Der Eispalast (oder: “Hol den Cirdor raus!”)

Miyako holte noch drei Eispickel, um uns mögliche Kletterpartien zu vereinfachen, ehe wir aufbrachen. Auch die Mannschaft verließ das Boot – vor allem, um zum Eiswall hinüberzumarschieren. Die festgefahrenen und teilweise wie Nussschalen aufgebrochenen Schiffe hingen dort zwischen den frostigen Zinnen, in den Augen der Waelingern gleich reifen Früchten, die sie nur ernten mussten. Zweifelsohne lagen dort noch einige Reichtümer in den Händen lange erfrorener oder verhungerter Menschen.

Aber unser Weg führte uns zum gewaltigen, in die Höhe ragenden Turm aus Eis. Umrankt wurde er von wilden zyklopischen Eiszacken, welche ohne feste Anordnung in jegliche Richtung wiesen und damit die gestrenge Bauform aufbrach. Es verlieh dem Gebilde eine fremdartige Form, die durch sein unnormales Material noch unterstrichen wurde.

Um den unteren Bereich des Turmes herum verlief eine Art Rampe, die nach einmaligem Umschlingen des gewaltigen Gebäudes zu einer Öffnung führte. Da wir dem Eis nicht trauten, bildeten wir zunächst eine Seilschaft. Ricardo murmelte auch etwas von einer ungewöhnlichen Steigung, die stärker war, als man es durch die Spiegelungen erkannte – woraufhin Miyako als erste voranschritt und einen Eispickel zur Hilfe nahm. Die prophezeite Steigung entpuppte sich jedoch als recht gering, sodass die KanThai bald auf den zusätzlichen Einsatz des Kletterwerkzeugs verzichtete.

Körperlich unbeschadet, wenngleich von den gewaltigen Dimensionen des Eisturms schwer beeindruckt, erreichten wir über die Rampe die große Öffnung. Furchtlos trat Miyako durch den Schlund und wir folgten ihr sogleich – es gab kein Tor oder eine andere Barrikade, die für das Auge zunächst ersichtlich gewesen wäre.
Als wir eintraten, erscholl plötzlich eine Stimme in unseren Köpfen: es war eine Frauenstimme, die sich einer alten, mir unverständlichen Sprache bediente. Allerdings erkannte ich den Klang wieder: es handelte sich um die ausgestorbene Maralinga aus der Zeit des Valianischen Imperiums.

Ricardo verstand diese Sprache glücklicherweise und ebenso scheinbar Nicola, der nickte, nachdem die Frauenstimme verstummte. Fragend blickte ich zu ihnen hin, wobei zunächst festzustellen war, dass Ricardo durch die Worte wohl hochmotiviert worden war: er legte das Seil ab und reagierte zunächst gar nicht, während er den vor uns liegenden Raum abschritt.
Dieser war, gemessen an der unfassbaren Größe des Turms, recht klein. Mehr jedoch fiel seine karge Ausstattung aus: lediglich an den drei Wänden hing jeweils zentral eine Art Griff, ansonsten war die Eingangshalle leer. Während Ricardo sich diese Vorrichtungen anschaute murmelte er beiläufig: „Uns erwartet eine große Belohnung! Wir sind Helden… wir müssen nur nach ganz oben…“
Wenngleich das wie wahnhafte Phantastereien klang, schien mir Ricardo gänzlich bei Verstand. Allerdings hatte es wohl durchaus hübsche und reizvolle Versprechungen in den Worten der Frau gegeben, die sich mit uns in Kontakt gesetzt hatte. Fragend blickte ich zu Nicola, welcher nur die Achseln zuckte: „Stimmt schon, was er sagt. Wir sollen zur Spitze des Turms.“

Der Schlüssel dafür schienen zunächst die drei Griffe zu sein, welche sich inmitten verschnörkelter Verzierungen befanden, die die gesamten Wände überzogen. Es waren fremde Symbole, unerkenntliche Formen und vor allem schienen sie mehr Spielereien zu sein, als ausdrucksstarke Kunst – oder ihr Sinn offenbarte sich nur jenen, die vor mehr als tausend Jahren gelebt haben.
In der Manier eines gewissen Waelingers ging Ricardo auf den erstbesten Griff an der Wand zu und zog daran. Er ließ sich etwas heranholen – doch es geschah Nichts. Der Küstenstaatler eilte sogleich zum nächsten Wand. Als er am zweiten Griff zog, war der erste bereits wieder in die Wand eingesunken. So geschah es auch, als Ricardo den dritten Griff herauszog. Ziemlich offensichtlich schien ein Einzelner nicht auszureichen und der Küstenstaatler machte eindeutige Gesten, dass wir ihm helfen sollten.
Ich zog mich zur Pforte zurück, während Miyako und Nicola an jeweils eine Wand gingen und sich bereit machten, im Gleichklang an den Griffen zu ziehen.
Die drei zogen – und der Boden klappte unter unseren Füßen weg.

Das Einknicken geschah nicht gleichmäßig, sodass sich eine Art Pyramide bildete, an der wir in jeweils eine andere Richtung herunterglitten. Es war sehr steil, verständlicherweise kalt und nach den ersten Metern äußert duster. Meine Bahn verlief in einer Kurve, doch ich prallte zunächst gegen eine Wand, zuvorderst mit einem unkontrolliert gestreckten Bein. Mein Knie knirschte und ich hörte das Klirren von Glas in meinem Rucksack. Fluchend wurde ich weiter geschleudert, traf auf etwas Weiches… und dann rollte ich aus und die Sturzpartie war am Ende.
Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es dauerte umso länger, da der widerliche Schmerz in meinem zerknirschten Knie stechend durch mein Bein zog. Dann erkannte ich zunächst, was der weiche Körper gewesen war, den ich getroffen hatte: Ricardo! Und als ich mich umsah erkannte ich, dass unsere Rampen zusammengeführt worden waren. Von den anderen beiden fehlte allerdings jede Spur.
„Ricardo, ich bin es, Ilfarin. Warte, ich entzünde eine Fackel, dass du auch etwas siehst“, sagte ich zu meinem menschlichen Begleiter und sorgte sodann für mehr Licht. Der Küstenstaatler nahm die Fackel entgegen und ich sprach heilende Worte, welche meine Kniescheibe einigermaßen gerade rückte. Anschließend schiente ich das Bein und ich konnte mich wieder einigermaßen bewegen. Indes sah Ricardo sich etwas um und bemerkte den einzigen Ausgang: ein kleiner Gang vor uns.

Wir sahen noch kurz nach unseren Trünken, deren Glas glücklicherweise den Sturz überstanden hatte, dann gingen wir los. Es war ein kurzer, recht enger Gang, den wir entlangliefen… da bewegte sich plötzlich die Wand zu unserer rechten Seite. Verblüfft hielt Ricardo die Fackel hin, nur um sie schnell zurückzuziehen – sonst wäre sie womöglich nass geworden. Das Eis schmolz an dieser Stelle mit einem Mal rasant weg und offenbarte den Blick auf einen langen, aber überfluteten Gang.                 Sogleich spürte ich eine Vibration aus meinem Rucksack und erahnte sogleich, was es sein mochte: ich holte die Bernsteinrose hervor.
„Was dort wohl verborgen liegt?“, wunderte sich Ricardo.
Ich umschloss indes die Rose mit beiden Händen und schloss die Augen… ein langer Gang, eine Treppe und die Tiefe. In der Ferne ein blaues Flackern…
„Ich hatte eine kurze Vision“, sagte ich, als ich meine Augen nur einen Moment später wieder aufschlug. „Eine ferne Treppe, am Ende eines langen Ganges. Und dahinter ein blaues Licht.“
„Was hat das gemacht?“
„Nun… blau geleuchtet.“
„War das dieser Gang hier?“, hakte Ricardo nach.
„Ich bin mir nicht sicher… aber mit ziemlicher Sicherheit erwartet uns hier eher ein eisiges Grab“, mutmaßte ich vergleichsweise zynisch. „Bei diesen Temperaturen würden wir nicht sonderlich lange im Wasser überleben.“
Ricardo schnalzte mit der Zunge, zuckte die Achseln und ging dann weiter. Ich folgte ihm hintendrein und nach nur wenigen Metern erreichten wir einen etwas größeren Raum.

Der Raum war kreisrund und wurde von vier Säulen gestützt, wenngleich ich den Eindruck hatte, diese könnten auch rein ästhetischer Natur sein. Die Vorstellung, dass dieser Eispalast gewöhnlichen Gesetzen der Schwerkraft gehorchte, erschien mir absurd. Doch noch bevor ich weiter meinen angegriffenen Verstand an diesem gewaltigen Gebäude aufrieb, fiel der Blick zwangsläufig auf eine fünfte, halbhohe Säule in der Mitte des Raumes. Mehr wie eine kleine Stele trug sie ein Becken, aus dem eine eisige Spitze hervorragte. Sie wirkte beinah wie eine Dolchspitze mit nahezu durchsichtigen Kanten, so scharf schien das Eis zugearbeitet. Am Grunde des Beckens, um die Spitze herum, lagen wahllos vier Edelsteine in hellblau, türkis, orange und rot.
Es gab keinen Ausgang aus dem Raum.

„Nun, dann wollen wir mal“, murmelte Ricardo entschlossen und nahm die Edelsteine an sich. Es geschah Nichts, auch wenn ich bereits auf das nächste Unheil gewartet hatte. Wie einem kleinen Kind nahm ich dem Küstenstaatler die farbigen Steine ab und versuchte sie am Grund des Beckens in eine bestimmte Reihenfolge zu legen. Es schien, als würden sie wahllos umherrollen, ohne sich an bestimmten Plätzen festzumachen. Dieser Ansatz schien nicht zu fruchten und so packte Ricardo die Edelsteine schlicht ein.
„Zerschlagen wir die eisige Dolchspitze?“, fragte er sodann, als wäre es das Naheliegende.
„Was? Nein! Wer weiß, wofür wir sie brauchen. Oder was du damit auslöst.“
„Dann wollen wir zurückgehen?“
„Durch den Tunnel mit dem Eiswasser? Wohl kaum.“
„Ach, weißt du was…“, murmelte Ricardo und zog einen Handschuh aus. „Es wäre doch typisch, wenn dieses Becken Blut fordert!“
Verblüfft blickte ich ihn an und meinte: „Nur zu“, während ich einen Schritt zurückmachte. „Das könnte funktionieren.“

Sogleich führte Ricardo vorsichtig einen Finger an die Spitze des Dolches… und tippte leicht dagegen. Die Eisklinge musste tatsächlich rasiermesserscharf sein, denn sofort quoll Blut aus dem Finger hervor und tropfte den Frostdolch hinab in das Becken.
Auf der uns gegenüberliegenden Seite des Raumes ging ein Ruck durch die Wand und ohne ein Geräusch schmolz das Eis, um uns den Weg frei zu geben. Ich nickte Ricardo anerkennend zu und wir schritten den neuen Pfad entlang. Er war ebenfalls nicht lang und wir erreichten einen weiteren kreisförmigen Raum, ein gutes Stück größer, als der vorherige. Und wir hörten Schritte und sahen Licht!

Der Raum wirkte wie ein Abbild des vormaligen und bei dem Becken in der Mitte, das diesmal deutlich größer war und mitsamt der Stele auf einem niedrigen Podest ruhte, standen Miyako und Nicola. Die beiden unterhielten sich gerade, als wir hinzukamen. Sie bemerkten uns und erfreut begrüßten wir einander.
„Wie ist es euch ergangen? Braucht noch jemand Versorgung?“, fragte ich, wobei ich demonstrativ auf mein geschientes Bein wies.
Die beiden schüttelten den Kopf, dann setzte Nicola an: „Nach dieser Eisrutsche habe ich einen Raum gefunden mit einer Schale und einem seltsamen Zacken. Nun, den habe ich zerbrochen…“
Ricardo grinste dabei breit und meinte: „Ha, wären wir zwei zusammen unterwegs gewesen. Der Elf wollte nicht, dass ich rabiat werde.“
Ich schmunzelte und forderte Nicola dann auf, weiter zu erzählen.
„Also, mit einer Faust hart wie Stein habe ich das Eis zerschlagen, allerdings hat sich dabei wenig getan. Mit einigen weiteren Zaubern wurde ich auch nicht schlauer daraus, aber als ich mir die Trümmer näher ansehen wollte… nun, ich schnitt mich und der Weg war frei.“
„So lief es bei uns auch ab“, erklärte ich und Ricardo ergänzte: „Und da war noch ein langer Gang voller Wasser. Wo auch immer der hinführt, vielleicht der Notausgang.“
„Miyako, wie war es bei dir? Auch ein Blutopferritual?“
„Nein. Ich kam an eine Pforte und hörte eine seltsame Stimme. Sie sprach von den Splittern des Lichts, welche uns den Weg freigeben würden. Aber sie warnte auch davor, Fehler zu machen oder zu scheitern. Dann dachte ich daran, dass die Pforte aufgehen sollte und sie ging auf.“
„Dann ist das Rätsel wohl für uns alle gemeinsam bestimmt…“, meinte Nicola und warf einen Blick auf die Schale, um die wir herum standen. Tatsächlich handelte es sich eher um ein Podest, in das vier Vertiefungen eingelassen worden waren. Neugierig holte Ricardo die Edelsteine heraus und hielt sie vorsichtig an: sie passten von der Form her.
„Oh, solche lagen auch in meiner Schale!“, rief Nicola aus und eilte rasch in seinen Raum zurück. Nur kurz später war er wieder da und zeigte einen dunkelblauen, einen gelben, einen grünen und einen violetten Edelstein. „Splitter des Regenbogens…Splitter des Regenbogens“, überlegte er weiter. Mir kam das Rätsel indes entfernt vertraut vor, als hätte ich es bereits einmal gehört… zu einer Zeit, die so weit entfernt war, dass es sich wie ein anderes Leben anfühlte.
„Ein Regenbogen!“, rief Nicola dann aus. „Wir müssen die Farben so anordnen, wie es bei einem Regenbogen der Fall ist.“

Sodann überlegten wir etwas, probierten… und die Steine wurden uns um die Ohren geworfen, während sich die Oberfläche mit den Vertiefungen wild drehte. Als sie wieder stillstand probierten wir es erneut…
Hellblau – Dunkelblau – Violett – Rot – Orange – Gelb – Grün – Türkis.

Einem Blitz gleich entflammten die Edelsteine in einem hellen Licht und die Farbe aus ihrem Inneren strahlte in alle Richtungen davon, wurde im Eis gespiegelt und durcheinander geworfen. Binnen eines Moments wurde die kalte Schönheit des Eisturms in eine achtfaltige Farbenpracht geworfen, welche die kühnsten Königspaläste in den Schatten stellte. Und mehr als achtfaltig: die Farben des Regenbogens spielten miteinander, tanzten gar und warfen neue Kreationen des Lichts durch das Eis – so musste es sein, in einem Regenbogen zu stehen.
Die leichte Erhöhung, auf dem das sich drehende Podest stand, ruckte nun und begann aufzusteigen. Ricardo, der etwas Abstand genommen hatte, sprang rasch nach und so fuhren wir allesamt auf dieser mysteriösen Eisplattform nach oben. Währenddessen entwickelten die Farben um uns herum ein Eigenleben und das Leuchten kam nicht mehr nur von den acht Edelsteinen, die wir in die Passungen eingefügt hatten.

Die Plattform fuhr und fuhr nach oben… bis wir den weißgrau umwölkten Himmel über uns sahen, durch den fahl das Licht der Sonne schien. Doch all das war kein Vergleich zu der Farbenpracht, in der der eigentlich Eispalast nun vor uns lag. Wir befanden uns auf einer großen Eisnadel, die dem Turm wie ein Seitengebäude beistand, und hatten so besten Ausblick auf das Schauspiel: kräftige Farben hinter und in massiven Schichten aus Eis, nicht kakophonisch, sondern wohlscheinend.
Staunend blickten wir uns um, während die Palette mit den acht Edelsteinen zum Stillstand kam. Plötzlich fuhren wir wieder hinab, stoppten, und wieder hinauf. Verwirrt blickten wir uns um, während Miyako wissend grinste: „Man muss daran denken, dass man aufsteigen will – oder hinab. Erst dann bewegt sich die Plattform.“
Um die Konstruktion nicht durch das nun zwangsweise folgende Gedankenwirrwarr zu zerstören, traten wir rasch von der auch hier erhöht vom Boden abstehenden Plattform herunter. Wir waren nun auf dem „Dach“ einer großen Eiszacke, höher als der Haupteingang… doch trennten uns gut und gerne fünfzig Meter zu dem Eisturm selbst…

Da wirkte es, als würde ein schillernder Kristall aus dem Palast herausbrechen und in unsere Richtung stürzen… erst langsam erkannten wir in dem Formen verschleiernden Farbenwirrwarr, welches das durchsichtige Eis verschwimmen ließ, dass eine Brücke für uns entstand!
Sobald das kristallin wirkende Konstrukt uns erreicht hatte, seilten wir uns aneinander an und machten uns auf den Weg über die phantastische Brücke. Sie war glücklicherweise recht breit, denn ihr fehlten jegliche Sicherungen zur Seite hin… und aus mehr als fünfzehn Metern Höhe wollte keiner von uns auf die gefrorene Oberfläche stürzen.

Es war windstill und das Eis bei diesen Temperaturen fest, sodass wir ohne Zwischenfälle zum Turm hinüber kamen, wo uns eine weitere torlose Pforte erwartete, durch die wir in das verrückte Farbenspiel im Eis eintraten.
Was wir nun erblickten, stellte noch einmal alles Bisherige in den Schatten: einer langer Saal, wie man ihn nur im Palast eines Königs erwarten würde. Links und rechts waren Abteilungen durch kunstvolle Eissäulen geschaffen, welche den Gang hinabliefen. Die Wände, die dahinter lagen waren über und über mit Bildern und Verzierungen versehen, die so kunstvoll aber auch so fremd wirkten, dass sich meine Vorstellung zu drehen begann, als ich sie anblickte. Der Boden indes wies marmorartige Muster auf, war jedoch gänzlich aus Eis, wie alles andere, und leuchtete dazu in satten Farben.
Staunend liefen wir diese Galerie entlang, bis wir etwa an der Mitte des Saals ankamen. Die rückwärtige Wand erblickten wir bereits und keinen Ausgang, aus jenem, den wir durchschritten hatten. Dafür befand sich nun, wohl exakt im Zentrum, eine große Kugel aus halb durchscheinendem Eis, das sich seine kalte Farblosigkeit weitgehend bewahrt hatte. An der Stelle, wo sie stand, konnte man eine kreisförmige Abhebung zum restlichen Boden erkennen… eine weitere Plattform.

„Gleichzeitig?“, fragte ich nur und die anderen nickten. Wir stellten uns zu viert um die große Eiskugel und hielten alle gleichzeitig unsere Hand dagegen. Zunächst geschah Nichts, auch als ich zaghaft daran dachte, dass die Plattform aufsteigen solle. Verwirrt sah ich zu den anderen, die zwar ebenfalls die Hand auf dem Eis hatten, aber nicht mehr als ich zu verstehen schienen. Dann wanderten die Blicke von Nicola, Ricardo und mir zu Miyako hinüber: ihre Augen waren geschlossen und es schien, als würde sie angestrengt nachdenken…
Dann ging ein Ruck durch den Boden unter unseren Füßen und wir begannen nach oben zu fahren. Miyako öffnete die Augen und bemerkte die Blicke, die auf ihr ruhten.
„Ich musste… Fragen beantworten. Worträtsel“, schilderte sie knapp. „Glücklicherweise habe ich keinen Fehler gemacht, denn es erging die Mahnung, Fehler würden Konsequenzen haben.“
„Warum du?“, hakte Ricardo nach.
„Ich war wohl einen kleinen Moment schneller als ihr“, mutmaßte die KanThai, während die Plattform das Ende ihres Aufstiegs erreicht hatte und wir uns nun in einem kleinen Raum befanden, der leer war – von den unendlichen Eisritzungen an der Wand abgesehen. Es gab nur einen schmalen Gang hinaus, den wir sogleich entlang schritten. Natürlich schritt Miyako voran und suchte sorgfältig, ob uns nicht eine Falle entgegengeworfen wurde. Doch inmitten des halbdurchsichtigen Eises, das es schwermachte, Konturen zu erkennen, was noch weiter erschwert wurde durch irrwitzige Farbwechsel, wäre es ein Wunder, wenn man irgendetwas erahnen könnte. Zudem vermochte mit Sicherheit jede Zeichnung an der Wand ein komplexes Thaumagramm uralter Machart zu sein…

Wir erreichten nach wenigen Metern einen nicht viel größeren Raum, durch dessen Mitte eine Wendeltreppe verlief. Es ginge nach oben und nach unten, aber was zunächst interessanter erschien, war die gegenüberliegende Wand: sie war komplett auf ein großes, wuchtig eingeritztes Zeichen ausgerichtet, das ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Die ebenfalls in der Zauberkunde studierten Nicola und Ricardo wussten Nichts damit anzufangen. Es leuchtete in türkis…
„Wollen wir zunächst die Treppen gehen, ehe wir das weiter untersuchen und womöglich etwas auslösen?“, wandte ich mich an meine Begleiter.
„Ja, lasst uns hochgehen! Wir sollen nach oben, da erwartet uns die Belohnung!“, rief Ricardo freudig aus und schritt bereits zu den Stufen hin.
„Lasst uns doch zunächst nach unten gehen. Es wird mit Sicherheit erwartet, dass wir nach oben gehen, also sollten wir uns über einen möglichen Hinterhalt von unten Gedanken machen“, mahnte ich an.
„Ach, das sehen wir dann noch. Da unten geht’s vielleicht raus, also kümmern wir uns erst um den Weg nach oben“, wehrte Ricardo ab und Nicola gesellte sich zu ihm.
„Ich hätte allerdings auch gerne den Rücken frei“, stimmte Miyako mir zu. Entschlossen schritt ich sodann zu den Stufen nach unten… Ricardo und Nicola gingen ohne weitere Kommentare nach oben. So trennten wir uns mehr oder weniger sinnvoll.

Die Treppe führte immer weiter nach unten und jeder Raum glich dem ersten, bis auf eine Ausnahme: es war jedes Mal ein anderes Zeichen und jedes Mal eine andere Farbe – aber immer aus jenem Spektrum des Regenbogens, das wir bereits einmal gelegt hatten. Doch die Reihenfolge wurde hier nicht eingehalten… Miyako und ich schritten immer weiter nach unten, bis sich ein Zeichen wiederholte. Verdutzt blickten wir uns an und ich gab meine übliche Vermutung kund: „Womöglich eine Illusion. Oder eine durch Zauberei endlose Treppe, wer weiß, was hier alles möglich ist.“
„Dann sollten wir umkehren und hoffen, dass wir Ricardo und Nicola wiederfinden“, schlug Miyako vor.

Das taten wir – und ich verfluchte im Stillen, wie viele Treppen wir hinabgestiegen waren. Es ging nun hunderte Stufen hinauf und wir kamen wieder an jenem Zeichen vorbei, das den Raum unseres Eintretens markiert hatte… der Gang, durch den wir hergekommen waren, war jedoch verschwunden! Das konnte unsere Entschlossenheit, dieses neue Rätsel zu lösen, nur verstärken und wir schritten weiter hinauf, bis wir schließlich das Ende der Wendeltreppe in einem Raum erreichten, der sich von allen anderen ebenfalls nur durch das Zeichen und nur durch die in ihm ruhende Farbe unterschied. Es gab keinen Ausgang, aber dafür fanden wir hier Ricardo und Nicola, die es sich gemütlich gemacht und offensichtlich auf uns gewartet hatten.
„Die Treppe scheint endlos nach unten weiterzuführen“, merkte ich an, während ich auch dieses Zeichen mitsamt seiner Farbe auf einen Zettel notierte.
„Ich habe ja gesagt, das bringt Nichts“, merkte Ricardo in seiner üblichen, spöttischen Art an.
„Nun, ich habe Aufzeichnungen gemacht. Der letzte Raum, den wir unten noch erspäht hatten, glich genau diesem hier. Wahrscheinlich ist dies hier“, sagte ich, während ich mein Papier mit den Anmerkungen hochhielt. „eine komplette Abfolge und danach wiederholt sich alles.“
„Du schreibst mit einem Kohlestift? Wie barbarisch!“, bemerkte Nicola.
„Hättest du denn Tinte?“
„Naja, nun…“, stotterte der Magier, während er zu seinem Rucksack blickte, an dessen einer Seite sich ein dunkler Fleck abzeichnete. „Die Rutschpartie ist meinem Tintenfass nicht wohl bekommen.“
„Na also, archaisch, aber wirksam!“, schmunzelte ich triumphierend mit der Zeichenkohle in der Hand.
„Zurück zu unserer Situation bitte“, tadelte Miyako ungeduldig.

Wir beugten uns also alle über meine Niederschrift, ich erklärte kurz die von mir verwendeten Zeichen für die Farben, die ich neben den seltsamen Symbolen aufgeschrieben hatte, und wir versuchten, ein Muster in der Abfolge zu erkennen.

Manchmal erscheinen uns Dinge als Rätsel, welche keine sind. Der Drang, das Unerklärliche zu ergründen, das Chaos nicht stehen lassen zu können. Dies lässt uns immer weiter nach einer Lösung suchen, die wir nicht finden können. Der Verstand beginnt zu sehen und die Augen zu denken. In einem Mahlstrom verwirrenden Rollentauschs wird unklar, was wir erkennen und was wir bloß wünschen, zu erkennen. Ein Muster, eine Logik – denn alles andere scheint sich unserer Vorstellung zu entziehen. Wir sind Geister, die um einen gegenstandslosen Ort kreisen, haben Hände, die zupacken nach etwas, das nie da war. Die Suche bleibt unerfüllt und muss es bleiben. Sie hatte nie ein Ziel, keinen Weg und somit keinen Sinn.
Und wir vermieden endlich den größten Fehler von allem: dem Sinnlosen einen Sinn zu geben.

Wir bogen und schoben, drückten und hofften, rieten und probierten. Wir liefen die Treppen auf und nieder und stellten fest, dass wir nach einem unerklärlichen Rhythmus immer wieder bei unserem Ausgangspunkt ankamen. Es ließ sich nicht feststellen, was die Zeichen, was die Farben bedeuteten. Auch scheiterten wir daran, irgendwie mit den Symbolen interagieren zu können. Schließlich setzten wir uns, physisch wie psychisch erschöpft, einfach auf den Boden.
Dann hörte ich das unablässige Pochen der Bernsteinrose und holte sie hervor. Mit seltsamer Kraft, die mehr meinen Geist, denn meinen Körper drängte, zog sie mich zu einer der Seitenwände…

Inmitten all der wahnwitzigen Verzierungen, die den Raum von seiner Grenze aus zu verzerren schienen, gab es eine Vertiefung. Ich versuchte die Rose einzufügen, doch sie passte nicht. Miyako sah, was ich entdeckt hatte und griff in das Loch hinein… und drückte einen dort versteckten Knopf.
Die Wand vor uns fuhr ohne ein weiteres Geräusch in den Boden. Dies also war das große Rätsel gewesen? Wie mit eingezogenem Schwanz schlurften wir durch den freigegebenen Gang und fanden an seinem Ende einen kleinen Raum. Beherrscht wurde er von einer großen Eiskugel, wie in dem Palastsaal weiter unten. Entschlossen stellten wir uns um sie herum auf… und drückten alle gleichzeitig die Hände dagegen.

Mein Körper erstarrte beinah, während ich eine Stimme in meinem Kopf vernahm: „Dies ist die zweite Prüfung. Antworte ohne Fehler, so wirst du an dein Ziel gelangen. Bist du bereit?“
Ich zog die Hand nicht weg, was als Antwort genügen schien, denn die Stimme sprach erneut: „Es braucht für sich die klare Luft, doch andren lässt das Atmen nicht. Stechend, beißend ist sein Duft, doch spendet’s seit Äonen Licht?“
Heftig zermarterte ich meinen Kopf und brauchte gefühlt eine Ewigkeit, bis ich schließlich zaghaft dachte: „Die Sonne?“
„Falsch!“
Ich erschrak und dachte sogleich, dass es dann Feuer gewesen sein musste… doch was war die Sonne anderes als ein großer Feuerball? Doch noch schien Nichts verloren, denn die Stimme fuhr fort: „Was ist schlimmer als der Tod und besser als die Liebe? Die Toten verzehren es und wenn es die Lebenden essen sterben sie eines qualvollen Todes.“
Dieses Rätsel war mir bekannt und ich brauchte nicht lange, um mich wieder an die Antwort zu erinnern: „Nichts!“
„Was nagt ohne Zähne und läuft ohne Beine, allein Tote besiegen diese eine?“
Diesmal war es mir eher, als kenne ich ein ähnliches Rätsel und schließlich erklärte ich: „Die Zeit.“
Und so setzte die Stimme zum vierten Rätsel an – und ich hoffte, dass ich zum dritten Mal richtig liegen würde.
„Was kommt einmal in einer Minute, zweimal in jedem Moment und doch niemals in tausend Jahren vor?“
Auch dieses Rätsel war mir bekannt – und ich hatte es beim ersten Mal nicht lösen können. Es benötigte zwingende Kenntnisse des valianischen Alphabets und darüber hinaus einen etwas verqueren Lösungsansatz: „Der Buchstabe ‚M‘.“
„Du hast weise geantwortet. Schreite nun voran, Held“, sprach die Stimme ein letztes Mal und entließ mich aus der Herausforderung.

Erleichtert atmete ich aus und wir stiegen auf – irgendjemand der anderen musste daran gedacht haben. Die anderen schienen bemerkt zu haben, dass diesmal ich auserkoren wurde und nickten mir nun anerkennend zu. Miyako schien etwas neidisch, offensichtlich bereiteten ihr diese Worträtsel ein großes Vergnügen. Ich war im Moment nur froh, kein Unheil auf uns herabbeschworen zu haben.
Die Plattform fuhr mit ihren Passagieren weiter nach oben, bis wir schließlich in einem weiteren Palastsaal ankamen. Aus Eis, farbgewaltig – und es gab eine weitere Kugel auf einem leicht erhobenem Podest in der Mitte dieser Halle. Auf dem Weg dorthin fielen wieder die wild verzierten Muster an der Wand auf, die nun, nachdem sie einmal ein Geheimnis preisgegeben hatten, noch mysteriöser und unverständlicher wirkten als vorher.

Doch wir kamen nicht weit! Als wir von dem Podest heruntergetreten waren, bewegte sich etwas hinter der Eiskugel in der Mitte des Saales… es besaß grob menschenähnliche Formen, war jedoch gänzlich aus farblosen, kaltem Eis. Zacken und Krümmungen ragten willkürlich aus der Gestalt hervor und verliehen ihr einen nahezu dämonischen Anblick. Ihre Bewegungen waren langsam, aber sicher und wuchtig. Und das Wesen kam auf uns zu.
„Ein Eisgolem!“, japste Ricardo.
Nicola begann unmittelbar zu zaubern und ich schloss ich mich dem an. Ich zückte einen Pilz und ließ die ihm innewohnende Stärke auf mich und meine Begleiter übergehen, wobei ich behutsam das Gift umgehen musste, das leicht an meinem Geist nagen würde.

Dann begann schon der Kampf. Der Golem war heran und wurde von den Angriffen Ricardos und Miyakos empfangen. Das Florett traf auf die eisenharte Oberfläche und hinterließ nicht einmal einen Kratzer, indes schwang die Klinge auch nach dem Treffer nach, dass man befürchten musste, sie würde brechen. Miyako setzte nach und hieb ihr Langschwert voller Wucht gegen einen der Arme des hünenhaften Golems… ein lächerlich kleiner Splitter des Eises trudelte davon. Das Wesen schien es nicht einmal größer zu bemerken und hieb schlicht mit voller Wucht zu.
Ich hatte einmal die Wirkung eines Golemhiebs erlebt und war knapp entronnen… diese Kunstwesen verfügten über anormale Stärke. Und mit dieser übernatürlichen Gewalt schmetterte das Eis auf Miyako ein. Man meinte Knochen knacken zu hören, während die KanThai schlichtweg auf den Boden gedrückt wurde. Sie konnte nicht einmal mehr schreien und lag direkt wehrlos danieder.

Entsetzt blickten wir auf die Zerstörungsgewalt des Golems, während die Niedergestreckte mit letzter Kraft in ihrer Tasche nach einem Heiltrunk suchte. Ricardo stellte sich schützend vor sie und attackierte nun mit einem Kurzschwert, mehr um das Kunstwesen abzulenken, als es ernsthaft zu bedrohen. Nicola schloss sich seinen Bemühungen an: er hatte dunkelgrünes Feuer herbeibeschworen und warf mit Kugeln davon gegen den Eisgolem. Auch sie verpufften wirkungslos, verschafften aber einige Momente der Ablenkung.
Ich zog, ein weiteres Mal, die Bernsteinrose aus der Tasche hervor und umschloss sie mit beiden Händen.

Für einen Moment verschwamm meine Sicht, ehe sie aufklarte – klarer als zuvor. Cirdor ließ seine altbekannte Macht spielen und hatte sämtliche meiner Sinne geschärft. Doch geschah das diesmal durch eine Art Filter, beinah, als hätte ich Scheuklappen auf. Mit gelenktem Blick fokussierte ich so die Eiskugel hinter dem Golem, wahrscheinlich jener Weg, der uns weiterbringen würde.
Mit einem Hechtsprung setzte ich an dem Golem vorbei, so schnell, dass er mich nicht bemerkte. Hastig rannte ich zur Eiskugel hinüber, legte die Hand daran und dachte hastig „Hinauf!“… das Podest ruckte und begann sich zu bewegen. Direkt dachte ich „Hinab!“ und brachte die Plattform wieder in die Ausgangsposition.
„Hierher! Wir müssen fliehen!“, rief ich meinen Gefährten zu und sie hatten bereits gesehen, dass es funktionierte. Mit gewagten Sprüngen und Eilschritten entgingen sie den hektischer werdenden Rundumschlägen des Golems; Miyako war durch den Heiltrunk bereits wieder kurzzeitig erfrischt, sodass ihr die Flucht möglich war.

Als alle die Plattform erreicht hatten, dachte ich erneut das Schlüsselwort und wir brachten uns rechtzeitig durch die Flucht nach oben in Sicherheit.
Und da waren wir – wir hatten die windumtoste Spitze des gewaltigen Turms aus Eis erreicht. Zu unseren Füßen schillerte der Frost in den Farben des Regenbogens, während über uns graue Wolken der Sonne den Zutritt verwehrten. Wir sahen bis zu dem mit Eiszacken umkränzten Rand dieser kleinen, abgeschnittenen Welt des Ewigen Winters, an dem bereits Dutzende Schiffe zerschellt waren. Und wir erblickten das Boot, das uns hierhergebracht hat, bei dem einige kleine Punkte hin und herliefen.

Doch wir waren nun am Ziel des Aufstiegs; ganz oben. Und wir erblickten, was wir erwartet hatten: ein eisblauer Edelstein, geformt wie eine Rose und von fühlbarer, magischer Aura. Er schwebte einige Zoll über einem spitz wirkenden Eisstachel, der scheinbar einen Fokus für die eigenartige Levitation darstellte. Die Luft um diesen Teil der Spitze des Eisturms wirkte beinah kristallin, so seltsam spiegelte sich das umgebende Licht darin. Es musste unglaublich kalt sein…
Aber zunächst kümmerte ich mich um Miyako, die nach dem Heiltrunk wieder auf den Beinen stehen konnte, aber immer noch schwer getroffen war. Ich begann ihre Lebensenergien zu festigen und suchte zur Unterstützung nach der allgegenwärtigen Kraft der Natur… und traf bei meiner geistigen Suche auf die kalte Macht des Todes. Das widernatürliche Eis – es stach in meinen Geist und ließ mich schreiend zusammenfahren.
Entsetzt blickte Miyako mich an, während ich mich aufrappelte. Gewöhnlich hatte sie sich entgegen ihrer persönlichen Einstellung für äußerst empfänglich gegenüber dieser Magie gezeigt. Doch diesmal… ich versuchte es nichtsdestotrotz erneut. Doch ich fühlte immer noch die Kälte in mir, als hätte man mir einen Dolch aus Eis in die Brust gestochen – und die Klinge abgebrochen.
Bei dem zweiten Anlauf gelang es mir einigermaßen und Miyakos Knochen und Gelenke rückten wieder an ihren angestammten Platz. Der Hieb eines Golems konnte gut und gerne mit einem Schlag töten und ich war ohnehin erstaunt, wie gut die KanThai diesen weggesteckt hatte.

Nun wandten wir unseren Blick der Eisrose zu, die unserer ungestört in der Luft schwebte. Ricardo hatte bereits einen ersten Anlauf unternommen, sie an sich zu bringen. Er war schlicht auf sie zu gerannt und hatte sie schnell greifen wollen. Doch als er in Kontakt mit der noch kälteren Luft gekommen war, die sich im wahrsten Sinne des Wortes beißend gegen ihn wandte, geriet er ins Straucheln und stürzte.
Ich holte indes die eine Schatulle hervor, welche Feanor uns mitgegeben hatte. Nicola versuchte nun mit einem Zauberspruch die Rose heranzuholen, was jedoch misslang. Zweifelsohne war sie durch mächtige Magie vor solchen Versuchen geschützt. Doch der Magier ließ sich nicht unterkriegen und marschierte zielstrebig darauf zu – und griff durch die nahezu gefrorene Luft nach der Eisrose. Er verzog vor Schmerzen das Gesicht, konnte das mächtige Artefakt aber umschließen und aus dem Frostwirbel herausreißen. Ächzend kam er zu mir und legte den weißen Edelstein in die Schatulle. Hastig klappte ich den Deckel zu, um einen etwaigen Gegenschlag des darin gefangenen Seelensplitters abzuwenden.

Wir besahen uns kurz die Finger Nicolas, die glücklicherweise nicht ärger in Mitleidenschaft gezogen worden waren, dann hörten wir plötzlich ein lautes Knacken. Es war wieder still und verwundert blickten wir einander an. Über uns brachen allmählich die Wolken auf und nach langer Zeit erblickten wir endlich wieder das direkte Sonnenlicht, ungedämpft von Nebel oder anderen Schleiern. Unter uns bemerkten wir die wiedergewonnene Farblosigkeit des Turms. Die seltsamen Lichtspiele schienen beendet.
Dann hörten wir wieder ein Knacken. Irritiert blickten wir am Turm hinab und bemerkten einen ersten, großen Riss im Eis.  Er breitete sich langsam aus, immer verbunden mit einem unheilvollen Knirschen. Wir liefen also hastig wieder zu der Plattform und dachten eilends an ein „Hinab!“. Doch diesmal geschah Nichts.

„Wir haben die Magie wohl beendet, als wir den Edelstein abgeschirmt haben!“, mutmaßte Nicola und ich nickte ihm zu. Ich öffnete also wieder die Schatulle, damit wieder von diesem Turm herunterkamen, ehe er einbrach. Doch auch als die weiße Rose freilag… die Plattform regte sich nicht. Dafür fühlte ich jedoch ein großes Gewicht in meinem Rucksack und ich zog ein weiteres Mal Cirdors Bernsteinrose hervor.
Die beiden Rosen begannen sogleich kräftiger zu leuchten, wie es ihre Eigenart war, sollten sie aufeinander treffen. Etwas ratlos legte ich sie nebeneinander in die Schatulle. Es mochte durchaus eine negative Folge für uns haben, doch fehlten gerade die Alternativen.

Mit einem Mal geschah etwas, das keiner von uns je vergessen würde: die beiden Edelsteine vibrierten, erhoben sich sodann und begannen umeinander zu kreisen. Sie schwebten um ein unsichtbares Zentrum, zogen die Bahnen mal quer, mal längs. Und sie wurden immer schneller.
Es war beinah schwindelerregend hinzublicken, während ihr sanftes Leuchten immer weiter zunahm. Bernstein spielte mit einem durchdringenden Weiß, in dem man gerade so Spuren von Blau erkennen mochte. Wilde Farbbahnen umwirbelten einander und dazu begannen die beiden Rosen langsam Funken zu schlagen, die alsbald einen Reigen um das Schauspiel bildeten.

Während diesem Schauspiel begann sich unsere Umgebung zu verändern. Der Himmel klarte weiter auf, doch das Knacken und Reißen des Eisturmes hörte auf. Doch dafür… begannen wir allmählich zu sinken. Es schien kontrolliert, nicht ruckhaft, doch nichtsdestotrotz verblüffend. Meter für Meter näherten wir uns dem Boden und nach einem wagemutigen Blick über den Rand unseres Plateaus erkannten wir, dass der Turm immer weiter unter der Eisdecke versank.
Dann… waren wir ebenerdig mit der weiten Eisebene. Der Himmel hatte aufgeklart und ein für die hiesigen Verhältnisse beinah warm zu nennender Wind strich uns um die Nase. Die Bernstein- und die Eisrose wirbelten immer noch umher: ihr Werk schien noch nicht vollbracht.

Da bemerkten wir, dass die Eisspitze, über welcher der weiße Edelstein geschwebt hatte, dahingeschmolzen war. Dort hatte sich ein Loch gebildet und wir blickten auf das eisige Wasser des Nordmeeres… das in Bewegung geriet, als etwas daraus hervorglitt. Es war nicht schnell, doch es war beständig; es war eine Rosenblüte aus Saphir.
Ungläubig über diesen Fund starrten wir auf den blauen Edelstein, der sogleich zu den anderen beiden schwebte und in den eigenartigen Tanz miteinstimmte. Es schien, als würden die drei nach so langer Zeit ein Wiedersehen feiern, obgleich sie nur der schwache Abglanz ihrer einstigen Persönlichkeit waren.
„Was wohl damals zwischen Cirdor und Ila der Weißen war? Bei den beiden hat es ja ganz schön gefunkt“, zwinkerte Nicola, während wir dem Schauspiel zusahen.
„Und jetzt ist auch noch Musk der Blaue dabei! Oi, das ist aber mal ein wilder…“, setzte Ricardo hinzu, wurde aber unterbrochen.
„Also, ich würde sagen, wir nehmen diese Steine jetzt besser und gehen, bevor noch etwas schiefgeht“, erinnerte uns Miyako an die potenzielle Gefahr dieser Artefakte.
Also griff ich hastig nach den drei schwebenden Rosen, deren Reigen allmählich abgeflacht war, und verstaute sie in der kleinen Schatulle, die uns Feanor mitgegeben hatte. Dann glitt mein Blick hinüber zu dem Wasserloch, aus dem die Saphirrose aufgestiegen war. Es war… größer geworden.

Knack.

Wir machten allesamt auf dem Absatz kehrt und liefen so schnell wir noch konnten in Richtung unseres Schiffes, während hinter uns knisternd die Eisdecke nachgab. Einer der Risse schien uns förmlich zu verfolgen, während das Reich des Ewigen Winters binnen weniger Minuten von seinem unnatürlichen Frost befreit wurde.
Rasch erreichten wir das Schiff, auf dem sich bereits die Mannschaft eingefunden hatte und uns begeistert erwartete. Tatsächlich wirkten sie ehrlich begeistert, was mir beinah einen Schock versetzte – bisher war ich von den Waelingern keine Zuneigung gewohnt. Man half uns an Bord und dann brauchte es nicht mehr lange, bis das Eis um uns herum nachgab und nicht viel länger, bis wir schließlich einen Weg durch auseinandertreibende Schollen fanden. Der Eispalast war bereits versunken und ihm folgte nun der Vorhof zum Frost nach. Die aufgespießten und verunglückten Schiffe auf den gewaltigen Eiszacken des Rands sanken nun ihrem endgültigen Wassergrab entgegen. Die Gefahr für Leib und Seele hier im Jokulsund war gebannt!

Nachdem wir uns nun etwas entspannen konnten, kamen die Männer der Mannschaft zu uns und klopften uns anerkennend auf die Schultern. Es wagte jedoch keiner zu fragen, was in dem mysteriös leuchtenden Turm geschehen war. So blieb das Ende des Eispalasts wie seine gesamte Existenz ein passendes Mysterium. Wir erfuhren indes, dass die Waelinger nicht untätig geblieben waren. Sie hatten die Zeit genutzt, die aufgelaufenen Schiffe zu plündern und so die Kasse zu füllen. Erstaunt über ihren diesbezüglichen Erfolg, stellten wir fest, dass es scheinbar zwei Tage gebraucht hatte, die Rätsel des Eispalasts zu ergründen. Die Zeit musste irgendwie verzerrt gewesen sein, wenn auch nicht im großen Ausmaß.

Doch wir spürten nun die Erschöpfung, die dieses Abenteuer mit sich gebracht hatte, und suchten Erholung in unserer Kajüte.
Es wurde eine längere Rückfahrt, da sich Arno Deorson und Grimbel Rotbart erst einig werden mussten, wo genau wir eigentlich waren – immerhin war der Großteil unserer Hinreise blind erfolgt. Doch sobald das geklärt war, konnten wir Isgard ansteuern und erreichten dieses ohne weitere Zwischenfälle. Eine erfreuliche Nachricht hatte in der Zeit aber der Kapitän für uns: der Beutezug durch die Wracks war so erfolgreich gewesen, dass die Mannschaft auf die zweite Hälfte ihrer Bezahlung verzichtete. Ich wurde nun zum zweiten Mal von diesen Waelingern überrascht.

Wieder erholt hielten wir nach der Ankunft in Isgard Ausschau nach einem Schiff, das uns zurück nach Candranor brachte. Zwei Tage ließ ein solches noch auf sich warten und so verbrachten wir die Zeit in einem Gasthaus – wo uns die Mannschaft immer wieder anstieß und freudig begrüßte. Sie schienen begeistert von der Reise zu sein und sie erzählten wohl vielen ihrer Freunde und Kameraden die Geschichte vom Eispalast; wahrscheinlich zur Unkenntlichkeit ausgeschmückt.
Dann war es so weit und wir sagten dem Norden Midgards Lebewohl. Unsere Reise war erfolgreicher denn je gewesen: wir hatten die Rose des Eises und die Rose des Wasser erbeutet. Damit wären bei unserer Ankunft in Candranor alle acht Rosen der Macht beieinander – sodass wir sie endlich würden zerstören und die ihnen innewohnenden Geister befreien könnten.

Nach einer weiteren, langen Schifffahrt kamen wir dann wieder auf den warmen, valianischen Inseln an. Rasch hatten wir eine Kutsche ausfindig gemacht und fuhren zu dem entfernt liegenden Gildenhaus des Elementarsterns.
Doch Feanor ließ sich nicht in seinem Büro finden – ein Novize informierte uns, dass er sich gerade in der Stadt befände und erst am Abend wiederkehren würde. Wir verstauten also unsere Sachen so sicher, wie es nur ging, und nutzten die Zeit zur Entspannung; vor allem für ein Bad.

Dann mussten wir jedoch warten und nach der langen Schifffahrt, die wie im Eilschritt vergangen war, zogen sich diese wenigen Stunden plötzlich wie eine Ewigkeit…

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