam, wenn wir Gersilaos ebenfalls danach befragen. Beim Konvent hat
man möglicherweise schon von dieser verlorenen Legion gehört.“
„Eine Legion der Verdammten, würde ich meinen“, sagte Mara.
„Da sind wir ja ganz schön in was reingeraten“, brummte ich. Und dabei beließen
wir es zunächst in unserer allgemeinen Ratlosigkeit. Das plötzliche Auftauchen
und Verschwinden einer ganzen Heerschar war selbst für Drachentöter etwas
Neues.
Wir ritten weiter die Straße entlang, die uns schließlich aus
den Pinienhainen heraus und zu einem kleinen Dorf führte. Gerade mal ein
Dutzend Häuser scharten sich rund um das größte Gebäude, das zwar ebenso
hölzern war, aber mit einigen Verzierungen aufwartete. Rund um das Portal, das
ins Innere führte, waren mythische Gestalten abgebildet, überthront von einigen
idealisierten Menschendarstellungen.
„Das muss ein Tempel sein. In diesen Gegenden ohne großen Handel dienen sie
häufig als Gasthäuser für Reisende“, sagte Suena, die das Land schließlich am
besten von uns kannte.
„Ich schlafe in keinem Tempel einer Gottheit, die ich nicht einmal kenne“,
sagte Mara.
„Aber, aber!“, rief uns jemand fröhlich auf Vallinga zu, der das noch gehört zu
haben schien. Die Pforte des Tempels war aufgegangen und ein Mann in weiter,
weißer Robe stand darin. Er wirkte eher wie ein Priester der glücklicheren
Sorte. Oder zumindest der umfänglicheren. „Dies ist ein Tempel des Jakchos,
Gott der Natur und all der Freuden, die sie uns Menschen bereitet, wenn wir sie
hegen und pflegen. Also kennt Ihr nun den Namen unseres Schutzpatrons und kommt
doch gerne herein, um euch auszuruhen.“
„Seid gegrüßt“, erwiderte Suena. „Das Angebot würden wir gerne annehmen.“
Wir stiegen ab und banden die Pferde vor dem einfachen Tempel fest. Mara
verabschiedete sich jedoch von uns. „Ich werde etwas abseits ein Lager
aufschlagen. Mit geteilten Mahlzeiten jenseits eines Gasthauses habe ich es
nicht mehr so.“
Also gingen nur Suena, Zedd und ich in den Tempel, wo uns der Priester in den
Hauptraum führte. Er war einfach eingerichtet, mit einigen Kissen auf dem Boden
vor einem tiefen Tisch. Zunächst verrieten nur einige Darstellungen an den
Ziersäulen und ein großes Buch, das auf einem kleinen, erhöhten Tisch lag, dass
es sich hier um mehr handeln könnte, als einen gemütlichen Gemeinschaftsraum.
„Fühlt euch wohl und willkommen!“, rief der Priester aus. Er stellte sich uns
als Kantaros vor und brachte uns Käse und Brot. Einige süße Weintrauben
rundeten das einfache, aber gute Mahl ab. Wir stellten uns ihm ebenfalls vor.
Dann erzählte Suena, was wir erlebt hatten. Schließlich lag das Dorf nicht weit
weg von der Wirkungsstellte der Legion. Kantaros hörte aufmerksam zu, fragte
hier und da nach. Schließlich war Suena am Ende. „Das klingt nicht gut“, meinte
er ernst. „Ich werde die anderen hier im Dorf in Kenntnis setzen, dass sie in
den nächsten Tagen nur mit Vorsicht durch den Wald gehen sollen. Leider kann
ich selbst nicht sagen, was es mit diesem Ereignis auf sich haben könnte.
Jakchos indes ist weise. Und wenn wir uns ihm anvertrauen, so lässt er uns
möglicherweise an seinem Wissen teilhaben.“
„Was soll das bedeuten?“, fragte Suena.
„Ich schlage eine Delirium Divinas
vor. Wir trinken gemeinsam den heiligen Wein und überantworten unseren Geist
den Eingebungen Jakchos‘.“
„Ormut würde mir das nicht billigen“, sagte Zedd. Auch Suena hob abwehrend die
Hände. Ich stellte mir die einladende Weinkaraffe vor und grinste breit.
„Alkohol und Wissen? Klingt nach einer guten Verbindung.“
„Du wirst sehen, bei Jakchos liegt das stets eng beieinander“, verkündete
Kantaros. Wir beendeten also unser Mahl, dann holte der Priester einen großen
Kelch herbei, der bis zum Rand mit einer tiefroten Flüssigkeit gefüllt war. Das
kräftige Aroma des Weins, stieg mir bereits in die Nase, bevor ich den Kelch in
der Hand hatte. Suena und Zedd zogen sich an das Ende des Tisches zurück und
beobachteten Kantaros und mich skeptisch. Er gab mir zuerst den Kelch und ich
nahm einen großen Schluck. Der Wein schmeckte intensiv und schwer. Zweifelsohne
lag mehr Alkohol in ihm, als das üblich war. Ich spürte, wie mir warm wurde und
nahm dann auf Kantaros‘ Wink hin einen weiteren Schluck. Dann nahm er den Kelch
selbst an sich und leerte die übrige Hälfte. Er begann von Jakchos‘ Segnungen
für die Menschheit zu reden, bis ihm der Kopf auf die Brust sackte und mir die
Augen zufielen.
Ich stand an einer Klippe, unter mir eine tiefe Schlucht.
Hinter mir fiel das Land rasch ab bis zu einem kleinen, weißen Tempel, der dort
einsam stand. Neben mir war Kantaros, der mich und die Umgebung ebenso
interessiert musterte wie ich es tat. Dann hörten wir einen lang gezogenen
Schrei, gefolgt von einem metallischen Klirren. Als würden dutzende Klingen
über ein Kettenhemd geschliffen. Und dann sahen wir drei riesige Kreaturen aus
der Schlucht hervorschießen. Blitzschnell wandten sie sich in der Luft herum,
was weiteres metallisches Klirren zufolge hatte. Es waren drei riesige
Greifvögel, vollständig vom Schnabel bis zu den Federn aus Eisen und anderem
Metall. Sie nahmen uns mit kalten, toten Augen in den Blick.
Kantaros und ich drehten uns auf der Stelle um und rannten so schnell wir
konnten den Hügel hinab. Die Metallvögel flogen uns hinterher, ihre Schreie
klangen wie Schlachtengetümmel. Messerscharfe Feder schossen an uns vorbei. Die
Biester konnten diese scheinbar wie Armbrustbolzen abfeuern. Vereinzelte dieser
Klingengeschosse trafen mich am Rücken, hinterließen Kratzer oder bohrten sich
in weiches Fleisch. Ich schrie auf, spürte, wie mir Blut am Rücken entlang
lief. Doch der weiße Tempel kam immer näher und näher. Kantaros neben mir wurde
gepackt, einige Meter in die Luft gehoben und stürzte erst nach einigem
Strampeln aus den Klauen des Metallvogels in die Freiheit zurück. Er schlug
neben mir auf, drehte ein unfreiwilliges Rad, sprang auf und hechtete mit mir
die letzten Meter zur Tür des Tempels.
Mit trockenem Mund und
pelziger Zunge fand ich mich im Jakchos-Tempel wieder. In dem kleinen, den wir
„verlassen“ hatten. Ein Gefühl der Schwere lag in meinem Hinterkopf und nur
mühselig konnte ich mich hochstemmen. Von der Tür fiel das fahles, graues Licht
herein. Der Morgen graute. Vor mir rappelte sich gerade Kantaros auf, der wohl
ebenfalls nach dem göttlichen Delirium am Tisch eingeschlafen war. Suena, Zedd
und Mara kamen kurz darauf zu uns, während der Priester und ich uns vorerst
nonverbal darauf geeinigt hatten, dass es uns beiden nicht sehr gut ging.
„Und was hat euer Gelage ergeben?“, fragte Suena.
„Jenseits der Tatsache, dass ihr beim Herumwälzen beinahe die Innenrichtung
durcheinandergebracht hättet“, setzte Zedd mit amüsiertem Unterton hinzu. Ich
berichtete kurz, was ich gesehen hatte. Kantaros nickte dabei mit glasigen
Augen. Als ich fertig war, erklärte er: „Ich glaube, bei diesen Kreaturen
handelte es sich um die mythischen ‚stymphalischen Vögel‘. Abnorme Kreaturen,
die noch aus der Zeit des Kriegs der Magier stammen sollen. Bestialische
Kreaturen, die vollständig aus Metall bestehen. Keine Schöpfung Jakchos, vielleicht
nicht einmal eine Kreatur dieser Welt.“
„Und was soll das bedeuten?“, fragte ich. „Warum haben wir eine Vision von
diesen Monstern gesehen?“
„Jakchos‘ Wege sind unergründlich“, sagte Kantaros.
„Gibt es ein Gebiet, in dem diese stymphalischen Vögel vorkommen? Oder sind sie
ein Symbol für etwas?“
„Es gibt Gerüchte, dass einige von ihnen noch im Nyktoros-Gebirge in Chryseia
nisten sollen. Ich weiß aber nicht, ob ihr Erscheinen ausgerechnet darauf
verweisen muss.“
„Chryseia war jedoch auch der Ort, an dem es eine Erschütterung der Weltlinien
gegeben haben soll“, sagte Suena an uns gewandt. Kantaros blickte auf diesen
Kommentar etwas verwirrt, konnte dem wohl nicht mehr folgen. Aber angesichts
seiner Kopfschmerzen schien ihm das auch nicht allzu wichtig zu sein.
„Warum sind wir dann eigentlich hier und nicht dort?“, fragte Mara.
„Der Rat an uns war gewesen, uns zunächst von dort fernzuhalten“, erinnerte
Suena.
„Vielleicht eine Fehleinschätzung“, mutmaßte Zedd.
Suena kniff die Augen zusammen. „Sie
macht nur selten Fehleinschätzungen. Nebulöse Fehlanweisungen überlässt sie
anderen.“
Anderen unsichtbaren Freunden,
ergänzte ich. Allerdings war ich für diese Diskussion zu müde. Mühsam kaute ich
auf meinem Frühstück herum, bis wir schließlich aufbrachen. Die Priesterschaft
des Jakchos schien mir deutlich unterhaltsamer als andere zu sein. Allein der
Mehrwert schien ebenso gering. Wir ritten somit vorerst ohne weitere
Informationen in Richtung Diatrava.
Am folgenden Tag durchquerten wir des Mittags noch ein weiteres
Dorf. Es gab hier ebenfalls einen Tempel, der der Alpanu geweiht sei, so Suena.
Da wir jedoch schätzten, abends Diatrava erreichen zu können, verzichteten wir
auf einen Zwischenhalt.
Am frühen Abend erreichten wir dann die Hauptstadt des Fürstentums Serenea. Die
Stadt war im Vergleich zu Tura viel kleiner, konnte es aber noch mit
Leichtigkeit mit Cuanscadan aufnehmen. Wir suchten hier rasch eine Stallung
auf, die dem Handelspartner in Tura gehörte. Hier gaben wir unsere Leihpferde ab,
ließen uns ein Gasthaus empfehlen und legten dort den Großteil unseres
Reisegepäcks ab. Waffen wie mein Ogerhammer würden in der Magiergilde
sicherlich keinen guten Eindruck machen.
Dann suchten wir das Gebäude des Konvents auf, das auch in dieser Stadt zu
einem der größten zählte und sich schmuckvoll nach außen präsentierte. In der
Eingangshalle erwartete uns zunächst ein weiter, offener Bereich, ausgelegt mit
hellem Holz. Links und rechts wanden sich Treppen zu Balustraden hoch, die ein
dutzend Türen zu verschiedensten Bereichen der Gilde boten. Im Erdgeschoss
schien es linkerhand einigen Betrieb und wohl sogar eine Art „Mensa“ zu geben,
wie man das in diesen Häusern nannte. Direkt vor uns saß hinter einem Tresen
ein junger Mann in einer roten Robe, der umgeben war von dutzenden Büchern. Sie
alle schienen listenhaft aufgebaut und die Nähe, mit der seine Nase über das
Papier kroch, verriet, dass er wohl schon länger seine Aufgabe darin sah, diese
Bände akribisch in Augenschein zu nehmen.
„Seid gegrüßt“, sagte Suena.
„Hallo“, flüsterte der Mann und kippte aus seiner gebückten Haltung nur das
Gesicht leicht nach oben. Ich wusste nicht, dass eine Wirbelsäule eine solche
Form annehmen konnte, wenn man nicht mit dem Ogerhammer nachhalf.
„Wir sind Reisende aus Vesternesse, die in Tura die Gelegenheit hatten, mit dem
Gelehrten Sevario über ein komplexes Problem sprechen zu dürfen. Er verwies uns
nach Diatrava. Wir hoffen hier mit Gersilaos sprechen zu können.“
„Der ehrenwerte Magistorium über arkane Beziehungen zur Zeit“, hauchte der Mann
dahin. Langsam schob sich ein dürrer Finger aus einem seiner weiten Ärmel und
deutete die Balustrade hinauf. „Dort oben ist sein Geschäftszimmer. Wenn er
nicht gerade in seinen Recherchen vertieft ist, kann man ihn dort antreffen.
Sucht ihn gerne auf, wenn man euch aus Tura sandte. Er wird euch empfangen. Ich
notiere die Ankunft eurer … Gruppe.“
Suena nannte ihm knapp unsere Namen, während er sich einem anderen Folianten
zuwandte, der halb so groß wie eine Tür war und fünfmal so dick. Mit einer
äußerst fein geschnittenen Feder schrieb er etwas auf, das so dünn war, dass
ich es erst als Schrift erkannte, als er fertig war. „Bitte sehr. Beachtet die
Hausregeln des Covendo Mageo. Gelehrsamkeit ist eine Kunst der Stille und
Ruhe.“
Sein Blick blieb an mir hängen, insbesondere an dem Drachenzahn, der auf meiner
Brust baumelte. Ich war für den Moment froh, dass wir dem Gesäusel des Magiers
entkamen. Die Wendeltreppe hinauf zur Balustrade war mit Schnitzereien am
Innenpfosten versehen, die diverse Gesichter und darunter etliche Schriftzüge
präsentierte. Eine Ahnengalerie oder etwas dergleichen. Oben angekommen
klopften wir an der uns gewiesenen Tür an und wurden hereingebeten.
Das Zimmer war kleiner, als es die Ausmaße des Gebäudes hätten erwarten lassen.
Andererseits mussten hier aber wohl hunderte Gelehrte irgendwo unterkommen.
Zwischen Stapeln von Papierrollen und Büchern saß ein vergleichsweise junger
Mann an einem Schreibtisch. Ein feiner Schnurrbart zierte seine Oberlippe und
mit wachem Blick begegnete er unserem Eintreten.
„Seid gegrüßt“, sagte er. „Ich bin Gersilaos, Magister des Covendo Mageo. Wer
seid ihr und wie kann ich behilflich sein?“
„Wie alt seid Ihr?“, fragte Mara. Etwas verwundert starrten alle sie an und der
Gelerhte antwortete: „Einunddreißig. Aber weswegen seid Ihr hier?“
Suena stellte uns nun vor – und erzählte unsere Geschichte. Von dem
unerklärlichen Start, der irgendwo in Erainn liegen musste, über die rechtlich
unbedenklichen Details in Cuanscadan, bis zum Aufeinandertreffen mit der
plötzlichen Legion und dem Verlust zweier unserer Begleiter. Und weil ohnehin
alles äußerst unwahrscheinlich erschien, ergänzte ich noch meine Vision, die
mich im Jakchos-Tempel heimgesucht hatte. Gersilaos‘ Augen wurden größer und
größer, bis sie die Augenbrauen an seinen Haaransatz verdrängten. Als Suena
schließlich alles berichtet hatte, sprang er auf. Dann räusperte er sich kurz,
als wäre ihm dieser „Ausbruch“ peinlich, und sagte dann: „Das ist äußerst
faszinierend! Wenn das stimmt, was ihr mir berichtet – und ich glaube, solch
eine phantastische Erzählung denkt man sich nicht so einfach aus – seid ihr die
Bestätigung einer Reihe von Theorien, die seit Jahrzehnten, wenn nicht länger
aufgestellt wurden und kaum bestätigt werden konnten. All diese Ideen, all die
Möglichkeiten … aber bleiben wir zunächst bei euch. Ich bin äußerst
interessiert daran, euch bei eurer Suche nach Wissen zu unterstützen! Frei
heraus, will ich nämlich zunächst zugeben, dass ich auf keine dieser
Verwicklungen eine schnelle oder gar einfache Antwort weiß. Und euch vorwarnen,
dass es eine solche kaum geben wird. Doch sind die Wissensvorräte unserer
Bibliothek reichlich und ich werde mein Bestes tun, um mit euch aus ihnen zu
schürfen.“
Das klang – langwierig. Und noch ehe ich mich richtig versehen hatte, war
Gersilaos mit uns wieder ins Erdgeschoss und durch eine große Portaltür an der
Rückwand er Eingangshalle in die Bibliothek gegangen. Hier schraubten sich die
Bücherregale bis in den dritten Stock, zugänglich über zuteilst äußerst
fragwürdige Konstruktionen aus Leitern und Treppen, die sich nur ein Magier
hatte ausdenken können. Der Gelehrte führte uns zu einem Tisch und hieß uns
zunächst warten, bis er mit noch einem Bibliothekar zurückkam. Dieser setzte
sich mit Suena und Zedd zusammen, welche die diversen Details unserer Reise auf
„Schlagworte“ und „Registertitel“ herunterbrechen sollten, damit er für sie die
Suche übernehmen konnte. Gersilaos selbst eilte bereits davon. Mara und ich
setzten uns etwas unschlüssig an den großen Tisch dazu. Und dann begann ein
Orkan aus Büchern, Folianten, Schriftrollen und losen Pergamenten. Gersilaos
schoss durch die Gegend wie ein bunter Blitz, verwies immer wieder auf
vereinzelte Abschnitte in diesem oder jenem Band, machte kurze Anmerkungen mit
Begriffen, die ich noch nie gehört hatte und ehrlich gesagt nicht einmal
verstand. Ich war mir nicht mehr ganz sicher, ob er durchgängig Vallinga sprach
oder in eine andere Sprache wechselte. Aber die Frage, ob es Gehlertisch gab,
verkniff ich mir. Der Bibliothekar, der anfangs bei der Recherche half, hatte
bald genug damit zu tun, uns die Texte vorzulesen, welche Gersilaos
heranschleppte. Keiner von uns konnte Texte in Vallinga, der hierzulande
gebräuchlicheren Neu-Vallinga oder gar in der alten Maralinga lesen. So hörten
wir zu und nickten, hörten weiter zu und nickten noch mehr. In meinem Kopf
entstand ein verwirrendes Chaos aus Namen, Jahreszahlen, Orten und Theorien.
Doch Stück für Stück bastelten wir an einem Gesamtbild.
Aber noch während wir dasaßen und dem Orkan begutachteten,
bemerkten wir, dass unsere Recherchen nicht unbemerkt blieben. Ein kleines,
verhutzeltes Männchen zeigte unverhohlen seine Aufmerksamkeit. Dem Auftreten
nach hätte er aus meinen Landen kommen können und doch auch dort sonderbar
genannt werden würde. Einfach bearbeitete Kleidung aus grobem Stoff, darüber
ein etwas verlaust aussehender Pelz. Seine Haare standen zerzaust in alle
Richtungen ab. Und auf seiner Schulter saß eine Kröte, die dem Kopf des Mannes
fast Konkurrenz machte. Denn er war nur knapp einen Meter groß. Ein Gnom.
Er schien bemerkt zu haben, dass wir ihn bemerkt hatten, und kam auf uns zu.
„Hallo“, sagte er. „Ihr interessiert euch auch für … nun. Wie nennt man es am
besten?“
„Zeitanomalien?“, fragte Suena.
„Treffend“, stellte der Gnom fest. „Ihr müsst wissen, dass ich dazu eine
Geschichte habe, die für euch sehr interessant sein könnte. Und um derentwegen
ich auch hergekommen bin, um Antworten zu finden.“
„Wie heißt Ihr eigentlich?“
„Oh ja. Ich bin Artos Indus Bembélé. Und das ist Fürst Sabados.“ Der Nachsatz
galt seiner Kröte, zumindest dem Fingerzeig nach. Plötzlich sagte er: „Ach, ich
glaube, wir können ihnen vertrauen. Schließlich sind wir seit dem Verschwinden
unseres Freundes auf uns zu zweit gestellt.“
„Mit wem habt Ihr gesprochen?“, fragte Mara langsam.
„Mit Fürst Sabados natürlich“, antwortete Artos.
„Sprecht Ihr häufiger mit ihr?“, fragte Zedd.
„Regelmäßig. Er kann ein guter Ratgeber sein.“
„Und du weißt, dass sie sonst keiner hören kann?“, setzte ich nach.
„Ja, das ist so eine Sache. Ich habe eine enge Verbundenheit mit der Natur, von
der Fürst Sabados natürlich ein Teil ist. Wie wir alle. Doch man kann noch
vielem mehr lauschen, als man es für gewöhnlich tut. Insbesondere in so stillen
Hallen wie hier.“
„Und was war das für eine Geschichte, die du uns erzählen wolltest?“, fragte
Suena.
Artos holte tief Luft. „Es klingt unglaublich, aber ihr seht so aus, als hättet
ihr schon einiges gesehen und gehört. Ich beginne am Anfang: Ich stamme aus
Moravod, ebenso wie Fürst Sabados hier und unser treuer Begleiter. Wir waren im
Auftrag der Natur unterwegs, als Druiden verstehen wir uns als Wächter des
Gleichgewichts. Doch was wir sahen, das brachte einiges von diesem
Gleichgewicht durcheinander. Zunächst waren wir in diese Gegend gereist, um
gewisse Nachforschungen über eine Erschütterung der Kraftlinien in Midgard
anzustellen. Da tauchte auf unserem Weg, nicht weit entfernt, ein ganzes Heer
aus dem nichts auf. Krieger in den unterschiedlichsten Rüstungen und Farben,
angeführt von einem Hünen mit einer Standarte und einer seltsamen Spukgestalt
daneben. Mein Begleiter begann ihnen plötzlich zu folgen – und verschwand mit
ihnen. Sie haben sich einfach in Luft aufgelöst. Ihr könnt euch vorstellen, wie
mich das erschreckt haben muss. Und Fürst Sabados erst. Er war fast
untröstlich. Also haben wir uns so schnell wie möglich auf den Weg hierher
gemacht, um herauszufinden, was es mit dieser Legion auf sich hat. Und stellten
dabei noch eine weitere … Anomalie fest. Aus irgendeinem Grund spricht jeder
Mann und jede Frau hier, als wäre es das Jahr 2433. Selbst die Chroniken führen
zehn Jahre, die ich nicht erlebt habe. Als ich aufbrach, war es 2422 und wir
haben eine ganz normale Reise hierher gehabt. Ich verstehe das nicht.“
Verdutzt blickten wir uns an, dann Artos. Suena übernahm schließlich das Wort:
„Nun, Artos, was soll ich sagen. Du hast die richtigen gefunden. Wir haben
dasselbe Chaos hinter uns. Zwei unserer Freunde sind mit dieser Legion der
Verdammten verschwunden.“
Die Miene des Gnoms hellte sich umgehend auf. „Tatsächlich? Das ist großartig!
Also eigentlich ist es schrecklich … aber jetzt können wir uns gegenseitig
helfen! Als Druide kann ich euch möglicherweise noch Einsichten geben, die man
auf anderen Wegen nicht kriegt.“
„Einsichten, die wir zunächst in Betracht ziehen sollten“, sagte Gersilaos, der
mittlerweile wieder zu uns gekommen war. „Stehen auf diesen Seiten.“ Und mit
diesen Worten ließ er einen kiloschweren Wälzer auf den Tisch krachen.
Zunächst brachte der Gelehrte einiges an Wissen heran, was die
stymphalischen Vögel aus meiner Vision betraf – das gehörte noch zu den
einfachsten Dingen, die zu recherchieren waren. Zumindest, wenn man sich auf Mythen
und Legenden ausruhte und nicht allzu sehr, den wahren Kern des Ganzen in den
Blick rückte. So berichtete man, dass diese unnatürlichen Kreaturen im Nyktoros
heimisch geworden sein sollen – nachdem sie im Krieg der Magier wie so vieles
anderes Unheil aus anderen Welten nach Midgard gelangt werden. Mit großer
Aggressivität würden sie Menschen verfolgen und gerne das dabei erbeutete
Eisen, wie die Waffen wagemutiger Abenteurer, an ihre Kinder verfüttern.
Während wir uns unterhielten, kam der von Gersilaos engagierte Bibliothekar
hinzu. Er hatte einen schweren Foliant in der Hand und wollte diesen gerade
ablegen, da kam plötzlich ein Mann von der Seite und versuchte, das Buch
abzugreifen. „Ich brauche das für meine Nachforschungen!“, sagte er eindringlich.
Er war eine auffällige Gestalt, stämmig – und er hatte nur einen Arm. Die
Finger, mit denen er nach dem Einband griff, wirkten umso kräftiger. Zudem
schwielig. Mehr die Hand eines Schmieds als eines Gelehrten.
„Wir benötigen es ebenso“, sagte Suena. „Und hatten es zuerst.“
„Zuerst! Ich suche schon seit Tagen danach. Gebt es mir, ich brauche es.“
„Und wir ebenso“, schaltete sich Gersilaos ein. „Bitte, habt Geduld.“
„Geduld!“, rief der Mann aus, was ihm ein eindringliches Psst! des
Bibliothekars einhandelte. Etwas leiser, aber wüst schimpfend, wandte sich der
Einarmige ab und stapfte davon. Zedd erhob sich und folgte ihm.
„Kennt Ihr diesen seltsamen Mann?“, fragte Suena Gersilaos. Der schüttelte den
Kopf, schien den Zwischenfall auch gleich vergessen zu haben, als er sich
wieder über die Dokumente beugte, die vor uns lagen. „Ihr spracht von einer
Legion, die aus dem nichts auftauchte. Sie hatte eine Standarte bei sich? Wie
sah diese aus?“
„Es war ein Vogel, der auf einem Kreis saß“, versuchte Suena die Standarte zu
beschreiben.
„Geht es etwas genauer?“
„Es könnte ein Adler gewesen sein?“
„Vielleicht ein stymphalischer Vogel!“, warf ich ein.
„Schwer den Unterschied auszumachen, da die gesamte Standarte aus Metall
gefertigt war“, gab Suena zu bedenken.
„Und der Kreis? War an ihm etwas auffällig?“, hakte Gersilaos weiter nach. Wir
überlegten, kamen jedoch zu keiner Erkenntnis.
„In der Situation war einfach viel passiert“, schloss Suena. „Eine Legion, die
auf uns zumarschierte, Krieger aus den verschiedensten Zeiten. Und dann haben
sich zwei unserer Freunde auch noch gegen uns gewandt.“
„Ein Ärgernis“, befand Gersilaos, klang allerdings nicht vorwurfsvoll. „Aber
vielleicht können wir mit einigen Hypothesen den leeren Raum unserer Theorie füllen.“
Ich verstand zwar nicht, was der Gelehrte damit sagen wollte, aber er hatte
scheinbar eine Idee und führte uns weiter durch die Geschichte dieses Landes.
Er förderte einen Brief zutage, in dem eine Standarte beschrieben wurde, die
unserer Betrachtung sehr ähnlich war. Ein Adler auf einem Orobor soll es
gewesen sein. Der Orobor war das Zeichen einer Schlange mit zwei Köpfen, die
sich jeweils gegenseitig im Maul hielten. Eine Variante, die sich aus dem
eigentlichen Symbol entwickelt haben soll: der Amphisbeana. Eine Schlange, die
sich selbst in den Schwanz biss. Das Symbol der Dunklen Meister.
In diesem Brief wurde die Standarte als Fälschung bezeichnet, da es keinen
Fürst gebe, der eine solche geführt habe. So wurde die Legion, die dieses
Banner führte, dem Fürstentum Serenea zugeschrieben, was wiederum zu einem
Grenzkonflikt mit Tevarra führte. Dieser Konflikt lag an die vierhundert Jahre
zurück.
„Ich glaube, wir kommen hier an die Grenze dessen, was sich hier recherchieren
lässt. Ich empfehle euch, einen Antrag auf Nutzung der Biblioteca Magea zu
stellen. Den Papierkram kann ich für euch übernehmen“, bot Gersilaos an. Es gab
für uns keinen Grund, das Angebot auszuschlagen. Zudem waren auch wir
mittlerweile geschlaucht. Den ganzen Tag hatten wir in der Bibliothek
zugebracht. Und sosehr ich diese Institution dafür bewunderte, ihr Wissen viel
genauer und praktischer abzulegen als es die mündlichen Überlieferungen unserer
Schamanen waren – irgendwann musste man vor Staub zu husten beginnen.
Auf dem Weg nach draußen kam uns Zedd entgegen, den wir kurz ins Bild setzte,
was es mit der Standarte auf sich haben könnte.
Im Gegenzug berichtete er, was er mit dem Einarmigen noch zu schaffen hatte:
„Ich lief ihm nach, um zu sehen, wohin er so schnell wollte anstatt zu warten.
Allerdings bin ich es nicht gewohnt, unauffällig in den Fußstapfen anderer zu
gehen und er bemerkte mich. Ein rüder Zeitgenosse, das kann ich sagen. Er hat
mich angepöbelt, was ich denn von ihm wolle. Daraufhin habe ich ihm deutlich gemacht,
dass wir ihn nicht mehr sehen wollten. Wichtige Recherchen wie die unseren
dürften nicht gestört werden. Da hat er sich auch schon aus dem Staub gemacht.“
„Gut gemacht“, sagte ich und gluckste. Der Priester konnte ja richtig
aufbrausend werden.
Im Gasthaus bestellten wir uns zunächst eine ausgiebige
Mahlzeit und etwas Gescheites zu trinken. Nach dem Essen wandte sich Suena an
Artos, der uns zusammen mit seiner Kröte begleitet hatte: „Dieser Fürst Sabados
auf deiner Schulter … ist er ein Vertrauter von dir?“
„Ein was?“, sagte Artos zunächst, antwortete aber dann: „Fürst Sabados ist
einfach nur ein Freund von mir. Ein Begleiter auf meinen Reisen. Wir Druiden
neigen nicht dazu, uns Tiere dauerhaft untertan zu machen.“
„Hat die Legion dich eigentlich auch angegriffen?“, fragte ich und hoffte,
damit auf ein spannenderes Thema jenseits ermüdender Beleherungen zu kommen.
„Ja, ich habe versucht, meinen Freund aus ihrem Bann zu befreien. Es hat
allerdings leider nichts genutzt.“
„Und mit was hast du gekämpft?“ Einen kurzen Blick seine geringe Körpergröße
auf und nieder konnte ich mir nicht verkneifen.
„Ich habe da so meine Möglichkeiten“, grinste der Gnom listig. Ich war kurz
davor, über diese Nichtaussage zu klagen, da schob Artos nach: „Es gelang mir,
einige der Legionäre mithilfe belebter Pflanzen in die Flucht zu schlagen. So
konnte ich meine Unterzahl so lange kaschieren, bis sich die Truppe ohnehin in
Luft aufgelöst hatte. Aber für die ganze Truppe hätte es natürlich ohnehin
nicht gereicht.“
Lebende Pflanzen klangen äußerst interessant. Fast wünschte ich mir, gemeinsam
mit Artos in einen Kampf zu geraten, um das in Aktion zu erleben. Wir tauschten
noch einige Geschichten mit ihm aus, was unsere jüngsten Reisen und Probleme
anbetraf. Artos machte einen schrulligen Eindruck, allerdings war er allein
wegen unseres gemeinsamen Schicksals dieser Zeitstrandung ein möglicher
Verbündeter bei unseren weiteren Aufgaben. Zudem hatte er in der Tat einiges
Wissen, das ihm seine druidischen Fähigkeiten vermittelt zu haben schienen:
„Die Weltenlinien sind in Aufruhr, könnte man sagen. Sie schwingen stark,
manche wirken sogar verzogen. Das Zentrum dieses ganzen Chaos scheint in
Chryseia zu liegen. Dort liegt vielleicht die Antwort auf alles, doch zunächst
gilt es, das aktuelle Problem zu lösen, vor dem wir stehen.“
Suena horchte sichtbar auf – eine seltene Reaktion ihrerseits. Doch dass der
Gnom dieselben Informationen wie ihre Meisterin hatte, schien ihre
Aufmerksamkeit zu wecken.
Am nächsten Morgen erwartete uns in der Magiergilde ein
aufgeregter Gersilaos, der uns sogleich in sein Büro zog. Er eröffnete uns,
dass unser Antrag auf Recherche in der Biblioteca Magea genehmigt wurde. „Das
ist jedoch noch nicht alles. Ich habe dort bereits weiter zu den stymphalischen
Vögeln nachgeforscht. Ein Dunkler Meister namens Zelotis Leukipos soll sich
dieses Untier zur Wappenkreatur erwählt haben. Ein Dämonenbeschwörer wie sie
alle. Ich hoffe, dass diese Symbolik nur zufällig ist. Zelotis Leukipos soll
einer der engsten Verbündeten ihres Obersten gewesen. Von Rhadamanthus“,
erklärte Gersilaos.
„Was ist aus ihm geworden?“
„Er ist wahrscheinlich beim Untergang von Thalassa mit den anderen Dunklen
Meistern gefallen. Ein schreckliches Unglück für die Stadt, aber ein
glückliches Ende für den Krieg.“
„Wie lange ist all das her?“, fragte Artos.
„Etwa siebenhundert Jahre.“
„Eine lange Zeit! Was könnte ein solches Symbol bei uns suchen?“
„Das hoffe ich nun mit euch in der Biblioteca Magea erkunden zu können.“
Nach diesen Worten führte uns Gersilaos in einen Bereich, der hinter der
eigentlichen Bibliothek lag, zum Teil sogar unterirdisch. Unsere Berechtigung
wurde von Männern in Roben geprüft, an deren Gürteln auch noch Rapiere hingen.
Kampfzauberer, möglicherweise. Aber die Begleitung eines hiesigen Gelehrten
half uns wohl deutlich. Und dann betraten wir die steinerne Halle, welche die
Biblioteca Magea beinhaltete. Bläuliches Licht erhellte Regale, das Mal aus
Kristallen zu leuchten schien, mal wie aus der Luft selbst wirkte. Wie bei
Zedds Zauberei. Oder Gebet. In den massiven Regalen standen uralte Bücher, die
beim Ansehen fast zerfielen. Dazwischen waren immer wieder neuere Bände zu
sehen – Kopien, wie es schien. Ein dutzend Schreiber hockten mit verbogenen
Rücken an verschiedenen Tischen in dem Saal. Vor sich ein altes Manuskript und
daneben frisches Pergament, auf das sie sorgfältig alles kopierten. Als wäre
ihre Situation nicht schon traurig genug, wurden sie auch noch von einem
Aufseher betreut, der genau darauf zu achten schien, dass sich kein Fehler bei
einer Kopie einschlich. Wir konnten gerade noch sehen, wie ein Schreiber beinah
unter Tränen ein nahezu voll beschriebenes Pergament unter den erbitterten
Augen seines Vorgesetzten zur Seite legte und das Kopieren neu begann.
Gersilaos führte uns zu einer Lesenische, die in die Wand eingelassen war. Er
brachte uns ein altes, in dunkles Leder eingebundenes Buch, aus dem er uns
verschiedene Ausschnitte vorlas. Zunächst schloss er an den Bericht an, dass es
sich bei Zelotis Leukipos um einen der Dunklen Meister handelte, ehe er den
Kopf hob und verschwörerisch zu uns hinüberflüsterte: „Eines sollte ich euch
noch dringend anraten: Dies sind Fragmente der Thalassa-Texte. Überreste aus
den Schriften der Dunklen Meister selbst, vor ihrem Sturz. Jede Information
hieraus ist möglicherweise gefährlich. Das ist nichts, womit ihr in einem
Gasthaus angeben solltet. Eigentlich ist das nichts, worüber man überhaupt
jenseits dieser Hallen ungestört sprechen sollte.“
Bei den letzten Worten blieb sein Blick an etwas hinter mir hängen und ich
drehte mich um. Tatsächlich stand der einarmige Mann dort an einem Regal und
fuhr scheinbar suchend über die Buchrücken.
„Folgt mir“, sagte Gersilaos und führte uns in ein Hinterzimmer, das ebenso
unterkühlt wirkte wie der Rest der Biblioteca. Dort brüteten wir weiter über
den Thalassa-Texten. Mara, Zedd und Artos fragten immer wieder zu bestimmten
Theorien nach, die Gersilaos aufstellte, während Mara und mir wenig übrig
blieb, außer auf verschiedene Elemente unserer bisherigen Beobachtungen zu
verweisen. So suchten wir dann auch weiter der Amphisbeana, die sich als Symbol
der Dunklen Meister verstehen ließ – und deren formulierten Herrschaftsanspruch
über die Elemente und die Dämonen. Schließlich soll ein Dunkler Meister namens
Skopa Vidalat die Amphisbeana als Darstellung für die Zeit genutzt haben. Ein
Kommentar aus einem der Bücher war dazu, dass die Überladung des Symbols mit
Bedeutung auch sinnbildlich für die Dekadenz und Ausschweifung der Magokratie
des Seemeisterreiches war. Immer wieder musste ich nachfragen, wie genau das
eigentlich alles war. Krieg der Magier, Seemeister alles irgendwann mal gehört,
mal geflüstert, mal nichtsahnend. Letztendlich der Bürgerkrieg zwischen
denjenigen Beschwörern des alten Seemeisterreiches, die Dämonen zur
Herrschaftssicherung einsetzen wollten, und jenen, die dazu nicht bereit waren
– die Grauen Meister. So erklärte es mir Gersilaos in einer Nebenbemerkung, als
sei das selbstverständlich. Letztere schienen dabei wohl die „Guten“ gewesen zu
sein, auch wenn ich mich insgeheim ketzerisch fragte, ob die Dunklen Meister
nicht nur eine bessere Strategie hatten. Angesichts der Verheerungen, die sie
mit ihren Beschwörungen ausgelöst hatten, relativierte ich diese Überlegung
allerdings schnell.
Skopa Vidalat schien sich jedoch als interessantes Teil in unser großes Rätsel
einzufügen. Seine Studien hatten sich wohl intensiv mit der Zeit beschäftigt –
und sein Tod war nicht gesichert. Man vermutete, dass er beim „Fall des
Kerkers“ nahe eines kleinen Örtchens namens Oktrea ums Leben gekommen sei.
Allerdings konnte man das nicht sicher sagen. Ich fragte, ob es nicht möglich
sei, dass dieser Dunkle Meister durch die Zeit reist, um sich eine neue Armee
aufzubauen. Was allerdings nicht unbedingt zur These passte, dass die Standarte
zu Zelotis Leukipos gehört haben mochte. Und überhaupt, sei das eine sehr weit
gewagte Spekulation, befand Gersilaos. Dennoch begann er, unruhig auf einem
Stuhl hin und her zu rutschen.
Nach ein paar Stunden gingen wir wieder in die Leseecke im
Hauptsaal. Der Einarmige war mittlerweile verschwunden. Allerdings merkten wir
bald, dass wir erneut Aufmerksamkeit auf uns zogen. Ein Mann mit gelblicher
Hautfarbe trottete zwischen den Regalen hindurch. Er hatte einen großen
Strohhut auf und trug auf rechts eine Augenklappe, in einer Hand einen
schwarz-gelb gestreiften Stock – und hatte eine Ziege dabei. Und er machte
keinen Hehl daraus, dass er unsere Nachforschungen interessant fand. Zedd ging
zu ihm hinüber und sprach kurz mit ihm, worauf der Mann sich verzog. Zedd
erklärte uns: „Er hat sich als KunDe vorgestellt, aus PenLai in KanThaiPan. Er
scheint an ähnlichen Dingen interessiert zu sein wie wir, daher habe ich ihn
für heute Abend zu uns ins Gasthaus eingeladen. Vielleicht kann man sich
gegenseitig helfen.“
„Nicht vergessen“, mahnte Mara. „Unsere Informationen sind möglicherweise
gefährlich. Wir sollten nicht allzu schnell einem Fremden vertrauen, nur weil
er uns Informationen anbietet.“ Ihr Blick streifte dabei auch Artos, der jedoch
ungerührt standhielt – gar seine kleine Gnomenbrust etwas herausstreckte.
„Keine Sorge“, versicherte Zedd. „Ich werde sehr zurückhaltend sein, was unser
Wissen angeht.“
„Hast du eine Aura bei ihm gespürt?“, fragte Suena. Zedd räusperte sich … und
wandte sich dem gehenden KunDe zu. Kurz schien er sich zu konzentrieren, dann
zog er die Brauen zusammen. „Ich spüre eine dämonische Aura bei ihm. Das ist
nicht gut.“
„Hast du darauf geachtet, ob es sich bei den Verursacher um die Ziege handelt?“
„Die Ziege? Warum sollte denn die Ziege…“
„Ich frage ihn heute Abend wohl am besten selbst“, unterbrach Suena Zedd.
Bei unseren weiteren Nachforschungen erfuhren wir noch einiges über die Zeit nach dem Krieg der Magier. Den ganzen Unruhen folgte eine Zeit der Stabilisierung, in dem Küstenstaat Serenea insbesondere vorangetrieben durch den Fürsten Agostin de Serenea. Sein Einsatz für den Frieden wurde in den Schriften hochgerühmt, die Serener ersannen gar eine Legende, nach der ihr Fürst nach seinem Tod von einer „geisterhaften Schar“ in einem eisernen Sarg in die Berge an den Quell des Isada geführt worden sein soll. Als Zeugen standen dafür einige Schafhirten aus der Region zur Verfügung, welche ebenfalls gesehen haben wollen, wie sich der Berg hinter den Männern verschlossen haben soll. Die Legende besagt weiterhin, dass der Fürst sich dann wieder erhebe, wenn dem Land Serenea große Gefahr drohe. Artos horchte jedoch auf, als Gersilaos vortrug, wie der Sarg des Fürsten beschrieben wurde. Das Wappen, das sich darauf befand, solle ein Adler gewesen sein. Darauf hingewiesen entsann sich der Gelehrte einer Reiterstatue, die in Diatrava stand und den Fürsten Agostin ehrte – mitsamt der Familienwappen der Adelsfamilie auf der Brust des Mannes. Ein Löwe mit einem Orobor im Maul und einem Schwert in der Pranke. Größer konnte der Unterschied kaum sein. Irgendetwas an der Geschichte hatte also einen Haken.
Artos und ich beschlossen, dieses Reiterdenkmal unter die Lupe
zu nehmen. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass wir dort etwas fanden – aber
zumindest kamen wir aus der Bibliothek heraus. Auch wenn mich all diese
Bruchstücke auf der Suche nach einer Lösung auf eine etwas verquere Art fast an
das Prickeln einer guten Jagd erinnerte. Der Süden machte seltsame Dinge mit
mir.
Da es ohnehin spät geworden war, brachen auch Zedd, Suena und Mara auf – diese
drei, um KunDe im Gasthaus zu treffen und herauszufinden, was dieser KanThai
vom anderen Ende der Welt hier wollte.
Das Reiterdenkmal zeigte den Fürsten in einer Prunkrüstung mit
dem beschriebenen Wappen auf der Brust. Die Gestalt war aus Kupfer gefertigt
worden, das mittlerweile ganz schön grün aussah. Das sei der Grünspan, wie mir
Artos erklärte. Ohne die herumlaufenden Bürger zu verstören, suchten wir nach
geheimen Druckknöpfen oder dergleichen, die vielleicht ein Geheimnis im Denkmal
zum Vorschein brachten. Wir fanden nichts. Auf einer Platte waren lediglich
noch der Name und das Todesjahr des Fürsten vermerkt. Letzteres war das Jahr 1649,
wie uns ein Bürger freundlicherweise vorlas. Lange her.
Schließlich sahen wir ein, dass das Denkmal einfach nur ein Denkmal war und
kehrten zum Gasthaus zurück. Dort fanden wir unsere drei Freunde jedoch alleine
vor. „War KunDe noch nicht hier?“, fragte ich verdutzt in die Runde.
„Doch“, sagte Zedd etwas mürrisch. „Aber es ließ sich ihm nicht viel
entlocken.“
„Du hast aber auch nicht viel gesagt“, warf Suena ein.
„Zurecht, will ich meinen“, sagte Mara. „Wer weiß, was es mit ihm auf sich hat.
Ich hätte ja noch vorgeschlagen, ihm zu folgen, allerdings versteht sich keiner
von uns besonders gut auf Unauffälligkeit.“
„Und die Ziege?“, fragte Artos neugierig.
„Er sagte, es sei ein Haustier. Ich vermute allerdings, dass das Tier sein
Vertrauter ist und KunDe ein Hexer“, erklärte Suena. „Meinen Fragen zu seinem
Lehrer wich er jedoch aus.“
„Da habt ihr ja was gemeinsam“, brummte ich. „Und was machen wir jetzt?“
„Bei den Recherchen hier in der Bibliothek kommen wir an unsere Grenzen. Aber
der Mythos von einer geisterhaften Schar, die zum Quell des Isada gereist sein
soll, erinnert an die Legion, auf die wir getroffen sind. Möglicherweise finden
wir beim Grab des Fürsten Antworten“, schlug Suena vor.
„Vielleicht stimmt sogar der Mythos und er ist derjenige, der uns gegen die
Legion helfen kann“, überlegte Mara. „Allerdings klingt das nach einer sehr
menschlichen Geschichte. Wahrscheinlich ist da nichts dran.“
„Mehr haben wir im Moment nicht. Entweder wir finden dort an der Quelle etwas,
das uns weiterbringt, oder wir müssen wieder zurückkehren. Im schlimmsten Fall
verlieren wir sechs bis sieben Tage. Im besten Fall finden wir eine Antwort,
wie dieser Mythos mit den Dunklen Meistern zusammenhängt und dieser Legion, die
unsere Freunde entführt hat.“
„Und dem Chaos in den Weltenlinien. Mit der Zeit überhaupt“, setzte Artos
hinzu. Ich nickte. Mara schwieg etwas verhalten, brachte aber keine Einwände
vor. Zedd schloss sich dann auch der Idee der Feldforschung an und damit war es
ausgemacht.
Am nächsten Tag setzten wir Gersilaos über unsere Pläne in
Kenntnis. Er stimmte zu, dass das wohl die beste Wahl sein mochte und konnte
uns noch die Kopie einer Karte von der Gegend verschaffen. Damit legte er uns
auch nahe, auf Pferde zu verzichten. Bis zum Ursprung der Quelle würden wir
wohl nicht mit ihnen kommen können. Also packten wir unsere Sachen so, dass wir
sie als Reisgepäck schultern konnten, holten uns genug Proviant für die Reise,
die bis zur Quelle zunächst drei Tage dauern sollte. Und schon waren wir wieder
auf der Straße, Richtung Süden.
Der Isada war ein großer Fluss, an dem entlang sich zunächst einiges der
Zivilisation in Serenea entfaltete. Mit dem Aufstieg in Richtung der Berge,
verloren wir aber auch mehr und mehr das Meer aus den Augen – und die
Besiedlung wurde dünner. Jenseits des Isada wurde das Land hier rasch karger
und vor allem von wild wuchernden Pinien beherrscht. Am Mittag des dritten
Tages erreichten wir schließlich ein kleines Dorf, das wohl die letzte Enklave
der Menschen vor der Quelle war. Die ersten Menschen, die wir hier ansprachen,
verstanden sogar das geläufige Vallinga nicht und Suena musste Neu-Vallinga
sprechen. Sie fragte für uns nach einem Ortskundigen und wir wurden an den
Jäger verwiesen – der dann auch die Handelssprache verstand.
„Wie kann ich euch helfen?“, fragte der mittelalte, etwas unscheinbare Mann.
„Ich bin Klaves Aretan, Jäger dieses kleinen Ortes.“
„Seid gegrüßt. Wir sind Reisende und kommen aus Richtung Diatrava. Wir wollen
zum Quell des Isada reisen.“
„Dann müsst ihr am Wächterfelsen vorbei. Ein hoher Berg, der auf dem Weg liegt.
Dahinter liegt dann irgendwo die Quelle.“
„Ihr wart noch nie dort?“
„Dort oben gibt es nicht viel Wild“, sagte Klaves.
„Würdet Ihr uns begleiten? Als Ortskundiger, der uns führen könnte?“
„Sicher … wenn ihr im Gegenzug mir helft.“
„Was können wir für Euch tun?“
„Ein Freund von mir ist in den Bergen verschollen. Andonio ist seit ein paar
Tagen dort oben und allmählich wird es selbst für einen erfahrenen Jäger wie
ihn beunruhigend, dass er so lange fort ist.“
„Dann helfen wir uns doch gegenseitig. Ihr führt uns durch die Berge – und wir
helfen euch, Andonio zu finden“, schlug Suena vor. Klaves nickte und räumte
rasch einige Sachen zusammen. Er nahm allerdings kein Zelt mit, wie uns
auffiel. Mara fragte nach,
woraufhin er erklärte: „Vor dem Abend werdet ihr die Quelle erreichen können.
Bis ganz nach oben werde ich euch aber nicht folgen und ich hoffe, Andonio
vorher gefunden zu haben.“
Das klang für unser Vorhaben zunächst vielversprechend und so machten wir uns
auf den Weg. Mit Klaves an der Spitze liefen wir weiter den Isada hinauf, der
sich an dieser Stelle mittlerweile tief in den Fels gefressen hatte. Der Fluss
hatte hier nicht mehr viel von der Breite in seiner Mündung, wirkte aber
wilder. Der Weg an ihm entlang führte uns geradewegs auf eine hoch aufragende
Felswand hinzu. Wir kamen näher und erblickten schließlich hinter den
davorstehenden Bäumen, dass ein großes, an die zwei Meter durchmessendes Symbol
als Relief auf dem Fels prangte. Abgebildet war eine Schlange, die sich selbst
in den Schwanz biss – eine Amphisbeana.
Kaum hatten wir das düstere Symbol erblickt, schossen violette Blitze aus den
Augen der Schlange auf uns zu. Wie magisch angezogen, preschten sie auf meinen
Langbogen und den Ring an meiner Hand, auf Suenas Rucksack und weitere
Gegenstände von uns zu. Einen Moment später war es auch wieder vorbei. „Was war das?“, rief ich, während ich mir den
elfischen Langbogen besah. Er schien unbeschadet. Auch hatte ich keine Hitze
oder etwas anderes gespürt, als er der Blitz eingeschlagen war. Ebenso wenig an
meinem Ringfinger.
„Das Symbol hat auf unsere magischen Gegenstände reagiert“, stellte Suena fest.
„Aber ich glaube, alles ist heil geblieben.“
„Das ist der Wächterfelsen“, sagte Klaves, der einen etwas größeren Abstand zu
uns eingenommen hatte. „Aber das habe ich ihn noch nie tun sehen.“
Doch noch ließ sich der Jäger nicht beirren und führte uns weiter. Wir ließen
den Wächterfelsen rechts von uns liegen und kamen zu einer Flussgabelung. Der
Isada wurde hier noch einem weiteren, kleinen Fluss gespeist. Als wir diese
Kreuzung erreichten und gerade weiter hinauf wollten, hörten wir plötzlich
wunderschönen Gesang, getragen von zwei Stimmen. Ihr Echo hallte von dem
Flusszulauf her. Klaves blinzelt irritiert, dann wandte er sich an uns: „Das
ist Andonio, der da singt!“
„Und die Frauenstimme?“
„Ich habe keine Ahnung.“