Durch das Tote über den Abgrund

Der Hausdiener von Lukah Senenna pries mit wohl gewählten Worten einen in Essig eingelegten Kürbis mit Pinienkernen gewürzt mit Koriander und grünem Pfeffer an. So gab es nicht nur wieder einmal ausgefallenes Essen, sondern auch zahlreiches, denn nahezu sämtliche Persönlichkeiten, die etwas in Oktrea auf sich zu halten schienen, waren zu Gast. Und natürlich wir Söldner.
Ich nutzte die Gelegenheit beim Essen und in der zwanglosen Gesellschaft danach, um einige Gespräche zu führen. Zunächst sprach ich den twyneddischen Schamanen Had y Rhydd an. Ich sprach ihn auf seine ferne Heimat Fuardain an und überraschenderweise erwiderte der Mann, dass er ein Kuriositätenhändler sei, der zurzeit hier in Oktrea verweile. Sein Wohnort sei ein äußerst buntes Zelt etwas abseits und prompt lud er mich ein, mir am nächsten Tag seine Angebote anzusehen. Unter anderem vertrieb er wohl Teile von seltenen Tieren. Auf die Frage hin, ob er denn nicht ein Schamane sei, wie es mir erzählt worden war, murmelte er halb bestätigend, dass er sich der Natur sehr verbunden fühle. Das machte es nicht weniger seltsam, dass er als Kuriositätenhändler bis nach Chryseia reiste. Zudem schien er sich – rein freundschaftlich, wie er betonte, nicht geschäftlich – mit Lukah Senenna verbunden zu haben, weswegen er auch zu den abendlichen Gesellschaften eingeladen wurde.


Das nächste Gespräch führte ich mit Nublesch und leitete mit der Unterstellung ein, dass er ja ein Priester des Jakchos sei. Ich wusste von Enthylla, dass sie das nicht glaubte und ich vertraute ihrem Urteil. Und Nublesch, mit einem einnehmenden Lächeln, log mir ins Gesicht und „bestätigte“ seine Rolle innerhalb des Kultes. Des Weiteren fragte ich ihn nach den „Kindern des Jakchos“, die er als Gruppierung innerhalb des Glaubens wertete, aber auch eingestand, nicht allzu viel über sie zu wissen. Seinem langen Blickaustausch mit Synistes nach, wäre wohl auch das anders zu bewerten. Insgesamt wirkte er jedoch nicht sonderlich beunruhigt, was wiederum mich beunruhigte. Die Hemmungslosigkeit dieser Sekte, die auch vor Raub nicht zurückzuschrecken schien, war doch offenbar. So schloss ich mit der Feststellung, dass Nublesch sich als angenehmer Gesprächspartner ausgab und einiges über Eschar zu erzählen wusste, doch hinter der Fassade steckte ebenjener Täuscher, als den ich ihn bisher eingeschätzt hatte.
Zuletzt sprach ich bei der Gesellschaft noch mit dem Dorfältesten Anchises. Ich fragte nach Sofeth und eine mögliche Verbindung zu Synistes. Doch es stellte sich schnell heraus, dass der alte Mann zum einen nicht viel Lust verspüren zu schien, darüber zu reden, und zum anderen, dass er den angehenden Heiligen nicht wirklich kannte. Er sei von auswärts gekommen und habe sich der Einsiedelei angeschlossen. Die Fragen zu ihm schienen Anchises schlicht zu ermüden.

Dann – die meisten gingen bereits zu Bett – fing ich noch kurz die Sklavin Ancilla ab und versuchte mit ihr über ihren Herrn Pelektrakt zu sprechen. Sie verstand jedoch kein Wort Comentang, sodass ich ihr nur kurz zulächelte und dann noch Nokis erwischte, der gerade auf Alexios zu warten schien. Der bereits sehr alte Sklave konnte recht gutes Comentang und berichtete mir auf eine eher unverblümte Frage hin, dass er bereits in die Unfreiheit geboren worden war. Mit Alexios schien er sich letzten Endes nur so viel zu unterhalten, wie ihm dies nötig erschien. Und da mir noch immer jene Gesprächstaktiken abgingen, mit denen sich Menschen gegenseitig eine Information nach der anderen entlockten, konnte ich auch Nokis nicht viel entziehen, außer, dass er natürlich nicht sehr glücklich als Sklave war, es aber scheinbar akzeptiert hatte.

So ging es dann, nach einem gesprächsintensiven Abend, zu Bett. Doch gerade, dass die Augen zugefallen waren, läutete wieder die Glocke im Senenna-Anwesen. Binnen weniger Sekunden sprangen wir auf, packten unsere Waffen und liefen in den Innenhof, wo uns der scheinbar ewig-schlaflose Empallazos bereits erwartete.
„Es gab einen weiteren Todesfall im Dorf. Zieht eure Rüstungen an, dann sehen wir nach“, ordnete er kurz und knapp an und wir leisteten dem Befehl rasche Folge. Geschlossen marschierten wir dann aus der Villa, durch Oktrea, bis wir etwas außerhalb waren. Hier gab es drei grob gebaute Holzhütten, in denen scheinbar jüngst eingetroffene Händler Reliquien und andere Kuriositäten anboten. Und hier befand sich bereits eine kleine Menge an Dörflern, die allesamt in heller Aufregung waren, sich aber nicht näher an den eigentlichen Ort des Geschehens trauten: ein Mann, tot auf der Straße, nicht weit weg von seinem Stand.
„Wer ist der Tote?“, fragte ich einen Beistehenden.
„Kosmas Chalkokondyles aus Dyptiche. Er war ein Reliquienhändler, die Götter mögen uns bewahren!“
„Es war der Vampir! Da, seht doch den Hals!“

Die weiteren Ausrufe ignorierte ich und ging zu der Leiche hinüber, wo bereits Narsis einen Blick wagte. Ricardo und Miyako sorgten indes dafür, dass die Menge da blieb, wo sie war und die Heilkundler einen Blick wagen konnten, während Leif in den Laden des Toten hineinging.
Kosmas war in einem ähnlichen Zustand wie Hendiadbos: erstarrt mit einem verstörten Blick in den Augen, dazu zwei Einstiche in der Nähe des Kehlkopfes am Hals. Ich begann bereits im Mund nach Anzeichen einer Schwellung oder Verfärbung zu suchen, die ein mögliches Gift verursacht haben könnte, da schüttelt Narsis nur den Kopf: „Es ist zu dunkel. Wir bringen den Toten am besten in die Villa und werden ihn Morgen in der Frühe untersuchen.“

Widerwillig nickte ich, da ich bereits befürchtete, die Leiche könne über Nacht verschwinden, dann nahm ich es auf mich, mit einigen der Umstehenden zu sprechen. Dabei kam ich an Hyakinthos Kokkinobaphos aus Tyrre, ein benachbarter Reliquienhändler.
„Ich habe Schreie gehört“, fing der Mann an zu erzählen. „Und ich glaube, da ist einiges zu Bruch gegangen in Kosmas‘ Hütte. Dann rief er noch: ‚Ich ehre doch die Götter‘ und irgendwas solle die Hände von seinem Hals nehmen. Ich bin dann auf die Straße und hab ihn gesehen, wie er da stand, grad aus seinem Stand raus… dann fiel er um.“
„Einfach so? Als wäre er ohnmächtig geworden?“
„Ja, genau!“, bestätigte Hyakinthos. „He, Kyrillos, du hast doch auch was gesehen, oder?“
Kyrillos war, wie sich herausstellte, der dritte Reliquienhändler im Bunde, die wohl nach den ersten Berichten über das Wunder hergekommen waren. Der Mann nickte eifrig. „Ja! Kosmas hat noch gerufen: ‚Warum liegst du nicht in deinem Grab?‘. Schrecklich!“
„Kannte Kosmas den Besitzer der Olivenpresse, Hendiadbos?“, hakte ich nach.
„Ja, sie haben sich ab und zu geschäftlich getroffen. Hendiadbos hat ein Faible für Kurioses. Vielleicht haben die beide auch mal einen Wein zusammen getrunken, aber es war keine tiefe Freundschaft oder so etwas.“

Ich bedankte mich bei den beiden und ging dann zu Leif hinüber, der mittlerweile seine Untersuchungen im Haus beendet zu haben schien.
„Was hast du herausgefunden?“, fragte ich nach.
„Es ist eigentlich alles zerstört. Ich vermute, dass sind die Spuren eines heftigen Kampfes, allerdings gab es nirgendwo Blut. Ach ja, eine geöffnete Weinflasche stand auch noch herum.“

Eine geöffnete Weinflasche? Wie bei Hendiadbos. In meinem Kopf begann sich die Theorie des Giftmords zu verfestigen, der durch die Halseinstiche vertuscht werden sollte. Da kam Ricardo aus der Behausung des Toten. Allerdings mit gleich fünf Amuletten umhangen, einige Ringe noch auf die Finger gesteckt und zwei großen Amphoren in den Armen. Hastig lief ich zu ihm hin und fragte ihn scharf: „Ricardo, was hast du mit den Sachen vor?!“
„Ich bringe sie in die Villa, damit sie sicher sind.“
„Sicher, vor wem? Es traut sich doch eh Niemand in die Hütte!“
„Ja, jetzt vielleicht! Aber sicher ist sicher und morgen kann ich die Sachen dann verteilen.“
Da kamen noch die beiden Händler hinzu; Kyrillos und Hyakinthos. „Hey, was machst du mit Kosmas‘ Sachen!“
„Er ist tot, oder nicht? Ich bringe sie in Sicherheit…“
„Was? Stehlen willst du!“
„Nein, ihr versteht das falsch. Ihr kriegt morgen auch euren Anteil!“
„Ricardo“, versuchte ich es noch einmal, widersinniger Weise, mit Vernunft. „Denkst du nicht, dass Kosmas eigene Pläne für seinen Besitz hatte?“
„Ach, er war noch so jung…“

Doch noch ehe wir vertiefen konnten, warum ausgerechnet ein Student aus den Küstenstaaten sich das Recht herausnahm den „Erbverwalter“ zu spielen, kam Empallazos herbei und stutzte Ricardo zurecht und befahl eindringlich, die Sachen zurück ins Haus zu bringen. Der Mann leistete Folge, kam allerdings dennoch mit einem seltsamen Grinsen aus der Hütte zurück. Ich konnte nur den Kopf schütteln, als ich meinte ein Zwinkern von Leif zu sehen.

Nach dieser bizarren Szene brachten wir den Leichnam zur Villa… wo uns bereits eine besorgte Lukah Senenna erwartete: „Pelektrakt ist fort! Ich sah nach ihm, als er in dem ganzen Tumult nicht aufgetaucht war. Das Zimmer ist leer!“
Ein Schock ging durch die Versammelten – begleitet von der furchtbaren Erkenntnis, dass tatsächlich sämtliche Söldner mitsamt Empallazos zum Toten marschiert waren und die Villa schutzlos zurückgelassen hatten. Wenngleich unsere Anwesenheit hier nicht unbedingt Pelektrakt gerettet haben würde, so war das doch ein peinliches Versäumnis.
Meine Freunde und ich eilten aber nichtsdestotrotz so schnell wir konnten in das Zimmer des Gesandten. Wir fanden die übliche Ausstattung vor, die Reichtum durch etliche Verzierungen verkündete, aber nicht mehr war, als man wirklich brauchte. Das Fenster stand offen! Hastig untersuchten wir, ob es vielleicht aufgebrochen worden war, was wir zunächst verneinen konnten. Ricardo fand draußen auch keine Spuren. Ich schloss mich ihm an, blieb aber ebenso fundlos. Allerdings musste es doch etwas geben, Pelektrakt war sicherlich nicht einfach durch die Tür verschwunden.
Da lugte Miyako aus dem Fenster heraus: „Ilfarin, du hast doch einen Hund.“
Verschmitzt lachte ich und holte Maglos, der inmitten des ganzen Tumults etwas unruhig im Innenhof hin und herlief. Zwar war der Hund seiner Natur nach eher ein Hütehund und hatte eigentlich keinerlei Ausbildung erfahren. Doch der natürliche Geruchs- und Jagdsinn war noch immer vorhanden und so ließ ich ihn zunächst an Pelektrakts Kleidung schnuppern, ehe ich ihn durchs Fenster half. Sofort eilte Maglos los und ich rannte hinterher; Miyako und Ricardo knapp hinter mir.

Mein Hund rannte bis zum Strand, wo er aufgeregt hin und her sprang. Es mochte seine reine Neugier auf das große Meer sein, die ihn hierhergetrieben hatte. Aber im Licht der Sterne, konnte ich bis nach Thanaton hinübersehen und ich machte dort einige Gestalten schemenhaft aus. Hinzu kam, dass von den beiden hier üblicherweise angebundenen Booten, eines fehlte.
„Wir müssen dort hinüber“, stellte Miyako nüchtern fest.
„Ich kann allerdings kein Boot steuern“, erwiderte ich. Auch die anderen schüttelten den Kopf. „Dann brauchen wir einen, der uns übersetzen kann.“
„Am besten bleibt einer hier am Strand, während die anderen ins Dorf gehen und den Fischer suchen, oder wer uns hinüberbringen kann“, schloss Miyako. „Am besten ist es wohl, wenn du hier bleibst Ilfarin. Mit deinen Augen siehst du am ehesten, wenn sich jemand von Thanaton entfernt, um hierherzukommen.“
Ich nickte. „Dann beeilt euch.“

Und schon liefen die beiden zurück zur Villa, um zunächst zu erfahren, wo sie die Bootsbesitzer ausfindig machen können. Ich blieb am Strand, den Blick auf Thanaton gerichtet, während Maglos über den Strand fegte und in den rau heranbrandenden Wellen spielte.

Sterne spiegelten sich im dunklen Wasser. Ein unklares Licht in schwammiger Finsternis, durchzogen vom flackernden Schein des Mondes. Es weckte Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit; düster, vernebelt und doch von einem seltsamen, beinah irren Glanz durchzogen. Ein Schein, der über allem lag, jeglichen Sinn berührte und alles vereinnahmte. Ich spürte, wie ein Keim aufbrach, wo ich dachte, dass alle Brücken verbrannt waren. Warf einen schüchternen Blick auf das weite Meer der Möglichkeiten – hinaus auf dunkle Wellen, in denen sich Sterne spiegelten. In denen sich der Mond spiegelte. Und dann, langsam, voller Angst, was geschehen werde, richtete ich meinen Blick auf. Sah nach oben. Sah den Mond.

Ricardo, Leif und Miyako kamen zum Strand, doch ohne Begleitung.
„Der Fischer Tholos war nicht aufzufinden“, erklärte Ricardo.
„Und der Fährmann und Bestatter Tripedes ließ sich nicht überzeugen!“, murrte Miyako.
„Selbst als du erwähntest, dass es um das Leben eines Gesandten des Patriarchen ging, einem der höchsten Diener der heiligen Götter in diesem Land?“, fragte ich verwundert.
„Nein…“
„Wir müssen es eben selbst versuchen“, sagte Ricardo selbstsicher.
„Dann sollte Miyako gehen“, warf ich angesichts des kleinen Bootes ein, das wohl nur drei Personen fassen würde. „Sie kann am besten kämpfen.“
„Und du am besten“, ergänzte Miyako und warb so für mich. Ricardo und Leif machten unter sich aus, dass der Küstenstaatler noch mitkam, während der Waelinger mit Maglos am Strand warten und notfalls Empallazos informieren würde.

Wir schoben das Boot in die Wellen, sprangen hinein und ich ergriff die Ruder, um uns auf Kurs zu bringen. Es war nicht weit, bis nach Thanaton, etwas mehr als eine halbe Meile. Doch es war dunkel und das Meer nicht gerade ruhig. Vorsichtig trieb ich uns voran, doch bald drehte sich das Boot, einmal verfing sich ein Ruder im Sand und wir wurden von einer Strömung, die ich nicht einschätzen konnte, weggeschwemmt. Nach einer anstrengenden halben Stunde waren wir wieder am Strand und resigniert drückte ich dem noch frischen und motivierten Ricardo die Ruder in die Hand.
Und in der Tat: der Küstenstaatler brachte uns schnell aufs Wasser hinaus! Doch sobald die Wellen stärker wurden und ich nur noch schwer weiterleiten konnte, wohin der Student das Boot lenken sollte, trieb es uns wieder zurück. All dem haftete eine Mischung aus peinlicher Rührung und Verzweiflung an. Leif setzte jedoch ein erstaunlich ausdrucksloses Gesicht auf, als wir zum zweiten Mal bei ihm anlandeten, nachdem wir vorher in die Dunkelheit davongerudert waren.

Wir kehrten also zurück zur Villa und suchten Empallazos auf und schilderten, dass Maglos den Weg zum Strand gewiesen hatte und, dass ein Boot fehlte. Der Hauptmann war sofort auf unserer Seite und gleichermaßen verwundert, dass Tripedes uns seine Hilfe versagt hatte. So brachen wir nun mit Empallazos gemeinsam zur Hütte des Totengräbers auf. Wie kleine Kinder, die ihren Papa holten, um sich bei einem bösen Spielkameraden zu beschweren. Es waren Nächte wie diese, da man sich fragte, ob man das alles wirklich für die Nachwelt festhalten sollte.

Die richtige Würze bekam das alles noch dadurch, dass Ricardo nicht mitkommen wollte. Er war auch zu Tripedes hinzugekommen, um ihn zu überzeugen – und dann war er wohl ausfällig geworden. Ich fragte mich ernsthaft, was die Menschen von Oktrea mittlerweile von Ricardo halten mochten. Wahrscheinlich dachten sie, er wäre ein Plünderer und Rüpel und lagen damit nicht einmal sonderlich weit daneben.
Tripedes erwies sich als alter, aber noch rüstiger Mann, der nur auf das laute Klopfen und die eindringlichen Worten Empallazos‘ hin wieder die Tür öffnete.
„Was wollt ihr denn von einem alten Mann so spät? Und warum ist die da schon wieder hier?!“, krächzte der Mann und zeigte missmutig auf Miyako.
„Ich bin Hauptmann Empallazos, Anführer der Leibgarde der Gesandten der Patriarchen von Kroisos. Ein hoher Gesandter des Wredelin ist verschwunden und wir brauchen eure Hilfe, um nach Thanaton zu kommen.“
„Aber jetzt? Es ist spät.“
„Es geht um Leben und Tod, Mann. Kommt mit“, und die letzten Worte des Chryseiers trugen deutlich in sich, dass der nicht geneigt war, länger zu diskutieren. So lamentierte Tripedes nur noch etwas, dann warf er sich einen Mantel gegen den Nachtwind über und folgte uns zum Strand.
„Warum liegt denn mein Boot hier? Ich dachte, dass hätte ich etwas weiter drüben festgemacht!“
„Ähm… wir versuchten vielleicht kurz unser Glück. Aber, wie Ihr seht, ist noch alles intakt“, gestand ich unsere kläglichen Versuche, uns als Kapitäne aufzuspielen.

Tripedes schüttelte nur den Kopf, dann setzten sich Miyako und ich zu ihm ins Boot und er fuhr uns hinüber zur Insel.
„Wisst ihr“, begann der Totengräber in seiner krächzenden Stimme. „Früher hieß Thanaton gar nicht Thanaton. Denn…ach das wisst ihr wahrscheinlich auch nicht: Thanaton heißt Toteninsel! Aber früher hieß sie eben gar nicht Toteninsel, nein, nein. Früher haben die Leute hier sie Ziegeninsel genannt. Hat so eine Ziegenkopfähnliche Form, wisst ihr. Aber dann hat man in Oktrea angefangen, die Toten rüber zu bringen. Die Insel ist karg, da gibt es nix und es lohnt sich auch nix zu versuchen. Also bringt man eben die Toten her. Und seitdem heißt die Ziegeninsel eben Toteninsel, also Thanaton in unserer Sprache. Ich meine, dass ist ja meine Berufung mit Beerdigungen und so, aber eine Insel gleich Toteninsel zu nennen… da kommt ja Niemand mehr her.“

Und so weiter und so fort. Tripedes schaffte es, die eigentlich gar nicht so lange Strecke zur Insel mit seiner sinnentleerten Geschichte deutlich zu verlängern. Gerade wollte ich ihn fragen, ob er einst bei einem Zauberer namens Mumpitz im Turm gelebt hatte, da kamen wir endlich an einem Steg an und wir verließen das Boot. Der Totengräber kehrte um und kam dann einige Zeit später mit Leif und Ricardo wieder. Maglos würde indes bei Empallazos und im weiteren in der Villa bleiben.
„Ihr solltet uns nun verlassen, alter Mann. Wer weiß, ob Ihr hier am Steg nicht noch überfallen werdet“, richtete Leif sich an Tripedes. Der Waelinger hatte durchaus recht, allerdings schien sich der alte Mann nicht mehr sonderlich, um sein Wohlergehen zu kümmern: „Ach, ich kenn die Insel doch, hier schleicht sich Niemand an mich heran.“
„Nein, es ist wirklich besser. Hört, Ihr könnt euch drüben ausruhen und wenn Ihr einen gewaltigen Hörnerklang vernehmt, dann ist das unser Zeichen und Ihr könnt uns wieder holen.“
„Nun…also wenn ihr vier darauf besteht. Hörnerklang, ja? Also gut.“

Mit diesen Worten legte Tripedes ab und wir vier wandten uns Thanaton zu. Die Insel war karg, kaum bewachsen und so leblos, wie man es von einer Toteninsel erwartete. Vom Strand ging es hinauf auf steinige Hügel, auf denen einige kleinere Findlinge herumstanden oder meistens lagen.
„Ich werde untersuchen, ob sich da vor uns nicht dort etwas Leben verbirgt“, verkündete Ricardo und schien sich daraufhin kurz zu konzentrieren, ehe er enttäuscht die Schultern hängen ließ. „Das werde ich wohl noch üben müssen.“

Wir zuckten die Achseln und begannen vorsichtig den Pfad entlang zu gehen. Leif zündete seine Laterne an, damit wir einigermaßen etwas erkennen konnten, da der Mond sich allmählich zurückgezogen hatte und die Nacht am dunkelsten war.
Es dauerte nicht lang, da erblickten wir einige Zelte. Es brannte ein Feuer und Gestalten liefen dort herum. Dies mussten die Kinder des Jakchos sein, mit ihrem bizarren Lager auf der Toteninsel. Leif blendete das Licht ab, dann begannen wir uns anzuschleichen. Wir waren noch ungefähr vierzig Meter entfernt, da knackte es hinter mir. Mit verzogener Grimasse stand Ricardo da und war offensichtlich der Verursacher des Geräuschs… er war auf einen menschlichen Knochen getreten!

Schockiert gingen wir etwas zurück und ich besah mir das Fundstück. „Er ist bereits verwittert und ziemlich alt. Vielleicht ist er wieder ausgegraben worden… von den Kindern?“
Doch die Frage konnten wir nicht beantworten und beschlossen, uns wieder vorsichtig anzunähern. Allerdings blieben Ricardo und Leif zurück. Rasch holte ich einige Flugsamen hervor, die ich immer bei mir trug und blies sanft über sie hinüber, auf dass sie mich so sanft über die Erde tragen würden, wie über ein Moospolster.
Dann schlichen wir voran, waren bereits auf zehn Schritt heran…und Miyako trat einige Steine los, als sie ihren Fuß aufsetzte. Zunächst kaum merklich, rollten die Kiesel den Abhang hinab und trafen dabei weitere Steine. Es war keine Lawine, doch deutlich hörbar.
Die Assassine versuchte sich mit einem Hechtsprung in Deckung hinter einen Findling zu begeben, sprang jedoch nicht weit genug und krabbelte den letzten Meter auf allen vieren wie ein Kind. Und während ich noch da stand wie angewurzelt, zugegebenermaßen etwas enttäuscht über die KanThai, hörte ich eine Stimme vom Lager her: „He da! Ist da jemand in der Dunkelheit? Zeigt euch!“
Nun versuchte auch ich einen Hechtsprung, als ich eine sich nähernde Fackel beobachtete – und scheiterte ebenso wie Miyako und stolperte mehr hinter den Findling, der nicht einmal genug Deckung für uns beide bot.

„He! Hab‘ euch schon gesehen. Kommt da raus!“, rief der Mann und seufzend sprang ich auf und ging etwas näher an ihn heran, als wäre Nichts gewesen. Beschwichtigend hob ich die Hände so, dass der grobschlächtige Kerl mit Knüppel und Fackel keine Angst zu haben brauchte.
„Guten Abend, wir sind hier, weil wir einen Freund suchen.“
„In der Dunkelheit?“, argwöhnte der Mann.
„Ja, nun, nein. Wir vermuten er ist hier auf der Insel.“
„Bei uns sind nur wir.“
„Ihr seid die ‚Kinder‘?“
„Klar. Und ihr solltet jetzt gehen. Gehört sich nicht, sich einfach nachts an friedliche Menschen heranzuschleichen. Macht mir ‘nen schlechten Eindruck!“
„Das geht leider nicht so einfach, unser Freund ist wahrscheinlich in Gefahr. Ich würde gerne mit Synistes sprechen, eurem Anführer.“
„Er ist nicht hier.“
„Wo sonst?“
„Auf dem Festland, er hat einige Dinge zu erledigen…aber hey! Geht jetzt!“

Ich wurde es nun leid, mich mit dem Mann auseinanderzusetzen und sandte Furcht in seinen Geist. Nicht genug, dass er floh, aber ausreichend, um sich zweimal zu überlegen, ob er den Knüppel wirklich einsetzen wollte. Dann lief ich stumpf mitten ins Lager der Kinder hinein. Ich sah etwa vier bis fünf Zelte, die so groß waren, dass sicherlich insgesamt zwanzig Menschen oder mehr hier sein konnten. Ansonsten gab es ein Lagerfeuer, ein paar Stühle und einigen Unrat. Nichts, was auf den ersten Blick verdächtig wirkte.
Miyako war knapp hinter mir, wenige Schritte darauf folgte Leif, der bedrohlich einen Runenstab emporhielt. Ich wollte lieber nicht herausfinden, was passierte, wenn der Waelinger diesen zerbrach, allerdings schienen die Kinder des Jakchos nicht sonderlich viel über Magie zu wissen und nachdem nun bereits die ersten aus ihren Zelten kamen, waren sie weniger abgeschreckt, als aufgebracht. Daher musste es bei dieser kurzen Erkundung bleiben und wir liefen eilig zurück zum Steg, einige hundert Meter weit entfernt vom Lager. Glücklicherweise schienen die Bewohner nicht derart über uns beunruhigt, dass sie uns folgten und wir konnten uns einen Moment sammeln.
„Auf den ersten Blick hin sah das wirklich nicht so aus, als würden sie dort Pelektrakt gefangen halten. Und wir haben das fehlende Boot auch nicht am Steg gesehen“, kommentierte ich die Lage.
„Wir sollten den Strand entlanggehen“, meinte Miyako. „Überhaupt erst einen Eindruck von der Insel gewinnen. Dann können wir uns immer noch überlegen, wo Pelektrakt wahrscheinlich versteckt gehalten wird.“
„Und beim nächsten Mal gehen wir vielleicht etwas feinfühliger vor, wenn wir ins Lager kommen wollen“, stichelte Ricardo – zu Recht.

Mit Leifs Lampe als Lichtquelle liefen wir den Strand Thanatons ab. Der Sand war von gröberen Steinen durchzogen und wirkte mit den anbrandenden Wellen in der Düsternis des mittlerweile wolkenverhangenen, sternenlosen Himmels alles andere als einladend. Und wir fanden weitere menschliche Knochen. Sie wirkten allesamt alt und verwittert. Entweder hatte der Totengräber Tripedes seine Arbeit seit Jahrzehnten ignoriert… oder die Kinder des Jakchos waren Leichenfledderer und Grabschänder. Es war beunruhigend, in ihrer zunächst scheinbar harmlosen Verrücktheit immer weitere Facetten von Abartigkeit zu finden.
Die erste herausragende Landmarke, die wir fanden, war der große Baum auf einem Hügel, den wir bereits von der Einsiedelei aus gesehen hatten. Das einzige größere Gewächs auf dieser Insel hatte symbolhaften Charakter: der Baum war so tot wie alles andere auf dieser Insel, die jüngst eingetroffenen Kinder einmal ausgenommen. Der vier Meter hohe Stamm besaß noch einige knorrige Äste, wirkte insgesamt aber äußerst ramponiert und gerade an der Spitze von einigen fingerdicken Rissen durchzogen. Es mochte wohl einst ein Blitz eingeschlagen und das Leben des Baumes ausgelöscht haben.
„Dies ist eine Steineiche“, verkündete Ricardo. „Oder wie man sie unter Fachsprachlern nennt: ‚Quercus ilex‘. Sie stamm aus der Gattung der Eichen innerhalb der Familie der Buchengewächse; oder auch ‚Fagaceae‘. Eine genügsame Art, die mit wenig zurechtkommt und daher auch hier so gut wachsen konnte. Sie ist aufgrund ihres besonders harten Holzes sehr beliebt!“

Nachdem unser Naturwissenschaftler seinen Vortrag beendet hatte, wandte er erneut einen Zaubertrick an und rief aus: „Aha! Da ist Leben im Baum!“
Und in der Tat: Miyako fand einige Bienen, die sich in einem Loch ein Nest gebaut hatten. Es war also nicht alles tot, was auf Thanaton war. Doch dies schien das einzige zu sein, was der Baum zu verbergen hatte. Es fanden sich noch einige Kratzspuren, als hätte sich vielleicht ein Tier an der Rinde zu schaffen gemacht, aber keine Verstecke oder Ähnliches. Und obwohl der Baum uns weiterhin skeptisch stimmte, gingen wir erst einmal weiter.
Die Sonne ging auf, als wir zu zwei Dritteln den Strand entlang gelaufen waren. Als wir dann einen Hügel erklommen, auf dem es einst ein Leuchtfeuer gegeben hatte, hatten wir endlich einen guten Überblick über die gesamte Insel.

Neben dem allmählich erwachenden Lager, sahen wir dann auch eine Höhle im Fels, die jedoch reichlich verschüttet war. Leif versuchte ein paar Minuten lang, einige Steine wegzuräumen, allerdings mussten wir einsehen, dass hier Nichts zu machen war, wenn man nicht eine größer angelegte Ausgrabung unternahm.
Und Ricardo beschloss, äußerst feinfühlig, ins Lager der Kinder des Jakchos zu gehen. Zum Teil neugierig und zum Teil amüsiert, beobachtete ich den jungen Mann, wie er zu den Menschen hinging. Besondere Aufmerksamkeit schienen die barbusigen Frauen zu erregen… eine davon kam zugleich auf ihn zu und umarmte ihn herzlich. Kurz darauf führte er einige Gespräche, auch mit dem Wachposten der vergangenen Nacht, der zwischendurch einen skeptischen Blick zu uns nach oben warf.

Schließlich beschlossen wir drei zum Steg zu gehen und Leif zerbrach einen kleinen Runenstab, was ein Geräusch verursachte, als hätte er in ein Horn geblasen. Sicherlich war es meilenweit zu hören, insbesondere für den Totengräber und Fährmann Tripedes. Aber auch für Ricardo, der scheinbar seine Infiltration der Kinder vorerst pausierte und zum Steg gelaufen kam. Allerdings nutzte er diese Pause beunruhigender Weise dafür, sich für diese Sekte zu begeistern.
„Diese Menschen sind so freundlich! Sie haben mich sehr herzlich aufgenommen, wirklich. Und sie freuen sich, wenn ich wieder komme. Stellt euch nur vor: sie haben keinen Besitz. Also keinen privaten. Irgendwie gibt ihnen das Leben alles, was sie brauchen. Unfassbar, oder? Ich finde das unglaublich faszinierend…“
Dann versank er in tiefes, nachdenkliches Schweigen, das auch anhielt, als uns schließlich Tripedes abholte und wieder nach Oktrea an den Strand brachte. Dort trennte er sich kurz von uns, um sich beim Fischer für eine eingetretene Tür zu entschuldigen. Dann war der Küstenstaatler also nicht nur beim Totengräber ausfällig geworden. Kopfschüttelnd folgte ich Leif und Miyako zur Villa von Luka Senenna, wo uns ein ungeduldiger Empallazos empfing.
„Was konntet ihr in Erfahrung bringen?“
Während mir durch den Kopf schoss, dass die ehrliche Antwort auf die Frage „Nichts“ wäre, erzählten Miyako und Leif zumindest, was wir getan hatten, woraus allerdings der Hauptmann auch selbst ableitete, dass wir nicht wirklich einen Fortschritt erzielt hatten. Im Weiteren wunderte er sich auch etwas darüber, dass wir uns auf den Spürsinn eines nicht ausgebildeten Hunds verlassen hatten. Allerdings gewichtete ich diesen Fehler persönlich nicht schwer, da wir sowieso die Absicht hatten, einmal auf die seltsame Insel zum Lager der „Kinder des Jakchos“ zu gehen.

Schließlich verwies uns Empallazos an Anthroposophos, da der theologische Berater Alexios‘ ein Dokument vermisse. Er erwähnte noch, dass er die Handelsgilde im Verdacht habe, das Konklave sabotieren zu wollen. Diese ungeplante Erinnerung an unseren eigentlichen, verdeckten Auftrag wirkte skurril angesichts der schrecklichen und vor allem unerklärlichen Dinge, die sich mittlerweile in Oktrea ereignet hatten. Allerdings glaubte Empallazos nicht, dass die Handelsgilde hinter mehr als dem Dokument stecken könnte. Menschen zu entführen oder gar zu töten, ginge zu weit. Wir verschwiegen indes selbstverständlich unsere „geheime Identität“.
Wir machten uns auf den Weg zum theologischen Berater und der Hauptmann machte sich daran, die weitere Suche nach Pelektrakt zu organisieren.
Anthroposophos war schnell ausfindig gemacht, während er etwas fahrig durch die Villa lief.
„Empallazos schickt uns“, hielt ich ihn an. „Ihr habt ein Dokument verloren?“
„Nicht verloren! Gestohlen wurde es. Aus meinem Zimmer und der verschlossenen Truhe darin.“
„Sonst Nichts?“
„Nein! Das ist ja das Seltsame.“
„Was war das für ein Dokument?“
„Eine Zusammenstellung über nahezu alle Klöster, Einsiedeleien, Tempel und heiligen Stätten in Chryseia; ein wichtiger Papyrus vor uns. Es ist eigentlich nichts Besonderes oder gar Geheimes, aber es wäre von einigem Schaden für unsere Kirche, wenn diese Chronik verloren gehen würde und wir alles neu zusammentragen müssten.“
„Warum sollte jemand dieses Dokument stehlen wollen… was steht denn dort über die hiesige Einsiedelei? Könnt Ihr euch erinnern?“
„Nun, sie ist bereits sehr alt, mehrere Jahrhunderte sogar. Ursprünglich wurde sie vom Wredelin-Kult begründet und unterstützt, ist aber schließlich unabhängig geworden.“
„Ich würde mir nun gerne euer Zimmer ansehen, wenn Ihr es erlaubt.“
„Sicher…aber ich möchte dabei sein.“

Also schloss Anthroposophos sein Zimmer für uns auf und wir untersuchten recht schnell das, was darin war. Es war ähnlich ausgestattet wie das des Gesandten Pelektrakt, also reich verziert, aber nicht zugestellt. Allerdings waren keinerlei Spuren für einen Einbruch zu sehen, selbst das Schloss an der Truhe war noch intakt. Die Kiste des theologischen Beraters enthielt noch ein interessantes Kästchen, das allerdings nur „Tiegelchen“ für die „schlechte Haut“ des Mannes beinhaltete. Ich ließ Anthroposophos seine Eitelkeit und stellte das Kästchen auf seine dringende Bitte wieder in die Truhe. Es war in der Tat Nichts zu finden – zumindest war es nicht so augenfällig, dass ich es entdeckte.
Enttäuscht und mittlerweile auch ziemlich ermattet zog ich mich zum Bedauern des Beraters zurück. Ich ging auf das Zimmer, um wenigstens zwei, drei Stunden Schlaf zu erhaschen. Ricardo ging mit, während Miyako eine Wache beim Konklave übernahm, um dort mitzuhören. Leif zog sich indes in die Bibliothek zurück, um an seinen Zaubertricks zu arbeiten, die er auf mir kaum verständliche Weise in Holzstäbe bannte. Dabei bediente er sich der Macht von Runen, was allerdings wieder etwas anderes war, wie die Runenzauber des Nordens, wie er mir einmal versicherte.

Es war etwa Vormittag, als ich mich wieder aufsetzte. Langsam dämmerte mir, dass ich noch etwas Wichtiges zu tun hatte: die Untersuchung des toten Kosmas! Kopfschüttelnd, wie ich so etwas hatte vergessen können, lief ich zu dem Zimmer hinüber, in dem man die Leiche aufgebahrt hatte. Dabei sah ich Miyako, wie sie noch die letzten Minuten der Wache verbrachte. Sie wirkte seltsam alarmiert, allerdings hielt ich es für besser, zu sprechen, wenn wir nach Ende des Konklaves unter Vier Augen waren.
So traf ich unvorbereitet auf Narsis, der sich ebenfalls in der Kammer des Toten befand. Das allein war nicht besonders, immerhin war er der Arzt und hatte augenfällig bereits erste Erkundigungen unternommen, wie das Aufschneiden des Halses. Allerdings wirkte er etwas aufgeregt, fuhr sich ständig durchs Haar und leckte sich über die Lippen.
„Narsis, was konntet Ihr herausfinden?“, fragte ich, zunächst das seltsame Verhalten ignorierend.
„Hm, was? Ja?“
„Narsis, der Tote. Was habt Ihr herausgefunden?“
„Ach so! Ja. Der Tote. Der ist tot.“
„Und woran ist er gestorben?“
„Nun, nein, das, ähm. Seht ihn euch an. Überall aufgeschnitten und so. Blut. Das ist nicht gut. Nein, ist es nicht. Er ist tot.“
„Narsis…ist alles in Ordnung mit Euch?“, und während ich fragte und bereits keine ehrliche Antwort erwartete, die auch mit einem lauten, beinah geschrienem „Ja!“ auch prompt kam, machte ich einen Schritt auf den Arzt zu und begutachtete ihn genauer. Seine Augen wirbelten wild hin und her, er war blass und schwitzte dennoch. Das war deutlich mehr, als ein Schock oder paranoider Schub. Narsis war beinah oder vielleicht schon ganz in den Wahn gerutscht. Und ich bezweifelte, dass das natürlich geschehen war.
„Ähm, Herr Narsis. Die Gesandten wollen sicherlich mit Euch sprechen.“
„Was? Die Gesandten? Waruuuum?“
„Sie sind interessiert an… den Ergebnissen. Der Untersuchung.“
„Ach so, ja! Sie müssen ja auch erfahren, dass der Tote tot ist. Wo lang?“

Ich führte den verwirrten Arzt zunächst zu Miyako und stellte ihn dort mehr oder minder ab, ehe ich schlicht in die letzten Momente des Konklaves hineinplatzte. Das Gespräch der anwesenden Gesandten und Berater endete augenblicklich und sie sahen mich wie auch Lukah, Protokollführer und die übrigen an.
„Entschuldigt die Störung, aber ich habe die dringende Befürchtung, dass Narsis Opfer eines dunklen Zaubers geworden ist. Er ist verwirrt… und nicht nur das. Vielleicht sogar wahnsinnig.“
„Holt ihn herein, wir werden ihn uns ansehen“, erwiderte Alexios und ich leistete der Aufforderung Folge. Kaum im Zimmer angekommen, begann Narsis dann auch zu berichten, was er zu wissen glaubte. Dabei redete er weiter wirr und wirkte mit jedem Satz mehr, als erwarte er einen Überfall aus einer Ecke.
„Das sieht in der Tat nicht gut aus“, verkündete Enthylla. Dann stand sie auf, stellte sich vor Narsis und legte ihm ihre Hände auf die Schultern. Einige Zeit stand sie einfach so da und blickte den Arzt an, während sie magische Formeln sprach. Während dieser Minuten wurde er ganz still und erwiderte ihren Blick. Schließlich hob sie die Hände, wartete einen hoffnungsvollen Moment – und sah einen wieder losbrabbelnden Mann, der sich selbst in einem Satz dreimal widersprach.
„Seine Heilung bedarf größerer Zauberkraft als meiner“, erklärte die theologische Beraterin resigniert.
„Dann sollten wir ihn vorerst unter Aufsicht stellen, am besten in einem eigenen Raum“, schloss ich.
„Ist das nicht etwas übertrieben? Er wirkt verwirrt, aber nicht gefährlich“, wehrte Alexios ab.
„Noch nicht. Wahnsinn ist aber nun mal berechenbar.“
„Bring ihn in den Raum von Pelektrakt. Dort stehen ohnehin bereits zwei Wachen, also schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe“, wies Nublesch mich an.

Also brachte ich Narsis hinüber und erklärte den beiden überraschten Söldnern, was mit dem Arzt los war, der sich im Moment hinsetzte und beschloss, Nichts mehr zu tun, außer zu atmen. Ich trat anschließend wieder auf den Hof und sah, dass das Konklave nun wirklich vorbei war – doch ehe ich mit Miyako sprechen konnte, läuteten erneut die Glocken. Ich traute meinen Ohren kaum: noch ein Mord?

Dann hörten wir den Lärm von außerhalb der Villa. Es wurde laut gerufen und gebrüllt. Eilig liefen wir zum Eingang des Senenna-Anwesens, wo sich uns ein erschreckender Anblick bot:
Beinah sämtliche Einwohner Oktreas mussten versammelt sein, es waren bestimmt vierzig oder fünfzig Stück, die vor uns standen und laut ihre Forderungen vorbrachten. Zwischen den vielen chryseiischen Rufen, vernahm ich auch einige auf Comentag: „Gebt die Leiche heraus! Sie muss verbrannt werden!“ „Sofeth ist ein Vampir!“ „Wir müssen die Leichen verbrennen, sonst erheben sie sich!“
Die Angst hatte um sich gegriffen. Die einfachen Gemüter der Dörfler waren entflammt von nackter Furcht, die in Wut umgeschlagen hatte. Hass war geschürt worden, man hatte sich gegenseitig Mut gemacht. Und jetzt standen sie hier, der gesamte, versammelte Mob, und sie forderten die Herausgabe der Leichen, um sie aus abergläubiger Furcht heraus zu verbrennen.

Verzweifelt redete Empallazos bereits auf die ersten Männer vor ihm ein, doch ihre Schreie wurden nur lauter und ihre Mienen spiegelten den Wahn, den sie bereitwillig nährten. In den Händen einiger sah ich bereits Steine und Knüppel. Immer wieder gab es Bewegung in der Menge, einige versuchten nach vorne zu drängen, andere stehen zu bleiben, doch der Wille zur Zurückhaltung bröckelte. Hinter uns formierten sich die Söldner. Die Schilde emporgestreckt und die Schwerter gezogen, machten sie sich auf das Schlimmste gefasst.
Man konnte die Wut und Angst förmlich spüren – gewaltige Emotionen, die uns unkontrolliert entgegenwallten, ausgedrückt durch Schreie und emporgerückte Knüppel. Erste Drohungen flogen durch die Luft, Verwünschungen folgten. Dann versuchte ich den Hass der ersten Männer vor uns zu packen. Jene, die am lautesten brüllten und heftig mit Empallazos diskutierten. Einer, zwei, drei… bis ich fast von einem ganzen Dutzend die Wut spürte, wie ein Feuer, das auf meiner Handfläche tanzte und die Haut versengte.
Dann schloss ich die geistige Faust. Die Hitze wich und machte der Kälte der ursprünglichen Angst Platz, die Männer hielten in ihren Sätzen inne, verstummten. Unsicher blickten sie einander an, blickten dann zu Empallazos. Sie verharrten… doch der Druck kam von hinten. Noch viel mehr Menschen standen hinter ihnen als vor ihnen und sie brüllten allesamt in einer Kakophonie der Wut. Die Wirkung meiner Magie schwand, die Männer wurden erneut angetrieben oder von anderen Rädelsführern ersetzt. Die Schreie setzten sich fort.

„Ein Reiter muss zu Hendiadbos‘ Anwesen!“, wandte sich Empallazos knapp um. „Diese Narren werden auch versuchen, an seine Leiche zu gelangen. He, Leif! Geh durch einen Seiteneingang raus und reite zur Olivenpresse!“
Der gerade eingetroffene Waelinger machte auf dem Absatz kehrt und tat, wie ihm geheißen. Währenddessen überlegte ich, wo Anchises anzutreffen sein mochte. Der Dorfälteste würde diese Menschen sicherlich zur Vernunft bringen können. Umso entsetzter war ich, als ich den alten Mann inmitten der wütenden Meute sah und erkennen musste, dass er nicht besser sondern einfach nur älter war als der Rest.
„Anchises!“, brüllte ich und erlangte tatsächlich die Aufmerksamkeit des Mannes – vielleicht würde ich ihn ja doch umstimmen können. „Kosmas wurde bereits untersucht! Der Kopf ist fast abgerissen, er steht nicht mehr auf!“
Doch selbst wenn der Dorfälteste mich verstanden hatte, die anderen Menschen Oktreas riefen lauter als ich: „Feuer ist die einzige Lösung. Sie müssen brennen!“

Ratlos machte ich einen Schritt zurück, hielt mich nun auch bereit, notfalls mit Magie und Speer gegen die verrücktgewordenen Dörfler anzugehen. Da kam Alexios herausgelaufen und begann auf die Menschen einzureden. Und er versuchte es nicht nur mit Vernunft. Er heuchelte auch Verständnis für die Ängste und Sorgen der Leute aus Oktrea, machte etliche Versicherungen, versprach ihnen Schutz. Und so, allmählich, zerstreute er ihre Wut.
Einige Minuten später war der Spuk vorbei, die Dörfler zogen ab. Ihr Glaube an den Vampir war nicht besiegt, doch Alexios hatte ihnen ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Das musste vorerst reichen. Und dann kamen Leif und zwei, drei andere Söldner, die Empallazos ihm noch nachgeschickt hatte, zurück. Der Waelinger berichtete noch vom Pferd hinab, dass mindestens ein Dutzend Dörfler dabei waren, über das Tor zu steigen, als die Verstärkung eingetroffen war. Gemeinsam waren sie auf die angehenden Plünderer eingedrungen und als das erste Blut geflossen war, flohen die Leute klugerweise doch wieder nach Oktrea. Auf Drängen des Waelingers war die Leiche von Hendiadbos dann mitgebracht worden, damit sie hier in der Villa vorerst in Sicherheit war.

Diese Leiche wurde nun zu Kosmas gebracht und neben ihn gebettet, auf dass wir beide untersuchen konnten. Dies war die Aufgabe, welche nun auf uns vier zurückfiel, da ohne den wahnsinnig gewordenen Narsis scheinbar keiner mehr übrig war, der heilkundiges Wissen besaß. Aber als wir gemeinsam in der Kammer standen, konnte Miyako zunächst einmal berichten, was sie während dem Konklave erfahren hatte.
„Synistes war hier gewesen und hat die Fragen der Gesandten beantwortet! Zunächst wollten sie wissen, warum er bei Sofeths Grab gewesen war. Daraufhin erzählte er ihnen, dass er eine ‚Vision‘ gehabt habe, in er Jakchos ihm verkündet hatte, dass ein Wunder geschehen werde. Als er daraus erwacht war, begann Synistes mit seinen Prophezeiungen und suchte deswegen auch das Grab des angehenden Heiligen auf. Das waren im Kern die Erkenntnisse des ersten Blocks im Konklave, doch kurz bevor du, Ilfarin, vorbeigekommen bist, ist Narsis an mir vorbei gelaufen. Er wirkte da bereits sehr fahrig, aber auch nachdenklich. Dann hat er zwei Nadel aus dem Ärmel gezogen und sie ärgerlich auf den Boden geschleudert.“
Bei diesen Worten zückte Miyako zwei kleine Nadeln, die an der Seite eine Halböffnung hatten. Sie waren sehr filigran gemacht.
„Ich wüsste keinen Verwendungszweck für diese kleinen Spitzen innerhalb der Heilkunde. Weder um kleine Mengen Blut abzunehmen, noch einen Aderlass oder Ähnliches durchzuführen“, kommentierte ich nachdenklich.
„Nun, ich glaube, dass diese Nadeln eingesetzt werden könnten, um jemanden zu meucheln“, erwiderte Miyako. Und während ich genau wusste, warum die KanThai ausgerechnet auf diesen Gedanken kam, mussten Leif und Ricardo schlicht annehmen, dass das einfach nur eine in den Raum geworfene Theorie war. Oder sie hegten einen Verdacht – immerhin wusste ich nicht, was alles in Mangalwar geschehen war, während ich gegen das Fieber gekämpft hatte.

Aber nach diesem Hinweis wussten wir, was wir zu suchen hatten. Ricardo schätzte, dass die Nadeln zu den Stichen passten und als ich den Hals von Hendiadbos vorsichtig mit einem Messer aufschnitt, fanden wir die beiden blutverschmierten Nadeln, die denen in Miyakos Hand erstaunlich glichen. Sie waren tief eingedrungen, sodass man sie von außen nicht hätte bemerken können. Doch weder hatten sie zu einem Erstickungstod geführt, noch war Blutverlust die Ursache des Ablebens. Basierend auf meinen Erfahrungen in Mangalwar, untersuchte ich die beiden Leichname auf Spuren einer Krankheit, was jedoch auch kein Ergebnis einbrachte.
„Dann bleibt nur eines: Gift.“
„Die Nadeln haben an der Seite diese Öffnung, könnte darin etwas eingelassen sein?“, fragte Ricardo. Ich folgte der Idee des Küstenstaatlers, der sich als recht kompetenter Heilkundiger erwiesen hatte. Doch durch das ganze Blut und auch durch die bereits anfängliche Verwesung des Leichnams war nicht auszumachen, was sich einst an oder eher in der Nadel befunden hatte. Als ich aber noch einmal einen Blick auf den Leichnam warf, meinte ich ein paar dunklere Stellen um den Einstich herum zu entdecken. Sie wirkten nicht wie üblichen Spuren der Verwesung und angesichts der Tatsache, dass wir alles andere ausgeschlossen hatten, musste es Gift sein.
„Aber wie hat der Mörder die Nadeln in den Hals gestochen?“, wunderte sich Ricardo. „Die Abstände zwischen den beiden Löchern waren bei beiden Leichen exakt gleich. Ein Blasrohr wäre nicht so präzise. Nun, vielleicht ein doppelläufiges…“
„Dafür stecken die Nadeln zu tief im Fleisch. Da müsste schon jemand außergewöhnliche Lungen haben, um so viel Druck aufzubauen“, kommentierte Miyako.
„Vielleicht eine Art Handschuh?“

Da klopfte es plötzlich an der Tür. Irritiert hielten wir inne und blickten hinüber, zur noch verschlossenen Pforte. Und dann hörten wir nur eine allzu bekannte, tiefe, immerzu grummelnde Stimme: „Hallo! Macht auf!“
Wir trauten unseren Augen kaum, als hinter der Tür tatsächlich Groam Bärentod mit seinen flammend roten Haaren und Bart vor uns stand – trotz des Sommers natürlich im Kettenhemd. Auch der geliebte Stielhammer fehlte nicht.
„Was treibst du denn hier? Und warum lassen dich die Söldner überhaupt derart gerüstet in die Villa?“, fragte ich verdutzt.
„Ach, ich hab‘ gesagt, ich will zu euch und das war dann wohl ausreichend. Seid wohl wieder ganz schön in der Patsche was? Komm‘ ich ja rechtzeitig, war ganz schön langweilig in Haelgarde. Aber ihr wisst schon, dass es nicht so leicht ist, euch zu finden?“

Und dann erzählten wir dem Zwerg, was wir bisher alles erlebt hatten. Von dem angehenden Heiligen, der der eigentliche Ausgangspunkt dieser Unternehmung war, über die allmählich seltsamer werdenden Verwicklungen, wie die Kinder des Jakchos, bis hin zu zwei Toten und einem verschwundenen Gesandten. Groam quittierte das Ende des Berichts mit einem tiefen Brummen, das offen ließ, ob er sich alles, wenig oder gar nichts gemerkt hatte. Aber immerhin hatten wir nun einen herausragenden Kämpfer – Dan-narmo Lilta – in unseren Reihen. Das dürfte sich durchaus als nützlich erweisen.

Nach der abgeschlossenen Untersuchung der Leiche verstanden wir zwar, wie sie umgekommen waren, konnten daraus aber noch nicht ableiten, wer als Mörder infrage käme. Daher mussten wir mit unseren verbliebenen Fragen weiter verfahren und von denen hatten wir weitaus genügend. So suchten wir den Fischer Tholos auf, der sich scheinbar mit Ricardo angesichts einer offensichtlich zerstörten Tür geeinigt hatte, und befragten ihn zur vergangenen Nacht. Er gab uns nur die Auskunft, dass der nachts fischen gewesen sei. Ich zweifelte daran, allerdings konnten wir ihm kaum das Gegenteil beweisen. So gingen wir hinüber zum Bestatter Tripedes, der uns erzählen konnte, dass er Synistes vor nicht allzu langer Zeit nach Thanaton gefahren hatte. Also beschlossen wir, den Mann zu verfolgen, denn eines war sicher: der Mystagoge musste eine Schlüsselrolle in diesem Chaos einnehmen.

Nachdem der etwas außer Atem geratene Tripedes zweimal das Boot hin und her gerudert hatte (Groam blieb erst einmal zurück), wurde er Zeuge, wie Ricardo sich bis auf den Lendenschurz entkleidete und sein Hab und Gut bei dem Fährmann ins Boot warf. Auf unsere fragenden Blicke hin, erklärte der Küstenstaatler: „Diese Menschen leben ohne Besitz! Das schließt auch fast sämtliche Kleidung mit ein. Freiheit den Menschen!“
Und mit dieser von pathetischer Überzeugung getragenen Aussage, schritt Ricardo los. Es war bereits Nachmittag und wir würden den zweiten Block des heutigen Konklaves verpassen. Allerdings bezweifelten wir mittlerweile auch, dass mit einem fehlenden Gesandten wirklich viel besprochen werden würde. Dabei ahnten wir noch nicht, was kommen würde.

Ricardo wurde wieder herzlich empfangen, während man uns übrigen noch abwartend gegenüber stand. „Gehört der da zu dir?“, fragte eine spärlich bekleidete Frau den Küstenstaatler. Sie zeigte mit dem Finger unverhohlen auf mich. „Ähm, ja.“
„Mit so etwas reist du durch die Lande?!“, empörte sie sich, was ihr einen scharfen Blick meinerseits einbrachte.
„Rein beruflich, meine Teuerste“, versicherte ihr Ricardo. Mittlerweile waren auch einige Männer herangetreten, die mich ebenfalls mehr als schief ansahen. Die Knüppel hatten sie dabei bereit.
„Was will der aus dem niederen Volke hier? Er soll gehen“, sprach einer, als wäre ich nicht einmal anwesend.
„Ihr habt etwas gegen Elfen?“, konnte ich kaum noch an mich halten, als mir der gebündelte Rassenhass der ach so friedlichen „Kinder des Jakchos“ entgegenwallte.
„Verschwinde.“
„Ja, hau ab!“
„Das ist ja sogar der, der hier nachts rumgestreunt ist! Der will bestimmt unsere Kinder stehlen!“

Einen Moment wünschte ich mir meine eigene Rimbrûth hierher, um diesen Narren einen wirklichen Grund zu geben, uns zu hassen. Doch ebenso schnell verwarf ich diesen dunklen Gedanken. Es würde mir kein Leid einbringen, wenn ich mich nicht mit diesen Menschen auseinandersetzen konnte. Sollten sie mich hassen, es war doch einerlei. Erst wenn sie mit Fackeln auf mich eindrangen, musste ich mir wirklich Gedanken machen. So machte ich kehrt, um die Lage zu beruhigen, und ging zurück zum Steg und Tripedes, der gerade ein Nickerchen machte.
Kaum zwei Minuten später kam Leif ebenfalls zurück. Fragend blickte ich ihn an und er meinte kopfschüttelnd: „Diese Heuchelei kann ich meinem Gott Torkin nicht antun.“
Torkin? Ein Gott der Zwerge, warum folgte ein Mensch diesem Glauben? Ich blickte den Waelinger weiter irritiert an und er erklärte sich: „Ich verfüge über einiges magisches Wissen, ja. Aber die wirkliche Macht, die in den Runen liegt: diese kommt von Torkin. Man nennt jene wie mich, die ihm folgen und seine Gunst erlangt haben Runenschneider oder sogar Runenmeister.“

Es war bisher bereits offenkundig gewesen, dass Leif mehr war als ein einfacher Zauberhandwerker, doch ich war dennoch erstaunt über die Erkenntnis, was in dem Waelinger steckte, der die klischeehafte Muskelkraft seines Volkes missen ließ. Er schlug nun vor, zurück aufs Festland zu fahren, um dort unsere Untersuchungen fortzusetzen, da wir hier ohnehin Nichts tun konnten, außer zu warten. Damit hatte er Recht und so weckten wir Tripedes, der uns sogleich hinüberbrachte. Miyako und Ricardo würden sich durchaus auch allein mit den „Kindern“ auseinandersetzen können.

Als wir wieder in Oktrea ankamen gingen wir zunächst zur Villa, wo wir Empallazos kurz ins Bild setzten, wo unsere Begleiter verblieben waren. Nachdem er mit einem knappen Nicken das Vorhaben akzeptiert hatte, stellten wir ihm Groam vor. Angesichts der Bewaffnung schien der Hauptmann nicht lange zu fackeln, den Zwerg anzuheuern. Nur die Frage der Bezahlung handelten sie unter sich aus. Dann ging es bereits wieder zum Abendessen, bei dem uns erneut exotische Spezialitäten vorgesetzt wurden. Allerdings schien selbst der Diener mittlerweile nicht mehr so guter Laune zu sein. Im Anblick der sich häufenden Schrecknisse wunderte dies kaum.
„Empallazos“, wandte ich das Wort an den Hauptmann. „Wie ging die Suche nach Pelektrakt voran?“
„Nun, wir haben alles abgesucht. Wir waren bei der Grabhöhle des Sofeth, im gesamten Dorf, bei der Olivenpresse, in den Hügeln, bei diesem heiligen Hain…“
„Ein heiliger Hain?“
„Ja, es gibt da auf einem Hügel diesen seltsamen Ort. Aber dort war Pelektrakt ebenso wenig anzufinden, wie sonst irgendwo. Thanaton und die Einsiedelei verbleiben noch. Erstere suchtet ihr zwar bereits ab, aber vielleicht habt ihr etwas übersehen.“
„Das vermute ich auch. Vielleicht innerhalb des Lagers der Kinder – deswegen bleiben Ricardo und Miyako auch dort.“

Nach dem Essen sprach mich überraschenderweise Nokis an, der Diener des Gesandten Alexios: „Mein Herr möchte Leif und dich nachher sehen. Um Mitternacht in den Gärten vor der Villa. Seid still und kommt ohne Aufsehen zu erregen.“
Dann war der alte Mann an mir vorbei, ohne, dass ich eine Frage stellen konnte. Leif war der einzige außer mir, der diese Bemerkung mitbekommen hatte und runzelte ebenso die Stirn wie. Wir teilten die Bedenken: Alexios hatte den mysteriösen Nublesch hergeholt und sich gleichermaßen dafür eingesetzt, dass dieses Konklave überhaupt stattfand. Und wenn ich Priestern schon kritisch gegenüberstand, dann waren mir Heuchler, die nur aus Machtdenken heraus in ihre Positionen gekommen waren, beinah verhasst.
Doch wir entschieden uns, vorerst mitzuspielen. Es war ohnehin nur noch eine Stunde, bis zum „vereinbarten“ Zeitpunkt und wir gingen über einen Seitenausgang hinaus, um die erwünschte Diskretion zu wahren.

So fanden wir einen durchaus nervös blickenden Alexio dann vor der Villa. Ich warf bereits jetzt innerhalb einer Minute mehrfach den Blick über die Schulter. Es war dunkel, selbst mit meinen Elfenaugen konnte ich wenig erkennen. Angesichts der Vorkommnisse der letzten Nächte erschien mir dieses Treffen auf weitgehend offener Fläche bereits unabhängig von unserem Gesprächspartner für keine gute Idee. Neben dem Weg gepflanzte, hoch gewachsene Büsche machten das nicht gerade besser.
„Da seid ihr ja“, begrüßte uns Alexios im Flüsterton. „Sehr gut.“
„Was benötigt Ihr, Gesandter?“, fragte ich.
„Ich fasse mich kurz. Nublesch und ich werden heute Nacht mit dem Totengräber nach Thanaton hinüberfahren und dort nach Pelektrakt suchen.“
„Nachts? Ohne Wachen? Das ist eine schlechte Idee“, kommentierte ich ehrlich.
„Dieser Meinung bin ich auch. Nublesch hat das vorgeschlagen und ich muss zugeben, dass ich ihm nicht trauen kann. Daher…“
„Aber habt Ihr ihn nicht zu dem Konklave eingeladen?“, unterbrach ich Alexios, war er mit einem missmutigen Blick quittierte: „Darüber sprechen wir zu einem besseren Zeitpunkt. Also: ich will, dass ihr euch bereithaltet, bei Tagesanbruch nach Thanaton zu fahren, um dort nach Nublesch und mir zu suchen, wenn ich nicht wiederkomme.“
„Besser wäre es, wenn wir kurz nach euch auf die Insel kommen und euch beschatten. Bis zum Morgengrauen dauert es zu lange.“
„Ja, gut. Tut das. Bringt Fackeln mit.“
Plötzlich warf der Gesandte einen Blick zur Villa hin, blickte sich fahrig um und lief los. Irritiert sahen wir ihm nach, da murmelte er nur in fröhlich-trällerndem Ton: „Nehmt Gold mit! Reichtümer erwarten euch!“
Einen Moment später raschelte es im Gebüsch neben uns. Hastig sprang ich hinein, bereits eine böse Vorahnung vor dem inneren Auge. Leif folgte mir und zerbrach dabei noch einen Runenstab, aus dessen längerem Ende sogleich ein Lichtstrahl hervorbrach und die Finsternis erhellte. Ein Vogel flog davon.

Sofort sprang ich auf und eilte Alexios nach, der gerade eilends in der Villa verschwand. Nokis wollte mich kurz aufhalten, doch ich lief einfach an ihm vorbei in das Senenna-Anwesen. Drinnen sah ich Nublesch im Gespräch mit Lukah, aber auch Alexios, der gerade auf dem Weg zu seinem Zimmer war. Hastig lief ich dem Gesandten hinterher und hielt ihn auf.
„Das sollte diskret behandelt werden“, zischte der Mann erbost, als ich ihn am Arm griff. Ich blickte auf seine Augen, auf seine Bewegungen, suchte nach den Zeichen des Wahns, wie ich ihn bei Narsis entdeckt hatte. Dieses abrupt abgebrochene Gespräch, der seltsam aus dem Kontext gerissene Satz zum Abschied. Gold auf eine tote Insel mitnehmen? Das machte doch nur für einen Narren Sinn…

Doch da waren keine Zeichen von Wahnsinn. Ich hatte mich geirrt. Und nun starrten mich nicht nur Alexios und Leif etwas verwirrt an, sondern auch Lukah und Nublesch. Kopfschüttelnd wandte ich mich ab und ging in das Zimmer der Söldner, als wäre ich einfach nur übernächtigt – was nicht einmal eine wirkliche Lüge gewesen wäre.
Etwas später gingen Leif und ich jedoch wieder hinaus und setzten uns in den Innenhof. Wir gaben vor, ein Auge auf das Anwesen zu haben und darauf zu achten, dass Niemand hineinkam. Eigentlich warteten wir jedoch auf die beiden Gesandten, die sich schließlich bald auf den Weg machen würden, um nach Thanaton aufzubrechen. Eine Idee, die ich Alexios gerne vollständig ausgetrieben hätte, wenn er nicht so plötzlich gegangen wäre.
Stunde um Stunde verging und Leif schlief ein. Der Waelinger hatte gar nicht geschlafen, sondern sich sogar noch heute Morgen um seine Zaubervorbereitungen gekümmert. So ließ ich ihm etwas, wenn auch verspannte, Erholung im Sitzen. Und blickte umher, versuchte zu hören, ob sich etwas tat.

Doch der Morgen graute und die Türen der Gesandten waren noch geschlossen. Entmutigt weckte ich Leif, der mich verdutzt ansah. „Ich vermute, Nublesch ist misstrauisch geworden, als ich Alexios hinterhergelaufen bin. War vielleicht zu offensichtlich für ihn, dass er Probleme bekommen würde, wenn er etwas auf Thanaton versuchte.“
Zunächst schüttelte der Waelinger nur verschlafen den Kopf und wir gingen wieder in das Gemeinschaftszimmer der Söldner, um noch zwei Stunden Schlaf bis zum Frühstück zu bekommen.

Etwas ausgeruhter und mit klarerem Kopf standen wir auf und Leif ging zielstrebig zum Zimmer des Gesandten Alexios. Er fand es leer vor – ebenso wie das Nubleschs. Aufgebracht lief Empallazos durch die Villa. Nun waren sämtliche Gesandten verschwunden, das Konklave zur absoluten Katastrophe geworden. Und einen Moment stand ich da und verfluchte die gesamten, letzten Stunden. Meine Fehleinschätzung führte zu einer Fehlentscheidung und das gleich zweimal. Alexios‘ Leben hatte oder hing noch von mir ab und ich hatte versagt.
„Lass uns jetzt zur Insel hinüber, Ilfarin“, sagte Leif. „So wollte es Alexios auch eigentlich ursprünglich.“

Der Waelinger hatte Recht und so suchten wir eilig den Fischer auf, der uns gegen eine kleine Entschädigung in sein Boot einlud und zur Insel hinüberfuhr. Groam holte er anschließend nach, da wir diesmal sicher waren, schwere Geschütze zu brauchen. Allerdings ließ ich Maglos in der Villa bei Empallazos.
Und als wir an der Insel entlangglitten, um zum Steg zu gelangen, konnten wir bereits zwei auffällige Gestalten ausmachen, die sich zu dem toten Baum hinbewegten. Einer war ein auffallend großer Mann, der Nichts am Leibe trug außer einem Lendenschurz. Die andere war eine eher kleine und unscheinbare Frau. Ricardo und Miyako hatten irgendeine Spur aufgenommen!

Am Steg angekommen sahen wir auch, was der Bestatter mit Ricardos Sachen gemacht hatte, als es ihm zu lange gedauert hatte, auf ihn zu warten: er hatte sie einfach auf den Steg geworfen.
„Wir sollten seine Waffen mitnehmen“, merkte Leif an und hob das Florett des Küstenstaatlers auf. Eine solche Fechtwaffe hatte ich tatsächlich noch nie in Aktion erlebt und war gespannt, wie gut Ricardo damit umgehen konnte. Dazu schien er einen Dolch mit breiter Parierstange zu verwenden, den Leif ebenso mitnahm. Die anderen Sachen ließen wir vorerst hier liegen.
Dann eilten wir, so schnell es die kurzen Schritte des Zwergs ermöglichten, den Strand entlang, bis wir am anderen Ende der Insel bei dem Hügel mit dem toten Baum ankamen. Dort erwarteten uns bereits Miyako und Ricardo, die sich an und um den Baum herum umsahen.

„Wie ist es euch ergangen?“, rief ich, als wir uns näherten.
„Synistes war im Lager, allerdings wurde uns das verschwiegen – zumindest bis heute Morgen. Da kam einer der Männer auf uns zu und berichtete, dass der Mystagoge verschwunden sei. Ricardo hat daraufhin Spuren gefunden, die hierher führten“, setzte Miyako uns knapp ins Bild. „Was konntet ihr auf dem Festland feststellen?“
„Alexios ist heute Nacht mit Nublesch auf diese Insel gefahren, um Pelektrakt zu suchen. Er informierte Leif und mich bereits vorher, da er dem Schariden scheinbar nicht mehr traut. Die beiden sind nicht mehr zurückgekommen.“
„Welchen Zusammenhang könnte das mit dem Verschwinden von Synistes haben?“, warf Ricardo verwundert ein, während er dankbar seinen Waffengurt von Leif annahm und umschnallte.
„Eine gute Frage. Vielleicht arbeiten Synistes und Nublesch zusammen? Aber was wollen sie erreichen? Ricardo, du hast doch die Spuren bis hierher gefunden. Wohin führen sie weiter?“, fragte ich.
„Sie verlieren sich hier. Ich bin etwas ratlos.“
Mit gerunzelter Stirn näherte ich mich dem Baum und untersuchte ihn abermals. Wieder entdeckte ich keine geheimen Verstecke oder gar eine Art Mechanismus. Nur die Abschürfungen der Rinde… „Sie sind hinaufgeklettert“, verstand ich schließlich. „Vielleicht es ist wie bei Synistes‘ Seiltrick? Sie kletterten den Baum hoch und verschwanden?“
„Dann werde ich nachsehen“, kommentierte Miyako und machte sich daran, den vier Meter hohen Stamm der Steineiche zu erklimmen. In wenigen Augenblicken war sie die knorrigen, verzerrten Äste emporgeklettert und an der Spitze angekommen, die noch beinah schwarz von dem lang vergangenem Blitzeinschlag war. Und dann blickte die KanThai in das Innere des Stamms.
„Der Baum ist hohl!“, verkündete sie. „Es geht tief hinab, ich brauche Licht und ein Seil.“
Nachdem sie ihr eigenes Seil um einen Ast gebunden und die Lampe von Leif erhalten hatte, machte Miyako sich an den Abstieg.

Es vergingen einige Momente bangen Wartens, dann rief die Schwertkämpferin nach uns. Sie war gedämpft, musste also recht tief geklettert sein. Aber mit ihrer kräftigen, wenn auch eher selten genutzten,  Stimme erreichte sie uns: „Hier ist eine Höhle. Und Synistes!“ Und wenig später: „Der Mystagoge ist tot!“

Verblüfft starrten wir einander an, dann machten wir uns daran, Miyako zu folgen. Rasch war man den Baum hinaufgeklettert und das Seil hinabgeglitten, dann standen wir auch schon in der Höhe. Wir benötigten die gesamte Länge des Stricks, sodass wir beinah zwanzig Meter tief unter der Erde sein mussten. Verwundert blickte ich mich um. Der Boden und die Wände wirkten unnatürlich glatt, wie perfekt abgeschliffen. Es schien dem geheimen Versteck des Earn MacRathgar in Clanngadarn zu gleichen. Und das weckte wahrhaftig keine guten Erinnerungen.
Gleich der erste Fund wollte das wohl bestätigen: die Leiche von Synistes. Ein durcheinander geworfenes Bündel Kleider und schiefer Knochen. Miyako hatte ihn bereits untersucht, während wir hinabgeklettert waren. „Er trug Nichts von Wert bei sich. Seht euch aber den Hals an: es sind wieder zwei Stichwunden.“
Und ein fachmännischer Schnitt brachte zwei Silbernadeln zum Vorschein, wie wir sie bereits kannten. War dann einer der Gesandten der Mörder? Nublesch? Doch warum sollte man so etwas tun… ich war zugegebenermaßen verwirrt. Bisher hatte ich in Synistes mehr als einen verrückten Propheten und Sektenführer gesehen. Einen Drahtzieher sogar, der hinter all den Geschehnissen ein eigenes Spiel getrieben hatte. Entweder lag ich insofern richtig, dass er verstrickt war, aber seine Nützlichkeit überlebt hatte. Oder Synistes war nicht mehr als einfach ein irr gewordener Gaukler gewesen.

Es schien als gäbe es nur eine Richtung, um die Lösung für diese und alle weiteren Fragen zu bekommen: aus dieser künstlich geschaffenen Höhle führte eine Treppe weiter in die Tiefe. Der Gang war so breit, dass man hintereinander gehen musste, aber wenigstens so hoch, dass sich Ricardo nicht den Kopf stieß.
„Wollen wir nicht Empallazos informieren? Verstärkung holen?“, fragte Ricardo, als wir uns alle schon in Richtung Tiefe bewegten.
„Ich glaube, dass wir uns beeilen müssen“, entgegnete ich. „Jede Stunde, die wir verlieren, könnte einem Gesandten das Leben kosten. Sofern einer von ihnen unschuldig ist, müssen wir das verhindern. Doch so oder so. Dunkles scheint hier am Werke zu sein und wenn wir es erkennen wollen, so sehe ich nur diesen einen Weg vor uns.“
Der Küstenstaatler blieb skeptisch, was ich verstehen konnte, doch er blieb bei uns. Miyako übernahm mit der Laterne Leifs in der Hand die Führung. Direkt danach folgte ich, dann Leif, an den sich Groam anschloss, der bereits liebevoll seinen Stielhammer tätschelte. Zuletzt ging Ricardo die Stufen hinunter, beinah komisch und bizarr in einem Lendenschurz in dieser seltsamen Höhle.

Der Gang führte etwas mehr als zwanzig Schritt lang in die Tiefe – dann endete er vor einer gemauerten Wand. Das einzige, was hier wirklich aussah, als wäre es von Menschenhand geschaffen worden.
„Das ist komisch“, brummte Groam von hinten.
„Kannst du die Wand einschlagen?“, fragte ich, wobei ich das nur halbernst meinte.
„Hm…“, wog der Zwerg sorgfältig ab. „Die ist schon recht massiv, glaub ich.“

Also suchten wir die Wand ab. Mein erster Verdacht, es wäre gar eine Illusion, zerschlug sich. Es war auch kein sonstiger Zauber daran und wie Miyako mit ihrer Springwurz herausfand ebenso kein verborgenes Schloss. Ich tastete nachdenklich die Steine ab, um einen geheimen Druckpunkt zu finden, blieb jedoch erfolglos. Mit gerunzelter Stirn trat ich zurück und sah zu, wie die KanThai Leifs Lampe auf der letzten Stufe abstellte und nun ebenfalls die Wand abtastete. In der rechten, oberen Ecke wurde sie fündig und konnte einen Block ein kleines Stück eindrücken, was ein schabendes Geräusch erzeugte. Mit einem ungewöhnlich gönnerhaften Grinsen drehte sie sich zu mir um. Dann klappte uns der Boden unter den Füßen weg.

Es schien, als würden meine Eingeweide von einem gewaltigen Sog erfasst und in die Tiefe gerissen werden. Die Luft blieb aus, ich fühlte gleichermaßen Hitze wie Kälte und verlor einen kurzen Moment die Kontrolle über meine Körperspannung, sodass ich beinah zusammenfiel wie ein nasser Sack – der in die Tiefe stürzte, der Lampe Leifs hinterher.
Rechtzeitig drehte ich mich im Flug nach links und griff mit beiden Händen nach der letzten Stufe hinter mir, die nicht weggeklappt war. Ich rutschte etwas, doch an der Kante konnte ich mich halten. Ein Ruck ging durch meine Arme, als sie schlagartig mein Gewicht halten mussten – glücklicherweise war das nicht viel.

Doch Miyako war ebenso im Sturz begriffen – und sie verpasste die Stufe mit ihren Händen. Die Sekunden schienen sich zu verlangsamen, als würden sie durch zähen Sirup fließen, während ich der KanThai hinterherblickte, die neben mir in die Tiefe sank, einem bodenlosen Abgrund entgegen. Einen kurzen Moment schien sie die Augen zu schließen. Ob sie sich fragte, ob dies das Ende sein könne?
Wenn ja – dann lautete ihre Antwort Nein. Im letzten Moment schlangen sich ihre Hände um meinen rechten Knöchel. Ich keuchte, als ich plötzlich das zusätzliche Gewicht halten musste, spürte wie meine Finger bereits zu rutschen begannen…

Da waren Leif und Groam bereits über mir, knieten auf der nun letzten Stufe der Treppe und packten meine Arme. Sie zogen Miyako und mich hoch auf die sicheren Stufen, die nicht Teil der Falle gewesen waren. Doch mein Blick war nach unten gerichtet: Leifs Lampe war in die Tiefe gestürzt, an einem Gerüst abgeprallt, was nur kurz erleuchtet worden war, und hatte dann ihren weiteren Weg in den Abgrund gesucht. Das Licht wurde immer kleiner und kleiner… bis es ein letztes Mal aufflackerte und verlosch.
Als wir wieder alle zusammen sicher auf der Treppe waren, suchten wir nach einer neuen Möglichkeit, Licht zu machen. Es dauerte einen Moment, dann stellten wir fest, dass nur Groam Fackeln dabei hatte. Etwas verblüfft über unsere magere Ausstattung, machte der Zwerg nichtsdestotrotz neues Licht. So konnten wir einen Blick in die Tiefe werfen.

Vor und unter uns schien sich eine gewaltige Höhle zu erstrecken, deren Ausmaße mit dem Licht einer Fackel nicht einmal ansatzweise zu erkennen waren. Das einzige, was in diesem Abgrund auszumachen war, war jenes hölzerne, äußerst alt wirkende Gerüst. Ohne ein Gelände führte es wie eine Treppe in die unergründliche Tiefe. Und es begann direkt unter uns, als wolle es uns herausfordern, auf ihm zu wandeln.
„Dann ist das wohl unser Weg“, hauchte Miyako.
„Gut, ich klettere auf das Gerüst hinunter, dann kann ich euch herabhelfen. Es ist ja nicht tief“, verkündete Ricardo, als hätte er gerade nicht mitbekommen, dass wir vor einem tödlichen Abgrund standen. Doch noch ehe ich ihn bitten konnte, wenigstens ein Seil umzubinden, war er bereits hinabgesprungen und sicher auf den Holzplanken gelandet. Während mein Herz bei diesem Anblick einen unruhigen Stoß bekam, schien der Küstenstaatler noch gänzlich unberührt. Er half uns auch schließlich hinab, sodass wir alle zusammen auf dem Gerüst standen. Der Weg vor uns war recht breit, sodass man nicht balancieren musste. Doch ohne Ballustrade wirkte selbst der breiteste Pfad zu schmal und es war auch weiterhin nicht genug Platz um nebeneinander laufen zu können. So führte uns der Weg hinein in die Düsternis, die sich hier irgendwo unter dem südlichen Chryseia in der Tiefe erstreckte.
Das Gerüst führte in einer abfallenden Spirale in die Tiefe und die alten, nahezu morschen Holzbalken knarrten unter jedem Schritt, den wir machten. Es war eine beunruhigende Kakophonie, die durch ein leichtes, allgegenwärtiges Schwanken noch verschlimmert wurde. Gesteigert wurde dies noch dadurch, dass wir mit der Fackel nur einen ganz kleinen Ausschnitt unserer Umgebung wahrnehmen konnten. Hinter uns verlor sich bald alles ebenso in der Dunkelheit, wie der ungewisse Pfad vor uns – sodass wir verloren schienen, ein einsamer Lichtpunkt wie die stürzende Lampe Leifs.
Doch was wir schemenhaft erkennen konnten, waren Ketten. Starres, straff gespanntes Eisen, das in die Tiefe führte. Ein Strang war dicker als mein Arm und es mussten hunderte sein. Etwas hing daran… oder zog. Es war nicht das Gerüst, das war zu erkennen, doch es schien unserem Ziel nahezukommen. Jener ungewisse Mittelpunkt dieser endlosen Höhle.

Jeder Schritt trug weiter. Dem ungewissen Ziel in der Tiefe entgegen. Doch auch jeder Schritt wurde von einem Widerhall begleitet. Ein Knarren und Knarzen der Balken. Unheil lag unter uns, denn wir konnten den Grund nicht sehen. Worauf stand dieses Gerüst?
Es begann zu schwanken. Anfangs nur leicht. Die Schritte brachten Bewegung in das alte Holz. Immer mehr, sodass das Knarren zunahm. Ohrenbetäubend scholl es durch diese große, leere Hölle. Ich erwartete das Brechen, den Sturz. Einen endlosen Sturz, denn diese Höhle würde kein Ende haben. Sie führte ins Nichts, ebenso wie diese Treppe. Der Weg wurde schmaler. Immer schmaler. Hätte ich mich anfangs noch bäuchlings darauf legen und die Arme ausstrecken können, wurde der hölzerne Pfad immer schmaler, bald nur noch so breit wie ich. Ein Balanceakt. Auf schwankendem Grund, ja so schwankend, als würden da unten in der Tiefe Wellen gegen die Balken schlagen. Und das Holz knarrte, ich spürte sein Leiden… hätte es viel mehr gespürt, wenn es war schon lange tot. Dort gab es Nichts mehr, außer dem Wunsch, dem Sehnen nach dem Ende. Das Gerüst sehnte sich danach, zu brechen. Seinem fesselnden Sinn zu entfliehen.
Das Holz knarrte. Der Weg war schmal. Alles schwankte. Wir waren Narren! Unter uns die Finsternis und sie würde uns mit keinem freudigen Tod erwarten. Nein, wir würden ewig fallen! Eine ewige Verdammnis, die uns peinigen würde, bis uns ein alter Tod im Wahn finden und vielleicht dereinst erlösen würde. Warum marschierten wir? Wir zerstörten das Gerüst, gaben dem Holz sein Ende, auf dass es mit uns ins Nichts sinken konnte. Ewig sinken. Ewig fallen. Durch die Finsternis im Ende der Welt.

Ich fiel auf die Knie und umklammerte das Holz zu meinen Füßen. Die Augenlider presste ich so heftig zusammen, dass ich Sterne sah und ich dachte, mein Herz würde gleich zerspringen. Meine Atmung ging heftig, heftiger…
Einen Moment musste ich nahezu ohnmächtig gewesen sein, doch ich hatte mich immer noch im Holz verkrallt. Langsam öffnete ich die Augen, hoffte, etwas Schönes und Friedliches zu sehen. Doch da war nur der Abgrund, der mich durch eine Spalte zwischen den Holzplanken anlachte und seine dunklen Greifer nach mir ausstreckte, um mich endlich begrüßen zu dürfen. Ich stieß einen schrillen Schrei aus, dann drehte ich mich mit aller Kraft, die ich noch in mir hatte, auf den Rücken.

Miyako, Groam und Leif standen ratlos auf der Treppe. Nur Ricardo lag wie ich auf den Planken und machte das einzige, was hier noch einen Sinn finden konnte: er hielt sich fest.
„Wir müssen weiter“, drängte Leif. „Reißt euch zusammen!“
„Es schwankt alles… das Gerüst. Es bricht! Wir dürfen nicht weiter!“, rief Ricardo aus.
„Dann kommt doch! Wir wollen runter von diesem Gerüst“, sagte Miyako.
„Wozu?“, fragte ich matt. „Es hat doch alles seinen Sinn verloren. Wir werden hier sterben, wenn wir weitergehen.“
„Wir müssen zurück!“, japste Ricardo verzweifelt.
„Nein!“, zischte ich. „Das Holz schafft es nicht mehr.“
„Wenn ihr bleiben wollt, dann werdet ihr hier sterben“, fauchte Leif. „Wir müssen weiter.“

Doch sie gingen nicht weiter. Ließen uns nicht in der Finsternis zurück. Denn sie waren unsere Begleiter. Das, was man in diesem Leben Freunde nennen konnte. Sie warteten, mehr oder weniger geduldig, selbst Groam. Und so wurden sie zur Stütze. Gaben den Halt, den ich in diesem schäbigen Gerüst nicht sehen konnte.
Eine lange Zeit verging, dann rappelte ich mich mit aller Kraft auf.

Die anderen nickten mir knapp zu. Doch Ricardo klammerte sich noch immer an dem Holz fest.
„Ricardo, hör mir mal zu“, begann Miyako in einem noch nie da gewesenen, beschwichtigenden Tonfall. „Es wird alles in Ordnung.“
„Nichts wird in Ordnung! Wir werden hier alle sterben!“, kreischte der Küstenstaatler schrill.
„Also, wenn du jetzt aufstehst und mitkommst, dann… dann…. Dann darfst mich einmal nackt sehen!“

Groam lachte schallend los, während Leif nur prustete „Als ob“ und ich mit meiner Beherrschung kämpfen musste, nicht ebenfalls zu lachen.
Nur Ricardo war nicht amüsiert. „Du belügst mich! Das ist nicht nett!“

Das Lachen des Zwerges hallte lange nach, wie eigentlich alles was wir sagten. Es vergegenwärtige uns trotz der schlechten Lichtverhältnisse immer wieder, wie gewaltig diese Höhle sein musste. Doch nachdem die letzten, tiefen humorigen Töne Groams verklungen waren, kehrte Stille ein. Wir mussten noch einige Zeit warten, dann konnte sich auch Ricardo gegen die Höhenangst durchsetzen. Und wir gingen weiter.

Während wir tiefer kamen, schien die Zahl der Ketten stetig zuzunehmen, etliche davon so dick wie Ankerketten der großen Handelssegler. Sie alle führten auf etwas zu, das sich allmählich schemenhaft vor uns abzeichnete. Zunächst sahen wir es von oben als eine Art Halbkugel, bis wir immer weiter auf dem brüchigen Gerüst nach unten gingen und allmählich erkannten, dass es sich um einen gewaltigen Globus handelte, der von all diesen Ketten gehalten wurde. Es mussten hunderte sein, die diesen steinernen, mehr als haushohen Koloss in der Luft hielten. Eine Konstruktion, die den eigenen Verstand durch ihre schiere Größe und unvorstellbaren Sinn verwirrte. Man konnte nicht glauben, was man sah und würde keinem erzählen können, was hier geschah. Eine riesige, steinerne Kugel, gehalten von Ketten in einer Höhle, die so riesig war, dass ein Drache in ihr würde fliegen können.

Und das hölzerne Gerüst führte zum Eingang des Globus: ein riesiger Drachenschädel, der zwar steinern aber dennoch täuschend echt war. Im Rachen des stilisierten Mauls konnten wir schemenhaft die Pforte erkennen, die hinein in das steinerne Ungetüm führte. Doch ein dunkelrotes Funkeln lag in den Augenhöhlen des Drachenschädels.
Beunruhigt blieben wir stehen. Nur noch wenige Meter trennten uns von dem Ziel dieses ungewissen Abstiegs, doch wir zögerten. Das dräuende Flackern schrie nach einer Falle. Und Niemand von uns brannte darauf, herauszufinden, ob dieses alte Gerüst das überleben würde.

Dann fasste sich Miyako ein Herz und machte zunächst alleine die nächsten Schritte in Richtung des Eingangs. Da fingen die „Augen“ des Drachen an, sich zu bewegen. Sie verließen ihre Höhlen, kamen näher. Sie entpuppten sich als feurige Sonnen, doch von einem seltsamen Eigenleben in ihrem Flackern und Schweben, sodass sie beinah lebendig wirkten.
In meinen Gedanken flackerte eine rote Rose auf – ein Dorf in Flammen; Feuer in der Mallachtéara, Feuer in Arthlinn. Und darin jene Wesen, die aus heißer Glut bestanden und Rauch atmeten. Das waren zwei Feuerelementarwesen vor uns!
Ricardo schien zur selben Erkenntnis auf Basis seiner Studien zu gelangen, während Leif neugierig, ja geradezu furchtlos wirkte. Während Miyako einige Schritte zurück tat, ging der Waelinger an uns vorbei und auf die beiden Wesen zu. Langsam, die Hände beschwichtigend erhoben, näherte er sich bis auf gerade einmal zwei Meter.

Da flammte eine Kugel binnen einer Sekunde grell auf und mit einem markerschütterndem Knall verpuffte sie in ein Flammenmeer, das über den Waelinger hinwegleckte und zu Boden warf, während eine Erschütterung durch das gesamte Gerüst lief.
Miyako wurde vor mir zu Boden geschleudert, ich ebenso und hinter mir Groam. Die Druckwelle hatte uns glatt auf unsere Rücken geworfen. Und hinter uns ein Schrei. Hastig drehte ich mich um und sah Ricardo.

Der Küstenstaatler war ebenso von der Druckwelle herumgeworfen worden und ruderte nun wild mit den Armen – doch es nutzte ihm Nichts und er glitt über den Rand der Treppe. Blankes Entsetzen verzerrte sein Gesicht und ein lauter Schrei folgte ihm bei seinem Sturz.

Fassungslos starrte ich ihm nach während der Todesschrei nachhallte. Dann das mittlerweile merkwürdig vertraute Geräusch eines knarrenden Balkens. Bedrohlich knarrend. Hastig gingen wir einige Schritte zurück, Groam leuchtete mit der Fackel und…
Wir sahen Ricardo! Der Mann hatte sich am nächsten Querbalken festgehalten! Seine Muskeln schienen bis zum Zerreißen angespannt, als er begann, sich nach oben zu ziehen. Fünf Meter war der Sturz gegangen und Ricardo schien sich bei seiner Rettung übel die Arme aufgeschürft zu haben. Doch er lebte!
Ich warf ihm mein Seil hinab und gemeinsam konnten wir den großen Mann hochziehen, wo ich mich um seine Wunden kümmerte. Anschließend warf ich auch einen Blick auf Leif, der sich von seinem aberwitzigen Vormarsch zurückgezogen hatte und etliche Brandwunden aufwies, aber ansonsten einigermaßen beisammen schien. Die beengten Verhältnisse auf der Treppe machten es allerdings nicht sonderlich leicht, sich um Wunden zu kümmern, sodass die Verbände und Heilung eher dürftig ausfielen. Anschließend sicherten wir uns alle gemeinsam mit meinem Seil, um auf den letzten Metern nicht doch noch hinab zu stürzen. Ricardo wirkte verständlicherweise traumatisiert – was von seiner einzigen Bekleidung, einem Lendenschurz, jedoch karikiert wurde.

Doch während wir beinah eine halbe Stunde damit zubrachten, uns um die Nachwirkungen von Leifs „Idee“ zu kümmern, war das zweite Elementarwesen empor bis über den Globus und über eine für uns nicht erkennbare Öffnung hinein geschwebt und verschwunden. Wir näherten uns nun vorsichtig dem Drachenmaul und traten zwischen die kräftigen Kiefer und beunruhigend lebensecht wirkenden Zähne. Dagegen war selbst die vergrößerte Variante von Gero ein Zwerg.
Miyako blieb jedoch ruhig und untersuchte mit der gebotenen Vorsicht die vor uns liegende Tür auf Fallen. Nach einigen Minuten war sie fertig und es schien, als hätten wir es vorerst geschafft und würden dieses wacklige Gerüst endlich verlassen können. Die Pforte schien des Weiteren nicht verschlossen zu sein und die KanThai stieß sie schwungvoll auf.

Wir erblickten einen kurzen Flur, vielleicht vier Meter lang und zwei breit. Er diente wohl als Eingangsbereich, denn an seinem Ende war eine weitere Tür, die wohl weiter in diese seltsame Kugel führen würde. Dankbar endlich einigermaßen festen Boden unter den Füßen zu haben, traten wir ein. Doch so schön es war, nicht mehr auf das alte Holzgerüst angewiesen zu sein: wir befanden uns innerhalb einer offensichtlich magisch erschaffenen, steinernen Kugel, die von zahllosen Ketten in einer gewaltigen Höhle gehalten wurde. Und ein Blick auf die Wände des Eingangskorridors verdunkelte mein Gemüt weiter. Links und rechts waren mehrere Männer auf Fresken dargestellt. Sie trugen ausladende Roben und hatten die Hände zur Seite hin gestreckt, die Handinnenflächen waren für uns sichtbar. Und auf allen war ein Pentagramm eingezeichnet, wie ein finsterer Schwur in die Haut geritzt. Unter diesen Hexenmeistern waren Namen in einer alten Sprache eingraviert.
„Ramoran…Scopa Vigalad. Cerillios Kronor. Landabaran, Zelotis Leukipos“, las Ricardo vor, dann hielt er inne, als müsse er einmal tief Luft holen. Ich nutzte den Moment und fragte Leif, wer all diese Menschen gewesen seien.
„Seemeister, allesamt, soweit ich mich erinnere“, flüsterte der Waelinger.
Und während ich die Augen aufriss, entsetzt darüber, dass scheinbar die schlimmsten Erwartungen wahr werden würden, nannte Ricardo den sechsten und letzten Namen:

„Rhadamanthus.“

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