(Schein) Heilig?

Es war der 12. Tag der ersten Trideade des Nixenmondes im Frühsommer, da hatten wir uns zu fünft in der Mensa des Ordenshauses versammelt und berieten darüber, wie es weitergehen sollte. Es stand fest, dass Ricardo und Leif weiter mit uns reisen würden – Groam jedoch wollte sich vorerst von uns trennen und nach Haelgarde reisen.
„Du möchtest das dortige Zwergenviertel aufsuchen, oder?“, fragte ich nach.
„Ich komme von dort“, brummte Groam Bärentod. Es war traurig genug, dass keiner von uns nach all der Zeit wusste, woher der Zwerg ursprünglich kam, sodass sich eine peinlich berührte Stille ausbreitete.

Als Feanor zu uns herantrat und uns verheißungsvoll mitteilte, dass wir ihm folgen sollten. Der Zwerg kam vorerst mit uns mit, vielleicht roch er ja Gold. So gingen wir fünf mit Feanor in dessen Büro, wo bereits ein älterer Mann auf uns wartete. Er trug feine Kleidung und hatte einen gebräunten Teint. Sogleich erhob er sich, als wir eintraten und stellte sich vor.
„Seid gegrüßt. Mein Name ist Rothilus Balmatrema. Ich bin der Vorsteher der kroisischen Handelsgilde. Ihr müsst die Gruppe sein, welche mir Feanor empfohlen hatte.“
Nacheinander reichten wir dem Chryseier unsere Hand, während Feanor es sich hinter seinem Schreibtisch gemütlich machte und beobachtete, was geschah, ohne sich weiter einzumischen. Sein Teil der Vermittlung war nun wohl erledigt.

„Ich werde etwas weiter ausholen müssen, bis ich zu dem Grund komme, warum ich euch beschäftigen möchte“, erklärte Rothilus. „Kann zufällig jemand von euch Chryseiisch lesen?“
Betretene Stille.
„Nun… dann fasse ich euch den entscheidenden Erlass zusammen. Die Patriarchen Chryseias haben beschlossen, eine Gesandtschaft in das kleine Dorf Oktrea zu schicken. Dort soll sich ein Wunder ereignet haben: ein Mann, der einen erstaunlichen Lebenswandel vollzogen haben soll, wurde beigesetzt – sein Körper weigerte sich jedoch, den Augenzeugen nach, zu verwesen. Sollte dies in der Tat ein göttliches Wunder sein, so besteht die Absicht, den Mann zu einem Heiligen zu ernennen und entsprechend Oktrea in den Status einer heiligen Stätte zu erheben.“
„Die Patriarchen sind so etwas, wie die obersten Priester Chryseias?“, fragte ich nach.
„So könnte man es beschreiben. Vielleicht sind sie vergleichbar mit den Obersten der albischen Kirgh. Sie dienen den Göttern Jakchos, Nea Dea und Wredelin. Voraussichtlich wird vor allem ein Priester des Wredelin als Gesandter nach Oktrea geschickt. Allerdings muss die Ehrwürdige Handelsgilde von Kroisos leider vermuten, dass sich hinter der Erhebung zum Heiligtum profane Profitgier verbirgt. Daher bin ich hier, um euch zu bitten, als neutrale Beobachter dorthin zu reisen.“
„Wahrscheinlich wäre es entsprechend sinnvoll, nicht als offizielle Botschafter eurer Sache nach Oktrea zu reisen?“, mutmaßte Miyako.
„In der Tat nicht. Mein Vorschlag wäre, dass ihr zunächst mit mir nach Kroisos reist und euch dort der Gesandtschaft anschließt. Die Patriarchen wollen offensichtlich, dass ihre Priester gut beschützt werden und lassen nach Männern und Frauen suchen, die sie verteidigen können, sollte das notwendig werden. Sobald wir in Kroisos angekommen sind, könnt ihr am Tempel des Wredelin Hauptmann Empallazos aufsuchen. Es ist bekannt, dass er noch nach Wachen sucht.“
„Wie lange wird die Reise von Kroisos nach Oktrea dauern?“, fragte nun Leif nach.
„Ich schätze, es werden um die vierzehn, fünfzehn Tage sein. Bedauerlicherweise gibt es aufgrund der Steilklippen im südlichen Chryseia keinen näheren Hafen – das nicht weit entfernt gelegene Thalassa ist, wie ihr sicher alle wisst, Nichts weiter, als eine gewaltige Ruine. Seid ihr also interessiert an dem Auftrag?“
„Wie wird unsere Entlohnung aussehen?“, entgegnete Miyako.
„Nun, die Gilde wird euch 500 Goldstücke pro Person bezahlen. Außerdem sollen natürlich sämtliche Unkosten erstattet werden, die ihr auf der Reise haben werdet.“
„Zugegebenermaßen bin ich ohnehin recht neugierig, was es mit diesem Bericht auf sich hat. Es wäre interessant herauszufinden, ob hier wirklich eine Gottheit eingegriffen hat, um ausgerechnet den Leichnam an der Verwesung zu hindern“, murmelte ich.
Wir tauschten in der Gruppe ein paar Blicke und nickten. Die Entscheidung war gefallen.

An dieser Stelle erhob sich Groam und brummte: „Ich werde mich an dieser Stelle verabschieden. Wenn da irgendwelche Priester irgendwo in Chryseia irgendein Wambo Jambo machen, dann soll mich das nicht kümmern. Wünsch‘ aber allseits viel Erfolg.“
Damit verschwand der Zwerg. Rothilus wirkte von der Direktheit etwas verwundert, aber er vermutete schließlich auch, dass die Patriarchen nicht ehrlich vorgingen, daher war er wohl nicht beleidigt.

„Wie ist das Ansehen der Patriarchen in der Bevölkerung?“, fragte ich an der Stelle nach.
„Es ist sehr hoch, immerhin sind sie die höchsten Diener der Götter in Chryseia. Allerdings scheinen sie in Konkurrenz zur kroisischen Händlergilde ziehen zu wollen. Ihr müsst wissen, dass Oktrea für seine feinen Goldschmiedearbeiten bekannt ist, mit denen wir regen Handel betreiben. Sollte das Dorf jedoch zum Heiligtum erklärt werden, so befürchten wir, dass sich… strukturelle Veränderungen im Produktionsprozess ergeben, die dem Patriarchat mehr Gold einbringen werden – auf unsere Kosten.“
Den letzten Satz hätte Olo wohl besser verstanden als ich, aber Rothilus meinte wohl, dass die Gilde an weltlichem Schmuck verdiente, wohingegen Geschmeide für sakrale Zwecke eine andere Geschichte war. Klar wurde jedoch die Befangenheit des Gildenvorstehers, was mich zu meiner nächsten Frage führte: „Erwartet Ihr einen zweifelsfreien Bericht darüber, dass die Heiligsprechung – sollte sie stattfinden – eine Fälschung ist?“
Balmatrema zog bei dieser Frage eine Augenbraue nach oben. „Ich erwarte einen eindeutigen und handfesten Bericht von unabhängigen Beobachtern. Aufgrund der Empfehlung Feanors dachte ich, dass ihr dazu in der Lage sein werdet.“

„Ja… das sollten wir schaffen.“

Und damit war es beschlossene Sache. Wir verabschiedeten uns noch einmal richtig, wenn auch knapp, von Groam. Dann suchten wir uns auf dem Markt in Valian noch einige, kleine Dinge zusammen, die uns auf der Reise nützlich sein könnten. Praktischerweise hatte uns der Gildenvorsteher noch einen Vorschuss von insgesamt zweihundert Goldmünzen zugebilligt, der kompensierte, dass unsere Geldbeutel zurzeit nicht gerade prall gefüllt waren. Nur einen Tag später verabschiedeten wir uns auch von Feanor und gingen an Bord eines Schiffes nach Kroisos, welches auch Rothilus Balmatrema zu seinen Gästen zählte.
Sieben ereignislose Tage an See vergingen, dann erreichten wir die große, chryseiische Hafenstadt. Wir waren bereits in Estragel gewesen, hatten den Nordrand der Melgar-Berge bereist und einen kurzen Aufenthalt in Argyra gehabt – doch diesmal setzten wir tatsächlich einen Fuß in das südliche Land des Kontinents Vesternesse, das wir bisher nur touchiert hatten. Kroisos stand von seiner Größe her ungefähr auf derselben Stufe mit Haelgarde. Doch statt Waelingern und Zwergen trieben sich hier viele Küstenstaatler, Valianer und Schariden herum. Es war warm – deutlich wärmer als in Alba zu dieser Jahreszeit. Doch im Vergleich zu Mangalwar war Kroisos deutlich erträglicher und die chryseische Stadt wirkte auch nicht gar so fremdartig.

Wir verabschiedeten uns vorerst von Rothilus Balmatrema und fragten uns zum Wredelin-Tempel durch, der sich als eines der größten Gebäude der Stadt entpuppte. Der Gott der Weisheit schien hier viel Lobpreisung zu erfahren. Mitten auf dem großen Platz vor dem Tempel befand sich auf einem Podest das Symbol des Wredelin: eine große, steinerne Eule, welche die Flügel weit ausgebreitet hatte und in ihrem Schnabel eine Schriftrolle trug.
Es dauerte nicht lange, bis wir vier – ein Waelinger, eine KanThai, ein Küstenstaatler und ein Elf, von denen nicht einer ein Wort der Landessprache konnte – auffielen. Wir fragten uns auch hier weiter durch und schließlich trafen wir vor dem großen Tempel des Wredelin auf den Gesuchten: Hauptmann Empalazzos. Der Mann zeichnete sich durch kantige Gesichtszüge heraus und strahlte bereits eine Aura aus, dass man sich wohl eher nicht mit ihm anlegen wollte. Nichtsdestotrotz begrüßte er uns mit einer vergleichsweise freundlichen Stimme. Nur eben auf Chryseiisch.

„Seid gegrüßt“, versuchte ich es hoffnungsfroh auf Comentang. „Ihr seid Hauptmann Empalazzos?“
„Ja“, erwiderte der Mann, nun ebenfalls in der Handelssprache. „Ihr sprecht wohl kein Chryseiisch, was? Was wollt ihr von mir?“
„Wir wollen uns der Gesandtschaft nach Oktrea anschließen. Es wird erzählt, dass noch Wächter gesucht werden, um die ehrwürdigen Diener der Patriarchen auf dem langen Weg zu beschützen.“
„In der Tat. Kann wirklich keiner von euch unsere Sprache? Auch nicht Schreiben?“
Allgemeines Kopfschütteln folgte, was Empalazzos etwas die Miene verziehen ließ. „Nun, ich glaube, ich könnte euch immerhin als Kämpfer gebrauchen. Zu verteidigen wisst ihr euch ja hoffentlich?!“
Diesmal erntete der gestrenge Hauptmann Zustimmung.
„Ich habe sogar einen Hütehund dabei“, stellte ich Maglos vor, was Empalazzos mit der Frage quittierte, ob ich den Hund selbst trainiert hätte.
„Nun…“, erwiderte ich zögernd. „Ich habe seine Ausbildung fortgesetzt.“
„Ah ja. Wie dem auch sei, kann einer von zu Pferde kämpfen?“
Ich schüttelte den Kopf, Miyako und Ricardo ebenfalls. Nur Leif meldete sich zu Wort: „Ja! Ich kann kämpfen und reiten.“
„Ein berittener Kämpfer?“
„Ja!“, meinte der Waelinger äußerst überzeugend, auch wenn ich etwas die Stirn runzelte. Ich kannte Leif ja noch nicht lange, aber irgendwie fiel es mir schwer, mir den Studenten als Reiterkrieger vorzustellen. Doch meine Zweifel behielt ich für mich – auch die Zweifel hinsichtlich des kleinen Steinchens, den sich der Nordmann vor seiner Aussage in den Mundwinkel geschoben hatte.
„Gut, gut. Es gibt drei Gold pro Tag Sold, außer für dich, Waelinger, für dich sind es sieben. Die Verpflegung und Unterkunft auf der Reise wird gestellt und wir brechen übermorgen auf. Nennt mir noch eure Namen, dann ist eigentlich alles gesagt, was gesagt werden muss.“

So stellten wir uns schließlich vor und wollten uns gerade verabschieden, da fragte Leif noch nach: „Ich habe gehört, es soll hier in Chryseia vorzüglichen Wein geben?“
„Ja, in der Tat“, brummte der Hauptmann.
„Welches Gasthaus könnt Ihr uns denn empfehlen, um einen guten Tropfen zu trinken und ein warmes Bett zu genießen?“
„Hm… geht am besten ‚Zu Ross und Reiter‘ in der Schimmelgasse.“

Den Rat nahmen wir an und nachdem wir eine grobe Wegbeschreibung hatten, verabschiedete sich Empalazzos dann auch von uns und kehrte in den Wredelin-Tempel zurück. Anschließend kämpften wir uns durch die Gassen Kroisos. Sie waren, wie es für eine Hafenstadt schließlich auch angemessen war, gut gefüllt und wir brauchten einige Zeit, bis wir uns durch die Massen hindurchgeschoben hatten und eine Straße erreichten, auf der allerlei Reitbedarf von Sätteln, über Gerten bis hin zu ganzen Gespannen angeboten wurde. Hier fanden wir auch das „Ross und Reiter“ vor und traten ein. Es war ein mittelfrüher Nachmittag, weswegen sich… noch gar keine Gäste eingefunden hatten. Hinter dem Tresen stand lediglich eine sehr kleine Frau.
„Hallo!“, rief sie langgezogen und auch gleich schon auf Comentang. „Wie kann man’s euch denn recht machen?“
„Also wir hätten Gerne Wein!“, entgegnete Leif blitzschnell, was die Dame ebenso rasch dazu veranlasste innerhalb eines Atemzuges eine Flasche hervorzuholen, zu entkorken und in Gläser zu schütten.
„Zimmer wären nicht schlecht“, ergänzte Miyako.
„Ach so…ja… ich hole einfach mal schnell den Herrn des Hauses!“, erwiderte die Thekendame in ihrer schrillen Stimme. Dann war sie auch schon zwischen uns durchgehastet und zur Tür hinaus verschwunden. Hinaus?!
„Ob die überhaupt hier arbeitet?“, meinte Ricardo O’Mere schmunzelnd.

Während wir warteten, konnten wir uns neben dem Wein trinken auch noch etwas unterhalten. Gerade kam heraus, dass Ricardo aus dem Küstenstaat Leonessa kam. Dessen Hauptstadt Parduna hatten wir bereits bei unserer ersten Reise nach Valian besucht. Doch ehe wir weiter davon sprechen konnte, kehrte auch schon die kleine Frau mit einem riesigen Mann zurück, der offensichtlich der Wirt und wahrscheinlich auch mit der Dame verheiratet war. Rasch hatten wir uns zwei Doppelzimmer gebucht, dann machten wir uns erst einmal wieder auf den Weg zu Rothilus Balmatrema.
Der Vorsteher weilte selbstverständlich mittlerweile im Kontor der kroisischen Handelsgilde, wo man uns zwar zunächst schräg beäugte, aber wohl Bescheid wusste – immerhin ließ man uns durch. Wohlwollend empfing uns Rothilus, auch wenn er durchaus sehr beschäftigt wirkte. Nachdem wir ihn informiert hatten, dass mit unserer Anstellung alles nach Plan verlaufen war, entgegnete er, dass auch er einige Informationen zur Gesandtschaft hatte.
„Es handelt sich wohl um zwei Gesandte des kroisischen Patriarchen. Für den Tempel des Wredelin ist dies Alexios Soma-Chrisippos, für Nea Dea Pelektrakt Tuxalarchos. Die beiden reisen jeweils mit einem theologischem Berater und einem Diener. Außerdem sind ein Schriftführer für das Protokoll und ein Arzt zur Feststellung des natürlichen Todes des ‚Heiligen‘ dabei. Dies sind allerdings die letzten Informationen, die wir herausfinden konnten. Ab jetzt seid ihr auf euch gestellt.“

Dankend verabschiedeten wir uns und nutzten die verbleibende Zeit in Kroisos, um Leif den Wunsch nach diversen „Besichtigungen“ zu erfüllen. Zwar hätte ich die große, wuselige Stadt bereits gerne verlassen, doch so sah ich immerhin einige Tempel und andere spannende Gebäude… von außen.
Am übernächsten Morgen trafen wir uns dann schließlich mit der großen Reisekolonne am Westtor von Kroisos. Empalazzos wartete bereits mit acht weiteren Söldnern, von denen die meisten aus Chryseia zu stammen schienen und zudem beritten waren. Ein Pferd stand ebenfalls für Leif bereit. Begleiten würde diese Leibgarde zwei Reisewagen, die mit Purpurbaldachinen ausgestattet waren. Die tragenden Holzpfosten waren vergoldet waren. Die Gesandten schienen nicht daran zu denken, auf solche Statusdarstellungen zu verzichten. Neben den Wagen standen die beiden Gesandten, aber auch weitere Menschen, die uns Empalazzos sogleich vorstellte, als er uns erblickt hatte. Es handelte sich dabei um den Schrift- und Protokollführer Mäandros Eugraphidos, den Arzt Narsis Kalliopolis, die theologische Beraterin für Pelektrakt: Enthylla Auricoma, sowie den Berater für Alexios: Anthroposophos Glaukus. Außerdem luden gerade die Leibsklaven der Gesandten (Ancilla und Nokis) die letzten Gepäckstücke an Bord der Wagen.
Es waren somit alle beritten oder im Wagen; Anthroposophos hatte sogar einen Esel, den er mit einer effektheischend goldbestickten Decke versehen hatte. Nur Miyako, Ricardo und ich liefen am Schluss des Trosses, was uns jedoch nicht sonderlich viel ausmachte. Der chryseiische Sommer war nicht im Ansatz so verregnet wie der Albische und zugleich verhinderte eine kühle Brise vom Meer, dass die Temperaturen ins Unerträgliche schossen.

Die ersten Tage der Reise vergingen ereignislos. Wir passten uns dem täglichem Trott an und liefen, ohne uns allzu viele Gedanken zu machen, den Weg entlang. Wir wanderten durch ein Gebiet, das die Karten Illaeia nannten; auf einer Straße, die das Meer nie aus dem Blick ließ. Möwen begrüßten uns jeden Tag aus Neue und einige schienen bald zu lernen, dass chryseiische Söldner wohl gerne einige Krümel fallen ließen.
Wir folgten der Sonne immer weiter nach Westen, bis wir am fünften Tag die Stadt Dyptiche erreichen. Die recht kleine, auf einem Hügel gelegene Stadt hatte wohl schon so manchen Abenteurer auf der Durchreise gesehen. Dem großen Tross aus Kroisos widmeten sich dennoch einige Menschen, die gerade durch die Straßen liefen. Ihre Blicke hinsichtlich der Wägen der Gesandten waren jedoch nicht so ehrfürchtig, wie ich es erwartet hätte – vielmehr erweckte es den Eindruck, dass alles andere schlicht nicht als angemessen empfunden worden wäre. Nun, ein Albai hatte einst zu mir gemeint, dass der Reichtum der chryseischen Städte sprichwörtlich wäre.

Die Kolonne machte Halt auf dem großzügigen Gelände des hiesigen Wredelin-Tempels. Wir waren früh dran und die meisten Reisenden wirkten recht munter, sodass wir nun Gelegenheit bekamen, uns etwas unter die Leute zu mischen. Wir hatten zwar bisher stolze fünfzehn Goldstücke pro Nase verdient – Leif sei ausgenommen – aber schließlich konnte uns jede Information nützlich sein, wenn wir erst einmal in Oktrea angekommen waren.
So setzte ich mich zu Narsis, dem Arzt, und versuchte Fragen zu stellen, die gerade so aus reiner Neugier entstanden sein konnten.

„Seid gegrüßt, Narsis. Ich bin Ilfarin, einer der Wächter.“
„Ah, guten Abend.“
„Ich muss zugeben, ich bin gespannt, was uns in Oktrea erwartet. Eine Leiche, die nicht verwesen soll – das erscheint mir seltsam.“
„Deswegen sind wir ja auch auf der Reise“, erwiderte Narsis lakonisch.
„Das stimmt… äh, gibt es solche Fälle öfter? Wie Euch sicherlich nicht entgangen ist, komme ich nicht aus Chryseia und kenne mich mit dem hiesigen Pantheon nicht sonderlich gut aus.“
„Also oft wäre definitiv der falsche Begriff. Allerdings erweisen uns Nea Dea, Jakchos und Wredelin durchaus ihre Gunst, indem sie solche und ähnliche Wunder vollbringen. Ich selbst habe einige, andersartige Wunder bereits gesehen.“
„Interessant! Wart Ihr dort auch als… Prüfer zugegen?“
„Das wiederum nur ein einziges Mal. Es handelte sich um eine außergewöhnliche Heilung, bei der ich nicht-göttliche Heilung ausschließen konnte.“
„Werden die meisten dieser Fälle tatsächlich als Wundertaten bestätigt? Ich könnte mir vorstellen, dass es da auch den einen oder anderen gibt, der versucht, Gewinn für sich zu machen.“
„Wenn es so weit kommt, dass Gesandte der Patriarchen zur endgültigen Bestimmung losgeschickt werden, so wurden die Fälle doch meist bestätigt. Schließlich sind auch einfache Priester in der Lage, profane Scharlatanerie aufzudecken.“
„Und wie werdet Ihr vorgehen, sobald wir in Oktrea angekommen sind?“, fragte Miyako, die gerade zu uns gekommen war.
„Es gibt einige Dinge, die festzustellen sind. Zunächst: ist der Mann überhaupt tot? Es mag bizarr erscheinen, aber mit den richtigen Kräutern kann man einiges erreichen. Anschließend wäre die eigentliche Frage des Verwesungsgrades zu klären. Ich muss euch ja nicht sagen, dass man dies leicht anhand entsprechender Gerüche, der Leichenstarre und weiterer Dinge feststellen kann. Der letzte Punkt, die Klärung des Göttlichen. Das ist schon etwas schwieriger, aber an dieser Stelle ist meine Arbeit auch abgeschlossen.“
Kurzes Schweigen folgte, in dem ich versuchte, möglichst erstaunt über das Fachwissen des Arztes zu wirken. Nicht, dass es in der Tat erstaunlich wäre, aber mittlerweile hatte ich doch gelernt, dass Menschen so etwas mochten.
Dann hockte sich Leif zu uns. Fast schon verschwörerisch fragte er in die Runde: „Hat sich nicht bereits schon jemand von euch darüber gewundert, dass wir so viele Söldner sind – bei nur zwei Gesandten?“
Der Waelinger grinste schief, um die Frage zu entschärfen, während ich gestehen musste, mich darüber noch nicht gewundert zu haben. Unsere bisherigen Reisen waren fast immer so gefährlich gewesen, dass ich mir über eine großzügige Eskorte wohl nicht mehr viele Gedanken machte.
„Ich habe die Vermutung, dass vielleicht einige Männer und Frauen in Oktrea stationiert werden sollen, falls eine Heiligsprechung stattfindet. Ein Pilgerort zieht selbstverständlich Reisende an, welche wiederum Gold mitbringen. Es wäre doch nur eine Frage der Zeit, bis das Dorf und die Gläubigen tatsächlich Schutz bräuchte.“
„Ja, ja. Da hab‘ ich auch was von aufgeschnappt“, grunzte ein vorbeigehender Söldner. Es war eine glaubwürdige Vermutung – aber auch nicht mehr als das.

Ich erhob mich schließlich und ging zu Ricardo hinüber, der gerade nach unseren Sachen gesehen hatte. „Hör mal, du kennst dich doch bestimmt mit Karten aus, oder?“
„Wie meinst du?“, erwiderte der Küstenstaatler.
„Na, du hast doch sicherlich Karten oder Würfel dabei. Bist doch ein… Student, oder wie sich regelmäßig feiernde, junge Menschen in Valian eben nennen.“
„Was? Nein, von Glücksspiel halte ich nicht so viel. Habe auch keine Karten dabei“, erwiderte O’Mere unschuldig. In dem Moment fiel mir auch zum ersten Mal auf, dass er nicht sonderlich alt wirkte…wobei ich das über jeden Menschen sage. „Wozu brauchst du die überhaupt?“
„Ich hätte gedacht, dass du dich etwas unter die anderen Söldner mischen kannst. Dann wirken wir vielleicht nicht ganz so fremdartig und seltsam.“
„Da muss ich enttäuschen… aber!“, erwiderte Ricardo mit sich aufhellender Miene. „Ich habe vier Silberlöffel dabei!“
„Ähm… und?“
„Damit kann man doch sicherlich spielen. Ein Geschicklichkeitsspiel?“
„Das wie genau funktioniert?“
„Also jeder Spieler nimmt einen Löffel und dann… nun. Vielleicht können wir ein paar Eier auftreiben?“
„Ich bin nicht sonderlich überzeugt“, erwiderte ich ernüchtert.
„Hm… hast wohl Recht. Aber wenn wir einen Vampir finden, können wir es todsicher beweisen!“
„Indem wir ihm Suppe verabreichen?“
„Genau! Du denkst mit, find ich gut.“

Das ließ ich schließlich so stehen und wand mich mit einem süffisanten Lächeln ab. Es war dann doch bereits recht spät und ich begann mir Gedanken zu machen, ob wir nicht Wachen aufstellen sollten. Wir lagerten zwar auf „heiligem“ Boden und waren zusätzlich durch Mauern geschützt… aber selbst meine Freunde attestierten mir an dieser Stelle beginnenden Verfolgungswahn und legten sich bedenkenlos schlafen. Wenig begeistert, bettete ich mich also auch zur Ruhe und versuchte mich damit zu trösten, dass mir ein Dieb ohnehin nicht viel würde stehlen können. Was bei genauerem Überlegen mittlerweile nicht einmal mehr stimmte.

Doch ich erwachte am Morgen – und all meine Sachen waren auch noch da. Maglos schüttelte sich etwas und versuchte dann die anderen zur Morgenbegrüßung übers Gesicht zu lecken. Miyako schoss selbstverständlich hoch, bevor der Hund auch nur in ihre Richtung geblickt hatte und Leif ließ sich ebenfalls nicht feucht wecken. Ricardo war bereits wach und hatte seine Sachen gepäckfertig gemacht. Auch früh aufstehen schien nicht in das zu passen, wie mir die Valianer erklärt hatten, was ein „Student“ sei.
Aber es gab wesentlich Interessanteres, was wir beim Frühstück feststellen konnten: ein dritter Gesandter hatte sich der Karawane angeschlossen. Es handelte sich merkwürdigerweise um einen Schariden namens Nublesch al-Zeloti. Er sei wohl für die Belange des Jakchos-Kultes dazu gestoßen, allerdings ohne eigene theologische Berater, Sklaven oder dergleichen. Wir sahen ihn auch nur kurz, ehe er sich zu einem der Gesandten in die mit Purpurbaldachin überspannte Kutsche begab und sich damit von uns abgrenzte. Während wir die Pferde wieder einspannten, sattelten und was noch für den Aufbruch vorzubereiten war, sprach ich mit dem Söldner Tossolos und dann auch mit Hauptmann Empalazzos über den Neuankömmling.
„Er ist genauso zu verteidigen, wie Pelektrakt und Alexios“, hielt der Hauptmann fest.
„Also gehört er auch zu den Gesandten, die das ‚Wunder‘ von Oktrea begutachten werden?“
„In der Tat. Er ist dazu bestellt worden, allerdings weiß ich nicht, ob vom Patriarchat selbst oder von den beiden Gesandten.“
„Ist er ein Jakchos-Priester, um das Pantheon vollständig zu vertreten?“
„Das kann ich nicht sagen“, brummte der Hauptmann nur und damit war das Gespräch beendet. Tossolos wusste auch Nichts mehr hinzuzufügen.

Beim letztendlichen Aufbruch fällte dann schließlich doch noch einer: Leif! Sein Pferd graste gemütlich neben seinen Sachen. Schlimmes konnte dem Waelinger seit der kurzen Zeit, die wir wach waren, nicht passiert sein und so brachen wir auf. Immerhin besaß er ja das Reittier, um uns schnell einzuholen – was er dann auch eine Stunde später schaffte. Er brachte einen leichten Geruch nach Wein mit sich, was ich schmunzelnd den anderen mitteilte. Ricardo erboste sich kurzerhand über Trunkenheit am Zügel, allerdings war er noch eine Kleinigkeit gegen Empalazzos, der den Waelinger kurz, aber scharf für seine Verspätung maßregelte. Da jedoch Nichts weiter passiert war, blieb es bei der mündlichen Aussprache und wir konnten uns den Rest des Tages mit Leif darüber unterhalten, was es alles für Weine in Chryseia gab. Der Waelinger hatte wohl eine schnelle Weinprobe hinter sich gebracht und konnte uns nun alles Mögliche über Trauben, Anbauorte und den „Abgang“ erzählen. Ganz schönes Getue um zermatschte Früchte, die zu lange in der Sonne gestanden hatten.

Am Abend wurden wir in einem kleinen Örtchen im Gasthaus „Zur Weintraube“ empfangen. Es schien sich schnell herumzusprechen, dass einige Gesandte und Priester der Patriarchen hier waren. Den einfachen Gläubigen schien das wie etwas äußerst Besonderes vorzukommen. Der Wirt kredenzte gar seinen besten Wein, wie er nicht müde wurde zu versichern. Auch der frisch gebackene Sommelier Leif rang sich ein anerkennendes Stirnrunzeln ab, als er einen Schluck gekostet hatte. Ich nahm mir ein Glas zur Tarnung, dann suchte ich mir in unserer Reisegesellschaft etwas Kontakt – ebenso wie die anderen; der Vorsatz des Vorabends stand noch.
Ich sprach diesmal mit der theologischen Beraterin Pelektrakts: Enthylla Auricoma. Die Frau wirkte bereits etwas gesetzter im Alter, aber noch lange nicht wirklich alt. Immerhin hatte sie auch die letzten Tage im Sattel verbracht, anstatt im gemütlichen Reisewagen mitzufahren.

„Guten Abend, Enthylla“, begrüßte ich sie und stieß dabei mit dem Wein an.
„Guten Abend…“
„Ilfarin. Wisst Ihr, ich habe gehört, dass Ihr euch in solchen Dingen vortrefflich auskennt… daher bin ich bei Euch wohl mit meiner Neugier gut aufgehoben.“
„Fragt nur“, erwiderte Enthylla.
„Dieses Wunder, was begutachtet werden soll. Das ist doch Nichts, was einem gewöhnlichen Gläubigen nach fünfzig Jahren wiederfährt, oder? Er muss doch etwas Bedeutendes geleistet haben.“
„Das ist richtig, allerdings wissen wir auch noch nicht allzu viel. Es ist schließlich kein Tagesmarsch von Kroisos nach Oktrea. Man sagte etwas von einem erstaunlichen Lebenswandel; der Mann soll am Ende seines Lebens Eremit gewesen sein.“
„Oh ja! Das erzählt man sich“, rief die vorbeigehende Magd aus und hielt inne, um uns Wein nachzuschenken. „Es sind sogar bereits schon Pilger auf dem Weg. Und einer, der kam wieder zurück und der hatte Erde dabei. Er hat gesagt, dass die vom Grab des Mannes gewesen sein soll, ja genau! Die will er über seinem Acker verstreuen und nächstes Jahr dann, dann, dann werden die Pflanzen bestimmt äußerst hoch wachsen! Der Segen der Götter liegt schließlich darauf!“
Nach diesen, etwas leichtgläubigen, Worten zog die Markt weiter herum und suchte gefährlich leere Weingläser.
„Interessant… aber noch eine Sache wundert mich, Enthylla. Wenn ich fragen dürfte: was ist mit Nublesch? Der Glaube an Jakchos stammt doch aus Chryseia, wie wurde da ein Scharide zum Priester?“
„Das kann ich dir leider auch nicht sagen. Er hat eine Verbindung zum Kult, ist aber meines Wissens nach kein Priester. Er interessiert sich aber sehr über den Toten, das kann ich sagen.“
„Aber ist Jakchos nicht der Gott des Weines? Welches Interesse dürfte sein Kult an einem Eremiten haben?“
„Das ist wirklich etwas merkwürdig“, bestätigte Enthylla nachdenklich. „Eine gute Frage.“

Bei dieser Feststellung blieb es aber vorerst und so erhob ich mich nach einem weiteren Zuprosten und kam mit Miyako, Leif und Ricardo zusammen.
„Solche Konklaven sind wohl äußerst selten“, begann die KanThai. „Und bisher haben sie in den meisten Fällen für eine Heiligsprechung gestimmt. Wir sollten also damit rechnen und besonders aufmerksam sein, ob irgendwelche Tricks gespielt werden.“
„Gerade weil die Gesandten wohl nicht aus höchster Frömmigkeit in ihr Amt gekommen sind. Alexios ist ein Schnösel und nicht einmal ein Priester. Er ist wohl nur durch seine einflussreiche Verwandtschaft in seine Position gekommen. Pelektrakt ist zwar Priester, war aber vorher Rechtsgelehrter und scheint nicht schlecht verdient zu haben. Einige der Jungs sagen, er habe sich sein Amt erkauft!“
„Hm, nicht gerade vertrauenserweckend“, erwiderte ich und erzählte knapp, was ich herausbekommen hatte. Ich schloss damit, dass ich Nublesch ansprach. „Irgendwas ist an dem Schariden dran, das mich skeptisch macht. Eine dubiose Verbindung zum Jakchos-Kult, nicht einmal ein Priester und höchstens an dem Toten interessiert.“

Auch die anderen wirkten nachdenklich. Doch vorerst blieb es bei der unausgesprochenen Übereinkunft, diesen Gesandten besonders im Auge zu behalten, sofern das möglich war. Den Rest des Abends verbrachten wir mit eher belanglosen Gesprächen, zumindest für meinen Teil, mit den Söldnern. Ich traf dabei auf Obaidon, den einzigen Wächter außer uns, der nicht aus Chryseia stammte. Allerdings war er als Küstenstaatler auch nicht gerade jemand, der auffiel.

Als wir am nächsten Tag aufbrachen, bemerkten wir, dass wir erneut Gesellschaft gefunden hatten. Diesmal war es jedoch kein offizieller Anschluss, sondern ein Händler, der ebenfalls auf den Weg nach Oktrea war und sich uns daher anschloss. Wir ließen uns etwas zurückfallen, um mit ihm zu sprechen. Der Mann wirkte mit seinen feinen Kleidern und dem gemütlichem Bauchansatz nicht gerade unerfolgreich; auf seinem Wagen hatte er jedoch nur Amphoren. Die dazu noch leer waren.
„Seid gegrüßt. Ihr seid also auch auf dem Weg nach Oktrea?“
„Ja, Oliton Chalkis mein Name. Es gibt einen sehr guten Imker dort, bei dem ich Honig kaufen möchte.“
„Laufen die Geschäfte denn gut?“
„Ich kann mich nicht beklagen, ist nicht meine erste Reise in den Süden.“
„Wann wart Ihr denn das letzte Mal in Oktrea? Ihr habt ja sicherlich bereits von dem Wunder gehört…“
„Da war ich schon auf dem Weg, den Honig zu verkaufen, als ich die ersten Gerüchte hörte. Ich bin ja mal gespannt, ob da wirklich was dran ist.“

Doch vorerst blieb die Ungewissheit. Unsere Reise führte uns weiter, eine gut ausgebaute Handelsstraße entlang, durch die Landschaft Stratonika hindurch und vom Meer weg, bis wir in hügeligeres Gelände kamen. Die Landschaft wurde trockener; harte, knorrige Büsche an den Wegesrändern begannen grüne Bäume zu überwiegen. Diesen Landstrich nannte man wohl Myriosmos und es lag nördlich der riesigen Gebirgszüge im Süden Chryseias. Wir fanden am Abend des achten Tages unserer Reise einen Lagerplatz in der Stadt Tyre. Vielleicht wäre der Begriff Dorf passender gewesen, doch wenn sich die Bewohner so besser fühlten, sollte es mir recht sein. Ohnehin blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn wir wurden ebenso begeistert aufgenommen, wie im Gasthaus „Zur Weintraube“. Ein Fest zu Ehren des Weingottes Jakchos stand an und kein Chryseier schien in seinem Haus versauern zu wollen. Gelb-Rot-Blaue Stangen waren rund um den Hauptplatz aufgestellt und wurden bald zum Fixpunkt einer tanzenden Meute, nachdem ein Priester des Kultes den einleitenden Segensspruch beendet hatte. Was genau der Mann sagte, konnte ich ohne Chryseiisch nicht verstehen, allerdings spürte ich auch keine Woge göttlicher Macht, als er seine letzten Sätze beendet hatte – es schien also nicht allzu spektakulär gewesen zu sein.
Aber dann ließ ich es auf einen Versuch ankommen und gesellte mich zu dem Mann, der sich gerade auf den Weg zu den Gesandten machte. „Einen kurzen Moment, verehrter Herr“, hielt ich ihn auf. Lächelnd und mit bereits leicht geröteten Wangen kam der Priester meiner Bitte nach und antwortete mit einer weinlastigen Stimme gedehnt: „Ja? Wie kann ich helfen?“
„Ich bin etwas neugierig, müsst Ihr wissen… in unserer Gesellschaft reist ein Vertrauter der Priester des Jakchos; Nublesch al-Zeloti.“
„Hm, ja, das habe ich auch gehört. Ich weiß aber Nichts über den Mann, kommt immerhin aus Eschar, das ist weit weg, wisst Ihr.“
„Das stimmt! Aber ist das denn nicht ungewöhnlich? Ein Scharide, der einem chryseiischen Gott folgt?“
„Die meisten glauben da unten an etwas anderes, ja. Aber wer kann sich einem Gott des Weines schon verwehren?“, erwiderte der Mann lachend. Ich beschloss, es dabei zu belassen. Der Priester mochte zwar recht intelligent sein, aber nicht sonderlich weit gereist. Was in diesem großen Dorf oder kleinen Stadt nicht unbedingt verwunderlich war.
Ich setzte ich mich also zu den anderen an die lange Tafel, die längs der Mitte des großen Platzes aufgestellt worden war und sich beinah unter der Masse an Speisen nach unten bog. Hundert oder vielleicht sogar mehr Menschen hatten hier Platz genommen und aßen, tranken und feierten gemeinsam. Dies waren die angenehmsten Momente, die man inmitten der Menschen erleben konnte – auch wenn ich angesichts der ausufernden Völlerei bald meine Meinung ändern sollte. Vorerst wandte ich mich jedoch dem Dorfältesten zu, der nicht weit weg bei den Gesandten saß und über die jüngsten Ereignisse berichtete.
„Man sagt, dass sich in den Hügeln Lumpengestalten zusammengetan haben. Bettler und Versehrte mit Nichts außer ihrem Leib in dürftiger Kleidung, die sich wilden Ausschweifungen hingeben, wo sie nur können. Sie folgen einem Mann, den sie den ‚Mystagogen‘ nennen. Sie selbst bezeichnen sich als Kinder des Jakchos…“
Die folgenden Worte schienen mehr an die Gesandten selbst gerichtet zu sein und drangen nicht mehr an den schmatzenden und rülpsenden Gestalten vorbei bis zu mir vor. Glücklicherweise saß ein ebenfalls recht weit gereister Mann in meiner Nähe: Otilon Chalkis!
„Habt Ihr das gerade gehört?“
„Die Kinder des Jakchos? Ja, ja, das kriegt man auf den Straßen so mit. Diese ‚Kinder‘ folgen dem Mystagogen wohl nach Süden.“
„Nach Oktrea?“
„So scheint’s. Ihr Anführer soll schon einige Wunder vollführt haben. Vielleicht einfach nur ein Scharlatan, aber wer weiß… zumindest hält er sich selbst wohl für jemanden, der mit den Göttern Kontakt hat. Er prophezeite, dass Sofeth in Oktrea heilig gesprochen werden wird.“
„Sofeth? Ist das der Tote?“
„Genau, das ist sein Name.“

Anschließend glitt das Gespräch in weniger spannende Untiefen ab, während die Feier langsam an Fahrt gewann. Schließlich wurde es jedoch für die Mitglieder der Gesandtschaft Zeit, sich zu Bett zu legen, wenn man am nächsten Morgen wieder aufbrechen wollte. Leif blieb noch etwas hartnäckiger und trank das eine oder andere Glas Wein mehr und begann auch zu tanzen. Ricardo verlor ich kurzzeitig aus den Augen, aber ich bezweifelte, dass der junge Mann etwas wirklich Unanständiges tun würde.
Nach den letzten Tagen wirkte es an den kommenden beinah verwunderlich, dass wir in den nächsten Dörfern nicht mit Wein und Gesang empfangen wurden, sondern wie eine gewöhnliche Gesandtschaft durch die Lande zogen. Doch wer erhöhtes Interesse daran hatte, sich den einen oder anderen Schluck zu genehmigen, der schaffte das auch. So nuckelte Leif regelmäßig an einem Beutel, der eigentlich Wasser beinhalten sollte, aber eine allmählich errötende Wirkung auf die Wangen des Waelingers hatte. Ich verzichtete darauf, ihn anzusprechen, aber er machte mich seinerseits immerhin freundlich (und zugegebenermaßen auch etwas undeutlich) darauf aufmerksam, dass ihm etwas aufgefallen sei: „Du, Ilfarin… isch hab mich ein bisschen mid den Leuden hier unterhalten. Diese Chryseier… die benutzen tatsächlich einen etwas abgewandelten Kalender als wir. Und die Tage, die berechnen sie auch noch anners! Kannsd du dir das vorstellen? Komische Menschen, das sag ich dir…“
„Konntest du herausfinden, woran das liegt?“
„Nein, Mann!“, erwiderte er gedehnt. Und dann setzte er flüsternd hinzu: „Ich glaube, die sind hier einfach alle etwas… verwirret.“

Dabei blieb es jedoch, da mir leider die Grundlagen fehlte, um die gar nicht mal uninteressante Feststellung Leifs diskutieren zu können. Ich hatte ein Gespür für die die Jahreszeiten, aber wozu komplexe Berechnungen anstellen, um zu wissen, in welchem Jahr man sich genau befand?
Doch der Waelinger schien sich auch noch mit weiteren Dingen beschäftigt zu haben und wirkte nun, da er etwas konzentrierter war, schlagartig nüchtern: „Ich habe außerdem mit dem Schriftprotokollführer Mäandros Eugraphidos über das Konklave gesprochen. Er meinte, dass es vor allem wegen Alexios und Pelektrakt stattfinde. Sie haben scheinbar auf die Patriarchen eingewirkt, dass man sich der Sache tatsächlich annehme.“
„Das ist interessant“, murmelte ich. Doch das war wieder alles, was ich vorerst vorzubringen wusste. Es gab allerlei Indizien, dass irgendwas mit dieser gesamten Gesandtschaft und der Konklave nicht stimmte, was insbesondere an den drei Männern des Patriarchats selber lag. Doch noch schien es mir, als hätten wir nicht einmal die Hälfte aller Teile dieses Rätsels gelüftet. Was blieb, war unsere Aufmerksamkeit hoch zu halten und zu hoffen, dass wir die Lösung finden würden, bevor es zu spät war.

Was uns zu diesem Zeitpunkt auffiel, waren zwei, gerade einmal in Lumpen gekleidete Gestalten, die unserem Tross folgten. Ich vermutete zunächst, dass es „Kinder des Jakchos“ sein könnten, verwarf das angesichts ihres traurigen Anblicks jedoch. Die beiden besaßen nicht ein Gepäckstück, wirkten verdreckt und ausgehungert. Daher ging ich zunächst vorne zu unseren Wagen und ließ mir etwas Brot geben. Dann ließ ich mich zu den beiden zurückfallen.
„Wer seid Ihr?“, versuchte ich es auf Comentang.
„Überfall“, erwiderte einer; es waren ein Mann und eine Frau. Und offensichtlich sprachen sie beide kein besonders gutes Comentang.
„Wer hat euch überfallen?“
Die beiden schüttelten nur den Kopf.
„Ihr reistet nach Süden?“, versuchte ich es anders.
„Ja. Oktrea.“
„Zu dem Wunder?“
Nicken war die Antwort. Ich ging die Möglichkeiten durch, die sich auf dem Wege boten und fragte dann: „Kinder des Jakchos?“
Die beiden rissen die Augen auf und schüttelten ängstlich den Kopf.
„Kinder euch überfallen?“
„Ja!“, murmelte der Mann. „Alles weg.“
„Wann?“
„Zwei Tage. Auf Straße.“
„War der Mystagoge dabei?“
Die beiden runzelten die Stirn, schienen mich aber nicht verstanden zu haben. Mehr wussten sie auch wahrscheinlich nicht, man führte in der Regel keine langen Gespräche mit Wegelagerern. Allerdings verdüsterte diese Erkenntnis deutlich das Bild von den ohnehin etwas obskur erscheinenden „Kindern“. Ich übergab den beiden schließlich das Brot, was ich genommen hatte und verabschiedete mich mit dem Hinweis, dass sie mich weiter vorne finden würden, falls sie noch etwas brauchten.

Dann erreichten wir schließlich Oktrea. Es war ein in der Tat kleines Dorf, gerade einmal die Ansammlung einiger, weniger Häuser, die hier an der Küste lagen. Das Rauschen des Meeres drang an unsere Ohren, während wir die Straße entlang marschierten, die zwischen zwei Hügeln voller Weinreben verlief. Der Weg führte uns zum Kern der Ortschaft, in der ein Gebäude besonders hervorschien: es war eine regelrechte Villa, die sich auf einer Anhöhe befand und exzellenten Ausblick auf den Ozean bieten musste. Im Vergleich zu diesem Anwesen verblassten die anderen Gebäude gerade zu.
Die Wagen wurden vor der Villa abgestellt und die Pferde angebunden. Während wir damit beschäftigt waren, wurden die Gesandten und ihre Begleiter bereits von einer etwas älteren Frau und einem Mann empfangen und führten ein Gespräch. Hauptmann Empalazzos nahm dann kurz uns und die anderen Söldner zur Seite.
„Das ist Frau Lukah Senenna, ihr gehört dieses Anwesen, auf dem wir großzügigerweise Quartier beziehen dürfen. Der Mann neben ihr ist der Dorfälteste Anchises. Ich glaube, es ist selbstverständlich, dass ihr den beiden mit demselben Respekt gegenübertreten werdet, wie den Gesandten selbst.“
Zustimmendes Gemurmel ging durch unsere Reihen, dann folgten wir dem Hauptmann ins Innere der Villa. Deren erster Teil war durch einen Innenhof geprägt, an dessen Rand ein Rundgang verlief, über den man verschiedene Zimmer betreten konnte. Es handelte sich um ein äußerst großes Gelände, wie mir auffiel. Größer, als ein einzelner Mensch es brauchen konnte, wenn man es wirklich durchdachte. Doch das war gerade einmal der erste Teil. Durch eine Pforte kam man an der Innenmauer vorbei, die die Villa in zwei Hälften aufteilte. Auch hier gab es einen Rundgang, um den Innenhof, der wohl zu so etwas einlud, was ältere Menschen als „Lustwandeln“ bezeichneten. Auffällig war der Ausblick auf den Raum am Kopfende des Geländes. Es handelte sich um einen großzügig bemessenen Speisesaal, wenn ich die Liegebänke und Tische richtig interpretierte. Durch ein Fenster konnte man direkt auf das Meer sehen, in dem sich die noch am Himmel stehende Sonne glänzend spiegelte. Es liefen einige Diener herum, um uns als Gäste zu empfangen, während sich in der Nähe von Lukah ein Mann hielt, der auf ein Fingerschnippen zur Stelle war, ansonsten aber eins mit der Villa wurde. Die Frau hatte scheinbar einen Leibsklaven, dessen Name wir später herausfanden: Thetal.
Während sich die eigentliche Gesandtschaft mit Lukah und Anchises zurückzogen, wurden wir Wächter in ein eigenes Zimmer gebracht. Die Unterkunft war recht eng bemessen, wenn man bedachte, dass wir zwölf Personen und ein Hund waren – insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass jeder aus der Gesandtschaft allein ein Zimmer bekam, welches dieser Dimension entsprach. Dafür waren die Betten weicher als jedes Moospolster und die restliche Ausstattung des Zimmers die reinste Demonstration von Reichtum. Die Bettlaken waren sogar mit Rosenöl beträufelt worden.
Wir verstauten unsere Sachen und unterhielten uns dabei etwas mit den anderen Söldnern. Wir erfuhren dabei, dass Luka Senenna wohl eine Philosophin aus Valian war, die mittlerweile genug Reichtum besaß, um hier in Chryseia einige angenehme Jahre verbringen zu können. Dann trat Empalazzos herein. „Männer, ihr habt jetzt etwa drei bis vier Stunden Freizeit. Macht, was ihr wollt, aber seid dann wieder hier. Frau Senenna empfängt uns heute Abend formal mit einem großzügigem Mahl.“

Binnen weniger Minuten hatten wir uns allesamt im Dorf verstreut, nachdem wir festgestellt hatten, dass es kein Gasthaus gab, das als erste Anlaufstelle hätte dienen können. Ich für meinen Teil hielt die Augen offen, ob ich einen unserer Mitreisenden entdeckte. Aber weder von den beiden Überfallenen noch von Oliton… doch, da sah ich seinen Wagen stehen. Die Amphoren fehlten zwar, doch das Gefährt stand eindeutig bei einem der Häuser. Ich vermutete, dass dies der Imker sein würde, von dem der Händler gesprochen hatte und klopfte.
Ein Mann von etwas gesetzterem Alter öffnete die Tür. Seine Kleidung und das, was ich vom Inneren des Hauses erkennen konnte, sprach dafür, dass er offensichtlich nicht am Hungertuch nagen musste.
„Ja?“
„Seid gegrüßt, ich bin Ilfarin. Ich hatte Oliton auf dem Weg hierher getroffen und nun seinen Wagen gesehen, da dachte ich, er ist wahrscheinlich hier. Ihr müsst der Imker mit dem vorzüglichen Honig sein, von dem er mir erzählt hat?“
„Ah, ja. Mein Name ist Palmides Kanostes. Kommt doch herein, Oliton ist auch hier.“
Ich folgte der Einladung und betrat das Haus. Es handelte sich nicht unbedingt um den klassischen Laden mit getrenntem Verkaufsbereich, wie man es aus den Städten kannte. In Oktrea musste man wohl selbst herausfinden, wer was verkaufen konnte. Was für die wenigen Anwohner wahrscheinlich nicht schwer war. Der Honighändler saß hier bereits auf einem Stuhl bei Tisch. Die beiden hatten etwas Brot mit Olivenöl genossen, wie ich sah, aber wahrscheinlich war es um eher geschäftliche Angelegenheiten gegangen.
„Euer Honighandel muss gut laufen, euer Haus ist wohl eingerichtet“, kommentierte ich meine Beobachtungen.
„Ja, der Honig, richtig“, erwiderte Palmides.
„Dürfte ich welchen kaufen? Oder gebt Ihr nur größere Mengen an Händler wie Oliton ab?“
„Nein, sehr gerne.“ Und nach diesen Worten ging der Imker zu einer Theke und holte ein Glasgefäß hervor, das mit dem zäh verlaufenden, goldenem Sirup befüllt war. Für wenige Silberstücke wechselte der Honig seinen Besitzer, dann versuchte ich nebenbei an ein paar Informationen zu kommen.
„Palmides, auf der Reise hierher habe ich einiges über das Wunder gehört, das hier in Oktrea geschehen sein soll. Ein gewisser Sofeth, dessen Leiche sich weigert, zu verwesen?“
„Ja, in der Tat. Das soll in der Einsiedelei geschehen sein. Allerdings weiß ich nicht viel darüber, außer dass der Mann selbst ein Eremit gewesen war. Er hat wie die meisten anderen dort ein Schweigegelübde abgelegt.“
„Sonst habt Ihr auch nicht mehr über ihn gehört? Ich glaube, der Mann soll eine Verbindung zu Jakchos haben!“
„Ein Eremit, der sich zum Gott der Feiern bekennt? Also, Ilfarin, ich glaube nicht, dass das stimmt. Aber ich weiß wirklich nicht mehr darüber.“
„Dann möchte ich euch beide nicht weiter aufhalten, ihr werdet sicher einiges Geschäftliches zu besprechen haben!“
Mit einem Handschlag verabschiedete ich mich von Oliton und Palmides und ging noch etwas mit Maglos durch den kleinen Ort spazieren, ehe ich mich auf den Rückweg machte. Dabei traf ich auf Miyako, die vom Strand kam. Sie berichtete, dass sie dort einige Spuren gefunden hatte, aber nicht gänzlich zuordnen konnte, wer oder was diese verursacht hatte. Stirnrunzelnd folgte ich ihr dann weiter in die Villa, wo wir schließlich Ricardo und Leif fanden. Der Waelinger konnte uns noch erzählen, dass er bei dem Goldschmied Pantagoras Praxitos gewesen und zusammen mit ihm zum Senenna-Anwesen gegangen war. Allerdings war dabei wenig mehr herausgekommen, als dass Leif nun wusste, dass der junge Mann unglücklich in eine Dame namens Alraffa verliebt war.
Also hatten wir unerklärliche Spuren im Sand, einen toten Eremiten, dessen Körper angeblich unversehrt blieb, einige Menschen in unklaren Beziehungen zu Jakchos (die „Kinder“ und Nublesch), die sich für dieses „Wunder“ brennend interessierten, sowie zwei Gesandte der Patriarchen, die beide nicht gerade aus Bußfertigkeit heraus in ihre Posten gekommen waren und sich sehr für dieses Konklave eingesetzt hatten.

Zunächst stand jedoch das Abendessen in der Senenna-Villa an. Aufgetischt wurde in dem großen Raum, der eine offene Front zum Meer in besaß. Ausgestattet war er vorwiegend mit niedrigen Tischen und Liegesofas, auf denen wir Wächter eher gedrängt saßen, während die zentralen Persönlichkeiten der Gesandtschaft und aus Oktrea bei einem eigenen, etwas abgetrennten Triclinium liegen konnten und von Lukahs Leibsklaven ohne Frage direkt erhielten, was sie forderten. Dort hatten es sich neben Pelektrakt, Alexios und Nublesch natürlich auch Lukah und Anchises bequem gemacht. Aber auch der Imker Palmides und der Goldschmied Pantagoras hatten Platz gefunden. Doch da war schließlich noch eine achte Person: er fiel etwas aus dem Rahmen, trug er doch keine feine Kleidung, sondern grob gewebten Stoff sowie einige Fetische aus Federn, Knöchelchen und Horn.
„Wer ist das?“, fragte ich einen Söldner neben mir.
„Das ist Had y Rhydd, ein twyneddischer Schamane aus Fuardain, wenn ich es richtig mitbekommen habe.“

Fuardain? Der Mann war weit weg von zu Hause, lag dieses Land doch noch weiter nördlich als Clanngadarn. Und ein Schamane… diese Menschen erkannten zumindest die uns umgebende Kraft des Lebens, wenngleich sie sich jedoch im Wissen um die Naturgeister verloren und sie auf eine Stufe mit Göttern stellten, anstatt das große Ganze zu sehen. Aber was wollte ein solcher Wunderwirker hier im Süden, wenn es um eine Heiligsprechung im chryseiischen Namen ging? Allerdings, was trieb es einen elfischen Druiden hierher? Es mochte Zufall sein, oder Neugier, die Had y Rhydd hierhergetrieben. Anders konnte ich mir diesen merkwürdigen Umstand nicht erklären. Auch wenn das noch immer offen ließ, warum ein Schamane bei der hohen Dame von Oktrea zu Tisch saß.

Und was auf diesem Tisch lag: extravagante Speisen, die von einem Diener laut und in schillernden Worten angepriesen wurden. Fische und Muscheln aus den Tiefen der See, Nüsse, Kräuter und Wurzeln von Orten, die ich noch nie gehört hatte und all dies in seltsamsten Konzeptionen, die meiner Erwartung nach nur ein blinder Koch zusammenbringen konnte. In überschaubaren Portionen kredenzt, waren diese Gerichte immer noch teurer, als das, was andere in einem ganzen Jahr aßen. Während sich manche von uns wieder an ihren alten Stand erinnert fühlten und es genossen, hatte ich Mühe, diese Ausschweifung auszuhalten.
Etwas später kam noch Oliton Chalkis zum Essen hinzu. Einen kurzen Moment gewann er durch seine Verspätung die Blicke der Anwesenden, doch dann wendeten sich schon wieder alle ihren Speisen zu und er konnte sich ohne größere Unannehmlichkeiten dazugesellen und fiel nicht weiter auf.

Und noch immer hing der Vorhang des Alltäglichen über dem Geschehen. Kaum mehr eine Illusion, übersät mit Flicken aus Täuschungen und durchzogen von Löchern, die einen Blick auf das ermöglichten, was dahinterlag: eine ungewisse Düsternis, die vom Betrachter mit jenen formlosen Schrecken angefüllt wurde, wie sie nur Befürchtungen und Unwissen schmieden konnten. Doch beharrlich wurde an dem Vorhang gezupft, bisweilen gezogen. Und es begann sich zu offenbaren, was dahinterlag.

Das Essen war beinah zu Ende, die Aufmerksamkeit der Anwesen verschob sich deutlich in Richtung der anderen Gäste und Gespräche wurden laut – da kamen einige, seltsame Gestalten durch den zweiten Innenhof herangelaufen. Einer der Diener eilte ihnen voran und Miyako, Leif, Ricardo und ich zögerten nicht, aufzustehen und uns ihnen in den Weg zu stellen. Immerhin waren wir offiziell als Wächter angestellt und diese Gruppe wirkte nicht gerade, als wäre sie eingeladen: sie waren zu fünft, dreckig, mit verfilztem Haar und trugen kaum mehr als Lumpen. Ihr Anführer zeichnete sich durch etwas aus, das wohl einst eine rote Schleppe gewesen war, nun jedoch nicht mehr als ein roter Fetzen. Sein Hals wirkte seltsam schief und die gesamte Körperhaltung ungesund bis unnatürlich verkrümmt. Und über den Boden zog er ein rostiges Schwert, womit er ein scharrendes, unangenehmes Geräusch erzeugte.
„Meine verehrtesten Grüße an die edelsten Damen und Herren in dieser wunderschönen Villa“, hob der Anführer der Lumpengestalten mit schnarrender Stimme an. „Wir sind die Kinder des Jakchos und wollen Euch eine Darbietung unserer Geschicklichkeit anbieten, um diesem wunderbarsten Abend eine eigene Note hinzuzufügen.“
Es folgte ein Moment der Stille, während sich die Gesandten rasch und leise unterhielten. Dabei entging uns nicht, dass der Mann vor uns einen langen Blickaustausch mit Nublesch unterhielt.
„Wer seid Ihr überhaupt?“, verlangte ich zu wissen.
„Oh, ich bin der Anführer der Kinder des Jakchos. Mein Name ist Synistes.“
Der Mystagoge.

Ich konnte es zu diesem Zeitpunkt nicht sagen und bin mir bis heute nicht sicher. War das vor uns jener Mann, an den man gedacht hatte, wenn von seltsamen Wundern, Prophezeiungen und einer Sekte gesprochen wurde? Auf bizarre Weise wirkte es passend, doch hier traf sich Seltsames bis Komisches mit einer Aura des Unheilvollen. Bereits einen kurzen Blick des Mystagogen fand ich auf seltsame Weise unangenehm.
Lukah und die Gesandten entschlossen sich, den Mann gewähren zu lassen, der daraufhin nur ein entgegrenztes Lächeln aufsetzte und in die Hände klatschte. Zwei seiner Männer, die noch erbarmungswürdiger aussahen als er selbst, begannen daraufhin einen wilden „Tanz“, bei dem sie unaufhörlich auf und nieder sprangen, dass es beinah ekstatisch bis wahnsinnig wirkte. Die anderen „Kinder“ holten dann einen Korb hervor.
„Oh, verehrteste Männer und Frauen, welche ihr an diesem wunderschönen Abend in solch frivoler Gesellschaft zu Sitzen geneigt seid!“, rief Synistes wieder aus. Und während ich noch immer distanziert war, fast schon ängstlich, da trat Leif mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht hervor. Er schien zu sehen, was er sah und das waren fünf eher abgehalfterte Taschenspieler. So manches Mal brauchte man wohl die Arglosigkeit eines Menschen, um zu handeln.
„Ich bin bereit“, verkündete der Waelinger volltönend, was der Mystagoge mit einem breiten Lachen quittierte.
„Großartig, großartig! Ein Mann des Nordens, nicht wahr? Ein Reiter der Wellen in einem Boot, das aus Drachen gemacht…vorzüglich! Setzet Euch nun, edler Herr, in diesen Korb!“

Der Aufforderung folgte Leif ohne Zögern und machte es sich irgendwie in dem großen Korb bequem, den die Helfer Synistes‘ herbeigeschafft hatten. Kaum war der blonde Haarschopf untergetaucht, wurde ein Bastdeckel über ihn gelegt.

„Sehet nun!“, lachte Synistes schallend los und rammte mit einer schwungvollen Bewegung das rostige Schwert mitten durch den Korb. Raunen ging durch die Menge, einige schlugen sich die Hand vor den Mund – denn ein lautes Quieken ertönte, das elende Schreien eines verendenden Wesens. Dann trat der Mystagoge weiterhin lauthals lachend den Korb um und ein blutendes, durchbohrtes Schwein rollte aus dem Inneren hervor.

Die Gesellschaft sprang auf, laute Schreie ertönten. Das Blut des Schweins floss über die Fliesen im Innenhof. Überraschung machte sich ebenso Luft wie Zorn und erste Drohungen wurden durch die Villa gebrüllt. Doch Synistes hob nur gebieterisch die linke Hand und warf sogleich mit der rechten ein Seil nach oben, welches stehenblieb, als hätte es Halt gefunden – denn es in der Luft jedoch nicht gab. Der Schausteller kletterte geschickt nach oben… und verschwand, sobald er die Spitze erreicht hatte! Die Menge verstummte; ungläubig, aber nicht andächtig. Dann rutschte ein uns nur zu bekannter Mann aus dem Nichts hervor und das Seil hinab: unversehrt tauchte Leif wieder aus; doch er wirkte nicht weniger verwirrt als wir anderen.

Ricardo klatschte. Doch er blieb der einzige, der dieser Darbietung Beifall zollte, und schob nach wenigen Sekunden seine Hände verlegen in die Hosentaschen.
Es blieb einige Momente still, dann begannen die Anwesenden miteinander zu tuscheln, während die „Kinder des Jakchos“ ihren Korb und das Schwert nahmen und sich davonmachten. Etwas zu schnell für meinen Geschmack. Ich erinnerte mich dabei an ein Geschenk, das mir einst ein paar mehr oder weniger verrückte Zauberer gemacht hatten, und lief rasch in unser Zimmer, wühlte in meinem Rucksack und folgte den Lumpengestalten aus der Villa heraus. Miyako und die anderen folgten mir, obwohl sie nicht alle verstehen konnten, was ich denn jetzt ausgerechnet mit einem seltsamen, an einem Ende gegabelten Ast wollte.

Am Eingang der Villa waren die vier „Kinder“ gerade mit Empalazzos im Gespräch. Wir bekamen noch den letzten Satz des Hauptmanns mit: „Ich hoffe, Synistes denkt daran: in drei Tagen hier soll er hier erscheinen.“
Die Männer erwiderten mit einem übertriebenen Kopfnicken und bejahten die Aufforderung tausendfach. Unser Hauptmann ließ es dabei bleiben und zog sich kopfschüttelnd wieder zur Gesellschaft zurück. Dann war ich heran und rief: „Wartet, oh Kinder! Auch ich habe ein Kunststück anzubieten. Wenn ihr kurz still stehen würdet?“
Verdutzt, dann aber überschwänglich begeistert blieben die vier stehen und ich richtete die Wünschelrute auf den Korb und seine Träger. Eine Minute lang konzentrierte ich mich, spürte auch, dass ein leichtes, magisches Tasten von dem Artefakt ausging… doch es fand Nichts. Das Holz in meiner Hand blieb ruhig.
„Ein wunderbares Kunststück!“, kommentierten die Kinder und ich konnte nicht erkennen, ob es der erwartete Sarkasmus oder halbseidene Intelligenz war, die hinter der Äußerung steckte. Verlegen ließ ich die Wünschelrute sinken, dann fragte ich: „Wir haben auf der Reise hierher viel über euch gehört; ihr Kinder des Jakchos. Man sagt, dass ihr viele Feiern veranstaltet. Ist die nächsten Tage etwas geplant?“
„Nein, da ist Nichts“, kam die knappe Antwort und die Männer begannen sich abzuwenden. Achselzuckend beließ ich es dabei und die „Kinder“ zogen davon.

Stattdessen wandten Miyako, Ricardo und ich uns nun Leif zu. „Was ist passiert?“
„Ich bin in den Korb gestiegen…und auf einmal bin ich das Seil hinuntergerutscht. Auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, ich kann mich nicht daran erinnern, was dazwischen war. Ich glaube, Synistes hat so etwas Ähnliches, wie eine Hypnose eingesetzt.“

Erklären konnte sich das auch keiner von uns anderen. Miyako quittierte das Geschehen jedoch mit einer ihrer seltenen Gemütsregungen: sie wirkte angesichts dieser quasi magischen Ereignissen angewidert.

Am nächsten Tag mussten wir allesamt recht früh aufstehen, wobei Ricardo es doch noch irgendwie geschafft hatte, vor allen anderen wach zu sein. Es galt, alles vorzubereiten, denn die Gesandten wollten in die nahe gelegene Einsiedelei aufbrechen. Dort wurde Sofeth derzeit aufgebahrt und es wurde Zeit, dass der Arzt Narsis und die Theologen einen Blick auf die Leiche warfen.
Gerade waren die Pferde gesattelt, da kam plötzlich Mäandros, der Protokollfrüher, herausgeeilt. In heller Aufregung schwenkte er einen Zettel durch die Luft und rief laut: „Wo kommt das her? Wer war in der Bibliothek?!“
Ratlos starrten wir ihn allesamt an. „Was steht da geschrieben?“, fragte ich nach.
„Seht selbst“, meinte der Protokollführer und hielt uns den Zettel entgegen. Einen Moment später erkannte er dann unsere mangelnden Kenntnisse der chryseiischen Sprache insbesondere in Schrift und übersetzte, was dort stand.

„Geschrieb’nes, sonst wohl Zeichen tot,
der kundige Blick hier nun erschaut,
doch birgt’s Gefahr und Leibesnot,
wenn Neugier sich nicht Schranken baut.

Drum achte Wohl und sieh dich vor,
dass du nicht handelst unbedacht,
denn Dunkles rufst du durch das Tor,
zu mehren uns’re Siegermacht.

Nun blättre froh und find dich drein,
die alten Wege sind zu krumm,
dies gibt die Zunft zum gut Gedeihn,
das ist das Pandämonium.“

Es waren Worte, die sich zunächst schmeichelnd um die Ohren legten, alsbald aber ein Gefühl der Taubheit hervorriefen. Unbehaglich schüttelte ich den Kopf, um diesen seltsamen Eindruck abzuschütteln.
Was ist das?“, keuchte ich.

Auch die anderen wirkten irritiert bis entsetzt, Getuschel ging umher, ein Wort fiel zwischen allen anderen auf und schien sich wie eine Drohung zu erheben: Pandämonium – schwarze Magie.

„Das sind einleitende Verse aus dem Daimonomicon“, fing Ricardo an. „Ein Buch über Dämonen und finsteren Zauber, das Großmeister Rhadamanthus selbst geschrieben haben soll!“
„Rhadamanthus?“
„Der letzte Großmeister von Valian… damals, als das Imperium von allen Seiten her bedrängt wurde. Die bisherige Macht der Seemeister hatte sich auf den Elementen begründet, doch diese Beschwörungen waren nicht mehr stark genug um sich als Midgard umspannendes Reich behaupten zu können. So suchte Rhadamanthus nach mächtigeren Verbündeten im Multiversum und fand sie in Form einer Dämonischen Dreiheit, die ihn lehrte, finstere Wesen auf den Boden unserer Welt zu holen. Jene, die ihm auf diesem Pfad folgten, werden heute Dunkle Meister genannt – die, die sich ihm entgegenstellten, und seinen allmählich erwachsenden Größenwahn erkannten, Graue Meister. Was folgte war die Katastrophe, die wir heute als den Krieg der Magier bezeichnen. Nahezu sämtliche Seemeister kamen in dem Konflikt ums Leben, der ganze Landstriche verheerte und dessen Nachwirkungen man zum Teil noch heute finden kann. Diejenigen aber, die nicht starben, verschwanden. Keiner weiß, ob sie vielleicht nicht auch gestorben sind, oder wohin sie gegangen sein könnten.“

Nachdenklich beendete Ricardo seine geschichtliche Zusammenfassung und blickte dann zu Mäandros. „Wo habt Ihr den Zettel gefunden?“
„In der Bibliothek, auf einem Lesetisch. Das Papier lag einfach so da, die Verse achtlos draufgeschmiert, als wäre es ein Kinderreim!“
„Kinder…? Lag das Schriftstück gestern schon da?“
„Nein, da bin ich mir sicher….“
„Dann ist das bestimmt eine Botschaft der Kinder des Jakchos!“
„Das erscheint logisch“, stimmte Mäandros zu. „Wenngleich ich hoffe, dass es ein Scherz sein soll. Ein extrem schlechter. Das Daimonomicon ist kein Buch aus dem man nach Belieben zitiert!“

Und wieder lag ein seltsames Gefühl in der Luft und fast gänzlich schweigend brachen wir mit der Gesandtschaft auf; ein jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Der Pfad führte uns aus dem Kern Oktreas heraus und auf die Küste zu, die sich steil vor dem tosenden Meer abzeichnete. Es mochte etwas mehr als eine Stunde gedauert haben, dann erreichten wir eine hohe Felsnadel, an der eine Leiter befestigt war, welche zu einer Öffnung im Stein führte. Die Höhle schien so alt zu sein, dass nicht mehr zu erkennen war, ob sie einst von menschlichen Händen oder nur durch die reine Natur geformt worden war. An der Spitze der Felsnadel, wohl durch die Höhle zu erreichen, befand sich eine Hängebrücke, die hinüber auf die andere Seite führte, wiederum in eine Öffnung des Felsens. Darüber thronte schließlich ein Gebäude, welches der Welt tatsächlich entrückt wirkte. Man fragte sich, ob es einem kräftigen Sturm wirklich die Stirn bieten konnte und Groam hätte sicherlich nur den Kopf geschüttelt, doch wir hofften, dass diese Frage nicht allzu bald eine schreckliche Klärung erfahren würde.
Die Pferde wurden angebunden und ich schärfte Maglos ein, auf sie aufzupassen – wenngleich auch einige Söldner unten blieben, um darauf zu achten, dass kein Tier verlustig wurde. Dann erklommen wir die Leiter. Sie schien nicht oft benutzt, aber dennoch von Wind und Wetter recht abgehärmt. Doch sie hielt und so erklommen wir die Höhle in der Felsnadel. Eine grobe, steinerne Wendeltreppe führte uns hier nach oben, bis wir die Spitze erreicht hatten. Der Wind pfiff uns, kaum als wir oben waren, um die Ohren und man konnte kaum das eigene Wort verstehen. Selbst die chryseiische Wärme schien angesichts dessen zu verblassen.
Nacheinander überquerten wir die Brücke, die hielt, allerdings unsicher im Wind schwankte und nicht gerade viel Halt bot. Zunächst gingen wir Wächter hinüber, dann folgte Pelektrakt mit seinem Gefolge. Narsis, Mäandros… Alexios. Der Gesandte im Namen des Wredelin wirkte unsicher und klammerte sich verzweifelt an den dünnen Stricken fest, die ungefähr auf Hüfthöhe über die Brücke helfen sollten. Etwa auf der Mitte des Weges blieb er plötzlich stehen und sah in einem Moment seltsamer Andacht…nach unten.

Da fuhr ein Wind durch seine Kleidung, dass es sie ihm beinah vom Leib zu reißen schien. Als hätte die Luft sein Ende beschlossen wurde Alexios herumgerissen – die Brücke schwankte – und der Gesandte stolperte.
Die Zeit schien einen kurzen Moment still zu stehen, als sich das Gesicht des Mannes in eine Fratze reinster Angst verwandelte…und einen Moment später von der kräftigen Hand seines Sklaven Nokis gepackt wurde. Entschlossen hielt er seinen Herren fest und brachte ihn wieder ins Gleichgewicht.
Die beiden erreichten dann wohlbehalten die andere Seite.

„Alexios, ist alles in Ordnung?“, fragte ich den blassen Gesandten, der nur nickte und langsam wieder zu seiner Fassung zurückfand. Also wandte ich mich dem Sklaven zu und beglückwünschte ihn für seine Tat. Er zuckte kaum merklich mit den Achseln und man musste einsehen, dass sich seine Lebenslage dadurch nicht unbedingt verbessert hatte. Und wahrscheinlich hätte man ihn getötet, wenn er seinen Herrn nicht gerettet hätte. Diese Menschen und ihre widerwärtige Sklaverei…

Wir betraten nun eine weitere Höhle, die bis auf einen Stein in der Mitte leer war. Es gab einen Ausgang, der schließlich zur eigentlichen Einsiedelei führte, aber dazwischen stand ein alter Mann in einfacher Robe und blickte uns aus alterstrüben Augen an.
„Dies ist die Grenze“, begann er mit dünner Stimme zu sprechen. „Zwischen der Welt da draußen – und der Einsamkeit hinter mir. Dies ist die Einsiedelei, der Rückzugsort der Eremiten, die die Erleuchtung in der Stille suchen. Lasst alles außer eurer Kleidung in diesem Raum, ihr werdet es nicht brauchen, wo ihr jetzt hingeht.“
Die Gesandten begrüßten den Mann mit ein paar schnellen Sätzen auf Chryseiisch, was er mit einem langsamen Nicken erwiderte. Während die Männer mit ihren Beratern bereits weitergingen, wandte sich der Mann uns zu.
„Könnt Ihr uns etwas über Sofeth erzählen?“, fragte Leif ihn, während wir unsere Sachen abstellten.
„Sicher. Sofeth war ein Eremit, ein Gläubiger, der bereits vor dreißig Jahren zu uns gekommen war und sein Schweigegelübde abgelegt hatte. Doch all diese Zeit fand er keine Erleuchtung. Bis er vor neun Wochen zu uns anderen getreten war und verkündete, dass der diese Welt werde verlassen müssen. Er formulierte drei Gesetze, dann hörte er auf zu essen, wurde schwach und starb. Gemäß seinem Wunsch brachten wir seine Leiche in eine kleine Höhle mit Blick zur See. Wir bahrten ihn auf und überließen seinen Körper der Natur. Bis wir einige Tage später erfuhren, dass ein Gaukler ihn gefunden hatte. Es war ein Mann namens Synistes, der den Toten erblickt und seine Unversehrtheit verkündet hatte.“
Die Anfänge des Mystagogen… „Ihr sagtet, Sofeth habe gesprochen? Also sowohl seinen Tod verkündet, als auch ‚Gesetze‘ festgehalten?“, fragte ich nach.
„Ja, die Erleuchtung schien wohl doch noch ihren Weg zu ihm gefunden zu haben. Und der sprach die drei Gesetze:
Erstens; bedenke deine Herzenswünsche gut! Eines Tages mögen sie wahr werden und du hegst keinen Segen mehr.
Zweitens; das Labyrinth der Eitelkeit fängt jeden. Nur wer’s durchschaut, kommt heraus.
Drittens; Zwei Augen hat der Mensch – doch das Verhängnis erkennt er nicht. Es wäre besser, er wäre blind, so würde er nicht betrogen.
Vergebt einem alten Mann, aber ich bin mir des Wortlauts nicht mehr gänzlich sicher.“

Wir schwiegen und überlegten einen Moment, was Sofeth sagen wollte und warum er deswegen sein Schweigegelübde gebrochen hatte. Zugegebenermaßen musste ich für meinen Teil feststellen, dass ich nicht das Gefühl hatte, etwas Neues gelernt zu haben –das dritte Gesetzt würde ich allerdings für alle Völker verallgemeinern wollen.

Dann hatten wir das wenige Gepäck, vornehmlich unsere Waffen, abgestellt und machten uns daran, den Gesandten in die Einsiedelei zu folgen. Die anderen Söldner schienen nicht sonderlich an den Vorgängen interessiert zu sein. Der alte Mann hielt uns noch einmal kurz auf.
„Bitte achtet darauf, meine Brüder nicht zu stören. Es ist ein Ort der Ruhe und Abgeschiedenheit, den ihr nun betreten werdet. Respektiert das. Und nehmt nicht den Weg nach oben. Sofeths Leichnam darf vorerst nur von den direkten Gesandten der Patriarchen und ihrer Begleiter gesehen werden.“

Wir nickten zum Zeichen des Einverständnisses und verließen die Höhle. Es ging wenige Meter weiter über nackten Fels, dann führte eine Tür in das seltsame, runde Gebäude, das sich an den Stein schmiegte. Vorher konnte man noch einen Blick auf das Meer hinaus werfen. Kurz vor der Küste lag eine kleine Insel namens Thanaton, auf der ein gewaltiger, einsam stehender Baum auffiel.
Dann betraten wir dieses Gebäude und liefen durch kleine Räume, die offensichtlich die karge Wohnstätte der Eremiten darstellten. Es gab nicht viel, dass dabei Aufmerksamkeit erwecken konnte, bis wir einen Raum betraten, der eher in der Mitte der beinahe spiralförmig aneinander angepassten Räume lag. Die Luft roch hier anders, war stiller… lebloser. Und ein Blick auf die Wände verriet, warum. In dutzenden Nischen kauerten die Mumien vergangener Eremiten. Stofffetzen bedeckten die ledrige Haut und die leeren Blicke der Toten schienen auf uns zu liegen. Wir verweilten nicht lange. Zwar hatte ich großen Respekt vor diesen Grabeskult, doch fühlte ich mich nach den vergangenen Tagen nicht gerade wohl dabei, inmitten des Todes zu stehen.
Glücklicherweise konnten wir etwas Luft auf dem Balkon schnappen. Dieser führte um ein Drittel des Gebäudes herum und ermöglichte freie Sicht auf Oktrea und die Weinberge, Thanaton und das weite Meer. Ein kurzer Blick huschte die Einsiedelei selbst hoch. Das Gebäude wirkte zwar nicht gerade wie aus einem Guss gebaut und bot sicherlich einige Klettermöglichkeiten. Doch einen Sturz aus achtzig Metern Höhe wollte keiner von uns riskieren. Stattdessen erinnerte uns Miyako an die Spuren, die sie am Strand gesehen hatte.
„Da sind Linien im Sand, man kann sie sogar von hier oben erkennen“, stellte ich verblüfft fest.
„Ein siebenzackiger Stern!“, ergänzte Ricardo. „Aufwändig gestaltet. Ein Heptagramm.“
„Wofür?“, setzte ich nach. Ricardo überlegte noch, da warf Leif ein: „Es dient Beschwörungen. Aus den nahen Chaoswelten.“
„Beschwörungen!“, keuchte ich. „Welcher Narr will derart das Gefüge dieser Welt durcheinander bringen? Wurde der Natur nicht bereits genug angetan?“

Und schlimmer war noch die Frage: was würde durch ein derart großes Portal nach Midgard gelangen können?
Doch unsere Entdeckung musste warten, um den Schein zu wahren: die Begutachtung des Leichnams war abgeschlossen und ohne ein Wort an uns zu richten, verließen die Gesandten die Einsiedelei. Wir folgten, nachdem wir unsere Sachen gepackt hatten und begleiteten die „Hohen Herren“ zurück zum Senenna-Anwesen in Oktrea. Es war bereits spät, als wir dort ankamen und so wurde bereits wieder aufgetischt. Es gab erneut allerlei Exquisites aus verborgenen Ecken Midgards, die man nicht deswegen behelligen sollte, weil sich eine feine Gesellschaft in Chryseia nach einer Garnierung sehnt. Doch mein Protest verblieb intern und ideell, hätte ich mit einem Streitgespräch doch wahrscheinlich unsere Gastgeberin beleidigt und damit wäre vielleicht nicht nur ich sondern auch alle meine Freunde von der Wache ausgeschlossen worden. Oder man warf mir einmal mehr Scheinheiligkeit vor und wieder konnte ich mich diesem Vorwurf nicht erwehren. Das Essen schmeckte fad.

Es folgte eine ereignislose, aber Nichtsdestotrotz kurze Nacht. Am nächsten Morgen weckte uns (bis auf den bereits wachen Ricardo) Empalazzos früh und ließ uns antreten.
„Männer, heute beginnt das eigentliche Konklave. Die ehrenwerten Gesandten und ihre Berater sowie ausgewählte Personen werden im Persistril sitzen und dort ihre Befunde besprechen. Ihr habt sie dabei nicht zu stören, es sei denn ihre Sicherheit gebietet es. Es werden täglich zwei Sitzungen stattfinden, nach dem Frühstück bis zum Vormittag und vom Nachmittag bis zum Abendessen. Dabei werden jeweils zwei von euch Wache halten, der Rest hält sich in Bereitschaft, um bei einem dringenden Notfall eure Pflicht erfüllen zu können. Das Konklave wird etwa drei Tage dauern. Fragen?“
„Wer sind die ausgewählten Personen? Wir müssen doch wissen, ob sich Unbefugte Zutritt verschaffen wollen“, warf Ricardo ein.
„Lukah Senenna wäre ein Beispiel. Ebenjene, die ihr bereits in der Gesellschaft der Gesandten gesehen habt. Sonst noch etwas? Nein? Dann schlage ich vor, Leif und Ricardo übernehmen die erste Wache. Miyako und Ilfarin, ihr macht die zweite heute am Nachmittag.“

Mit einem Nicken bekundeten wir unsere Zustimmung, dann teilten wir uns auf. Doch wir hatten es uns kaum bequem gemacht, da kam plötzlich die Meldung wie ein Lauffeuer aus dem Dorf: der Besitzer der Olivenpresse war tot aufgefunden worden! Das Konklave wurde direkt abgebrochen und wir machten uns auf den Weg zum Gut des Verstorbenen. Dabei kamen Leif und Ricardo auf Miyako und mich zu.
„Wir konnten etwas lauschen. Sie haben nur kurz skizziert, wie sie vorgehen wollen. Am Anfang soll ein Protokoll stattfinden und sie haben bereits vermerkt, dass der Leichnam von Sofeth in der Tat unversehrt ist, ebenso wurde der Tod festgestellt. Allerdings hatten die theologischen Berater noch keine heilige Aura erkennen können, sodass der Ursprung dieses Wunders woanders gesucht wird. Dieser theologische Beweis ist das Ziel des Konklaves, da zumindest aus der Lebzeit Nichts offensichtlich sei. In den kommenden Tagen werden dann auch andere Personen des Ortes befragt…auch Synistes soll Rede und Antwort stehen.“

Während uns die beiden das erzählten, gingen wir zwischen den Olivenhainen hindurch und erreichten schließlich das Gut des Toten. Wir waren die ersten, wahrscheinlich auch, weil wir nicht erst auf irgendwelche Anordnungen von Empalazzos gewartet hatten. Uns erwartete ein bereits recht aufgelöster Mann.
„Gut, dass jemand gekommen ist“, rief er aus und eilte auf uns zu. „Mein Name ist Triphon, ich bin der Hausknecht von Meister Hendiadbos Phrygines.“
„Das ist der verstorbene Besitzer der Olivenpresse?“, fragte Miyako nach.
„Ja… ich habe ihn heute Morgen gefunden… wie kann das denn möglich sein? Gestern Abend habe ich ihm noch eine Flasche Wein gebracht, die er vor dem Bett noch kosten wollte. Ich ging schlafen und jetzt…“
Die anderen gingen bereits ins Haus, während ich noch etwas beruhigend auf den jungen Mann einredete. Er sollte sich keine Vorwürfe machen, schließlich war er kein Kämpfer und ebenso wenig ein Wahrsager. Nachdem Triphon sich etwas gefangen hatte, folgte ich den anderen in das Haus. In dem Zimmer, was ich betrat, sah eigentlich alles so aus, wie es gewöhnlich sein mochte. Kein Spuren eines Kampfes…nur eine noch offene Flasche Wein auf dem Tisch und auf einem Liegestuhl der verkrümmte Leichnam des Toten, der beinah so schien, als würde er lachen, angesichts der schrecklichen Todesfratze, die sein Gesicht angenommen hatte.

Wir entdeckten zwei kleine Einstiche direkt am Kehlkopf, jedoch nur wenig geronnenes Blut. Mochte tatsächlich ein untoter Blutsauger seinen Weg nach Oktrea gebahnt haben? Ich konnte es kaum glauben und blieb wie meine Freunde vorerst skeptisch. Wir sahen uns noch weiter um und entdeckten doch eine Kerbe im Tisch, wie durch einen harten Gegenstand verursacht. Und draußen vor dem Fenster war etwas Streusand, in dem sich noch eine Vertiefung abzeichnete. Es war wahrscheinlich etwas Schweres gewesen, aber mehr konnte ich nicht sagen. War etwas gestohlen worden? Triphon konnte uns an dieser Stelle leider nicht weiterhelfen und wirkte ziemlich ratlos.

„Kann das wirklich ein Vampir gewesen sein?“, fragte Ricardo unsicher.
„Ich glaube nicht, die Einstiche sind an einer etwas merkwürdigen Stelle, wenn man Blut braucht, meinst du nicht?“, warf ich ein.
„Vielleicht ein Dämon“, überlegte Leif. „Bedenkt das Heptagramm, das wir gesehen haben.“

Dann erreichten die anderen das Grundstück des toten Hendiadbos, allen voran der Arzt Narsis, der sich anschickte, den Leichnam zu untersuchen.
„Herr Narsis“, trat ich an den Chryseier heran. „Auf meinen Reisen habe ich selbst einige, bescheidene Grundlagen über Heilkunde erworben. Dürfte ich Euch unterstützen?“
„Sicher…“, meinte der Mann und besah sich daraufhin den Hals des Toten. Ich warf ihm dabei einen Blick über die Schulter und dachte laut nach: „Die Einstiche könnten tödlich gewesen sein, aber da ist sehr wenig Blut…“
„Ja, das ist seltsam. Und ich glaube… ja, Hendiadbos ist nicht an Verblutung gestorben. Das sollten wir schnell verbreiten, ehe irgendwelche Narren von Alptraumgestalten erzählen, die kommen und das Blut der Unschuldigen stehlen.“
„Woran ist er dann gestorben?“
„Das kann ich auf die Schnelle kaum sagen“, murmelte Narsis. „Aber es ist nichts Offensichtliches. Seltsam.“

Damit endete auch die Weisheit des Arztes und wir kehrten alle zurück zur Villa von Frau Lukah Senenna. Schließlich war für uns Wächter eigentlich das Konklave das, worauf wir die Aufmerksamkeit richten sollten. Und so lange wir den Schein wahren wollten, mussten wir tun, was Empalazzos befahl.
So übernahmen Miyako und ich die Wache zum zweiten Block an diesem Tag. Auch wir konnten einige Dinge belauschen, die anfangs nur eine Wiederholung dessen darstellten, was bereits Ricardo und Leif heute Morgen berichtet hatten. Dann berichtete der Dorfälteste Anchises einiges über den Lebensverlauf von Sofeth. Dass der Mann sich schließlich in die Einsamkeit zurückgezogen hatte, um dort die Erleuchtung zu suchen, die er wohl kurz vor seinem Tode gefunden hatte. Allerdings hörten wir nicht alles, wie mir schien, zur Vorgeschichte des möglichen Heiligen. Unter dem Eindruck des Geredes über einen dramatischen Lebenswandel, was wir auf dem Weg hierher gehört hatten, glaubte ich also noch immer, dass Sofeth in seinem Leben vor dem Eremitendasein einiges, nicht unbedingt göttergefälliges, erlebt haben musste. Vielleicht kannte er gar Synistes von früher? Welchen Grund hätte sonst ein Gaukler gehabt, das Grab eines verstorbenen Eremiten aufzusuchen… große Grabbeigaben hatten diese wohl in der Regel nicht.
Das Konklave endete für diesen Tag mit der Feststellung, dass nach einem Ursprung des Wunders gesucht werden musste, da keine heilige Aura bei Sofeth selbst zu spüren gewesen war.

Damit ging die Gesellschaft geschlossen zum Abendessen hinüber und wir Wächter konnten dazu stoßen, um ein weiteres Mal, allerlei Extreme des Gaumens auszureizen.

Und so viele Fragen blieben. Was hatte der Gott Jakchos mit dem Eremiten zu schaffen und welche Verbindung hatte der Gesandte Nublesch al-Zeloti zu ihm. Und wie stand er wiederum zu Synistes, dem bizarren Mystagogen mit seinen „Kindern des Jakchos“, die ebenfalls ein seltsames Verhältnis zu einem toten Einsiedler gewonnen zu haben schienen. Dann das Konklave an sich – auf Drängen von Alexios und Pelektrakt einberufen, wenngleich beide wohl nicht in erster Linie auf theologischer Basis interessiert waren. Und dann: die Verse aus Daimonomikon. Ein Heptagramm zur Beschwörung von Chaos aus anderen Welten. Ein toter Olivenbauer. Wohin würde uns all das führen?

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