Die Gefährten ziehen nach Norden

Wir verbrachten die nächsten zwölf Tage in Haelgarde. Die Gilde befasste sich mit der runenverzierten Streitaxt, um ihren Fähigkeiten und ihrer Herkunft auf den Grund zu gehen, während wir unsere Fertigkeiten schulten: eine Zeit lang übte ich mit den Stadtwachen in ihrer Kaserne, aber schließlich trieb es mich einige Tage aus der Stadt heraus, weg von diesen gewaltigen Menschenmassen. In tiefer Meditation versunken genoss ich wie ich die Zeit an mir vorbeizog, Sonne und Sterne auf mich herablächelten und spürte das Leben in einer lange gemissten Intensität.
Meine Begleiter hatten ebenfalls an ihren Fertigkeiten gefeilt – den Gesichtsausdrucks des Unteroffiziers würde ich wohl nicht so schnell vergessen, als Olo ihn bat, seine Fertigkeiten im Umgang mit dem Morgenstern zu schulen.

Die abendliche Auszeit nutzte jeder auf seine Weise. Ich schloss mich das eine oder andere Mal Caileass an, der durch die Kneipen und Spielhäuser der Stadt zog, die Ohren stets gespitzt, um Gerüchte über die Magiergilde aufzusaugen: es gab schließlich drei Ratsmitglieder, die einem Giftanschlag zum Opfer gefallen waren. Die Zauberer selbst hatten uns nicht aufklären wollen, wie weit ihre Ermittlungen waren – das Misstrauen hinsichtlich des Verrats aus eigenen Reihen war überwältigend. Sogar, oder vielleicht insbesondere, Garric konnte nichts herausbringen und wirkte erschüttert über die für uns lethargisch wirkende Haltung der Gilde.


Es wundert angesichts dieser Sorgsamkeit kaum, dass die Gerüchte wenig mehr verrieten, als was wir bereits wussten. Sollte tatsächlich Cirangal noch mit Rythvar zusammengearbeitet haben, lag es nahe, dass sie die Morde hier in Haelgarde eingefädelt hatte. Doch es gab eben nur diesen Verdacht und selbst wenn er sich bewahrheitete – die Schwarzalbin hätte innerhalb der vergangenen Trideade ohne Schwierigkeiten aus der Stadt herausgeschafft.

Es war der zehnte Tag nach unserer Ankunft, da erhielten wir die Nachricht, dass ein Gildenmagier namens Curfin uns aufklären könne, was die Axt angehe. So standen wir wieder einmal alle zusammen: eine verschlossene KanThai, ein dem Wahnsinn naher Halbling, ein Lyraspielender Fechtkünstler, ein Gildenmagier und ich, ein Elf, stets versucht, das Richtige zu tun, was jedoch in letzter Zeit nur selten gelang.
Man führte uns in den Raum dieses Curfin, wo der bereits etwas ältere Mensch auf uns wartete. Sein Studierzimmer war sicher einst von ausladender Größe gewesen, doch die einstigen Wände waren hinter den Regalen kaum auszumachen, während sich in der verbliebenen Mitte beinahe ein halbes Dutzend Tische tummelte, vom kleinen (hier merkwürdig fremd wirkenden) Nachttisch bis hin zur langen Tafel, die auch in einem Thronsaal hätte stehen können (was hier nicht weniger bizarr anmutete). Und überall lagen Bücher, türmten sich zu Bergen auf, waren häufig aufgeschlagen und zeigten Bilder, Schriftzeichen, seltsame Formeln – kurzum, ein Wirrwarr, das uns mit einer Art unerwarteten organisierten Chaos anhaltend irritierte.

„Ah, seid mir gegrüßt“, eröffnete Curfin, was Garric in unserem Sinn erwiderte.
„Was konntet Ihr über die Axt in Erfahrung bringen?“, fragte ich anschließend.
„Nun, zunächst gibt es da einiges zur Herkunft zu berichten! Dieses Artefakt ist uralt, nahezu mystisch. Meine Studien lassen nur den einen Schluss zu, dass es aus der Zeit des Kriegs der Magier stammt, als Graue und Schwarze Meister einander bekämpften und schreckliche Gewalten…“ Ein Blick in unsere, an den historischen Ausschmückungen weniger interessierten, Gesichter ließ den Mann innehalten. „Also auf jeden Fall dürfte die Axt aus dieser Zeit stammen. Zuerst tauchte sie auf den westlichen Inseln Ywerddons auf, wo ein Graf sie zur Verteidigung seines Lands eingesetzt hatte. An dieser Stelle scheint es mir nun von großer Dringlichkeit, euch darzulegen, welche Magie in der Axt steckt: mit ihr ist es möglich, die Gedanken anderer Menschen zu kontrollieren. Doch dies hat seinen Preis! Der Träger der Waffe greift stets auch seinen eigenen Verstand an, sodass er immer mehr in Mitleidenschaft gezogen wird, bis er womöglich irgendwann dem Wahnsinn anheimfällt. Sagt, Caileass, habt Ihr etwas Derartiges gespürt, als Ihr die Waffe bei euch trugt?“
„Nein…aber ich habe sie auch nicht eingesetzt“, wiegelte der Albai ab.
„Eine weise Entscheidung! Die auch schließlich der genannte Graf aus Ywerddon traf und die Waffe wurde in einen tiefen Krater geworfen, aus dem sie nie wieder hätte emporgeholt werden sollen. Wie wir nun wissen, ist das jedoch geschehen und irgendwie hat das Artefakt seinen Weg nach Crossing gefunden.“

„Nun, ich könnte die Axt eigentlich gut für meine Geschäfte gebrauchen“, murmelte Olo plötzlich. Wenigstens steckte hier kein Verstand, der verlorengehen könnte…
„Die Gilde wird die Waffe natürlich unter Verschluss halten!“, erklärte Curfin. „Gut versteckt und bewacht, sodass Niemand sie missbrauchen kann.“

Ich erinnerte mich indes an meine Theorie, dass diese Axt jenes Artefakt war, mit dem die finstere Armee im Norden kontrolliert werden sollte. „Curfin, wisst Ihr, ob man mit dieser Waffe auch Untote kontrollieren kann?“
Der alte Magier erbleichte augenblicklich, seine Augen weiteten sich furchtsam – meine Frage war offensichtlich nicht richtig angekommen und Garric sprang mir eilends zur Hilfe: „Ilfarin meint das natürlich nur rein hypothetisch!“
„Also, mein Herr… das lässt sich nicht sagen. Dahingehend haben wir keine… äh, Experimente gemacht. Natürlich könnte man da etwas…nun, vielleicht, lässt sich ein solcher Versuch konstruieren…“
„Ich war, wie Garric bereits ansprach, eher auf eine akademische Erklärung aus. Eine Totenbeschwörung kann ich nicht gutheißen“, stellte ich klar.
„Nun, es geht hier immerhin um eine wichtige Frage“, setzte Caileass an. „Ich denke, wenn die Magier es übernehmen, sollte ein entsprechendes Experiment durchgeführt werden.“
„Was?! Ihr wollt die Grenze zwischen Leben und Tod so leichtfertig durchbrechen?“, polterte ich los.
„Grenze hin, Grenze her – dem Leichnam dürfte egal sein, was ihm passiert. Nach dem Ritual ist er ohnehin wieder, nun, ganz tot“, warf Miyako ein. Entsetzt blickte ich sie an – eine seltsame Wendung der Dinge: hatte sie meine Magie noch infrage gestellt, schien sie einer solchen pervertierten Hexerei nicht abgeneigt…
„Nehmen wir doch einfach die drei toten Ratsmagier! Ist ja doch auch in ihrem Interesse, dass wir an ein paar Informationen kommen“, ergänzte noch Olo.
Curfin überging Olos Anmaßung, stellte jedoch fest: „Wenn ihr glaubt, dass es notwendig ist, Experimente mit Untoten durchzuführen…“ Er hatte sich offensichtlich gefangen, wirkte aber noch schockiert angesichts dessen, was ihm da vorgeschlagen wurde.

„Nein. Keine Totenbeschwörungen“, stellte ich klar und blickte argwöhnisch über meine Begleiter, von denen ich bisher geglaubt hatte, ihnen vertrauen zu können.

„Was gedenkt die Gilde nun zu tun? Wie stehen die Ermittlungen hinsichtlich der Giftanschläge?“, lenkte Garric das Gespräch wieder in geordnete Bahnen.
„Also“, begann Curfin, wohl auch froh, dass dieses Thema beendet war. „Die Ermittlungen laufen. Aber mehr darf ich euch nicht sagen – selbst innerhalb unserer Gilde können wir nicht mehr sicher sein, wem wir vertrauen können.“
„Aber wir brachten euch doch die Axt und verhinderten ein größeres Fiasko in Crossing“, warf Garric ein.
„Nun, ihr könntet ein Gesuch an den Rat stellen. Er wird euch anhören und dann entscheiden.“
„Also gut. Aber was gedenkt die Gilde hinsichtlich der Bedrohung durch die dunkle Armee zu tun?“
„Wir beschränken uns auf interne Angelegenheiten, diese Sache ist etwas für die Clans und den Heereswart des Nordens“, wiegelte Curfin ab.
„Aber im Norden hat sich der euch abtrünnig gewordene Earn MacRathgar mit der Olwydd-Sippe verbündet“, wandte ich ein. „Er fühlt sich dort sicher und ist womöglich an für euch gefährlichen Plänen beteiligt.“
„Das ist in der Tat eine beunruhigende Information“, murmelte Curfin. „Ich werde euer Ersuchen um ein Treffen mit dem Rat übermitteln. Ein Bote wird euch informieren, ob ihr angehört werdet.“

Dankbar nickten wir dem Magier zu und verließen seine Studierstube, weitere Informationen würde er uns ohne den Segen des Rats ohnehin nicht mehr geben.
Wir verbrachten noch einen ruhigen Tag, ehe wir in den uns überlassenen Gemächern des Gildenhauses nächtigen konnten.

Am nächsten Morgen besprachen wir bei einem einfachen, aber auch gutschmeckenden Frühstück, wie wir uns gegenüber dem Rat als vertrauenswürdig präsentieren konnten – der uns, so ein Bote, am Nachmittag empfangen wollte.
„Nun, wir könnten einen Verwandten entführen, um Druck auszuüben“, meinte Caileass, äußerst sachlich, aber eher mit geistigen Stabilität Olos versehen. „Ich sag ja nur!“
Wir übergingen den Einwurf und sammelten unsere bisherigen… Errungenschaften.

„Wir haben die magische Axt hierhergebracht. Ohne uns würde sie nun sicherlich in einem Verlies unter Moranmuir versauern und dank der Kirgh wüssten wir somit nie, womit wir es zu tun haben“, machte Garric den Anfang.
„Außerdem waren wir nicht hier, als die Ratsmitglieder vergiftet wurden, kommen daher nicht als Verdächtige in Frage!“, schloss sich Olo an.
„Nun, das spricht uns aber nicht wirklich davon frei, dass wir anderweitig mit dem Feind im Bunde stehen könnten, oder?“, merkte ich an.
„Aber weist auch nicht auf das Gegenteil hin!“, verteidigte der Halbling seinen Vorschlag. Ich zuckte nur mit den Schultern und brachte selbst noch etwas ein: „Man könnte zudem noch sagen, dass wir bisher all unsere Informationen mit der Gilde geteilt haben. Vertrauen ist bekanntlich ein Geben und Nehmen und wir haben bereits den ersten Schritt gemacht.“
„Und zuletzt haben wir natürlich verhindert, dass Crossing zu einem Fiasko wurde!“, erinnerte Garric.
„Also eigentlich war es dieser Mann der Stadtwache, der den Schwarzalb…“, erwiderte ich stirnrunzelnd.
„Still, das muss keiner wissen“, schnitt der Magier mir das Wort ab.
„Nun denn, das ist doch schon einiges. Ich werde das den Damen und Herren dann später erklären“, meinte Olo. „Aber jetzt gehe ich erstmal zum Schneider, meine Klamotten sind doch leidlich geflickt und schlimm zerschunden!“

Auch Miyako und Garric schienen jeweils ihre Pläne zu haben, sodass Caileass und ich übrig blieben. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in die Bibliothek, um dort über die Olwyddd-Sippe zu recherchieren.
Wir fanden nach etlichen Texten heraus, dass die Barbaren in den Dornar-Hügeln lebten, aber für twyneddische Verhältnisse recht friedlich waren. Anstatt etlicher Schilderungen von Grenzkonflikten fanden wir Hinweise, dass diese Clanngadarner eher auf Handel und Ackerbau setzten. Dabei schienen sie enge Beziehungen zu anderen Sippen und einigen großen Städten zu pflegen – eine schreckliche Vorstellung, wenn man bedachte, dass Earn MacRathgar über diesen Stamm großen Einfluss gewinnen könnte. Umso mehr war es wichtig, die Gilde zu bewegen, etwas gegen ihn zu unternehmen.

Dann wurde es Zeit, zur… Anhörung zu gehen, zumindest fühlte es sich so an. Die anderen warteten bereits auf uns und gemeinsam traten wir in den Raum, indem die Magier wohl Audienzen abhielten, wenn sie als Rat zusammentraten. Hinter einem langen, quer gestellten Tisch saßen auf hohen, aber unverzierten Stühlen drei Männer und eine Frau. Ansonsten gab es nichts Auffälliges, diese Kammer war eindeutig nur dafür da, um ein Gespräch zu führen.
„Seid gegrüßt, werte Damen und Herren!“, eröffnete Olo prompt. „Euer Anliegen haben wir ja euch bereits antragen lassen. So wisset, dass wir jene glanzvollen Abenteurer sind, die eine noch umfassendere, gar weltenverschlingende Katastrophe in Crossing verhindert haben! Ja, wir haben die leblosen Überreste des ruchlosen Attentäters zurückgebracht und die gefährliche Axt sichergestellt. Natürlich stellte sich für uns in keinem Moment die Frage, wem wir dieses mächtige Artefakt überantworten sollten: die hellen Köpfe der Phönixgilde suchen doch über Meilen hinweg ihresgleichen! So verhinderten wir die Abnahme durch die Kirgh und brachten euch diese Axt um zugleich alle unsere Informationen mit euch zu teilen, meine Damen und Herren! Hierbei sei auch bemerkt, dass wir uns rein örtlich gesehen etliche Meilen entfernt von Haelgarde befunden haben, als eure ehrwürdigen Gefährten solch feigen Giftmorden zum Opfer gefallen sind.“
Nach einem Moment der Stille, ergriff die Frau das Wort: „Grüße, Abenteurer. Es erscheint offenkundig, dass ihr euch durchaus ein gewisses Vertrauen verdient habt…doch sagt, was wollt Ihr genau tun, um uns zu helfen?“
Olo lächelte verschmitzt – dann lief ihm eine einzelne Schweißperle über die Schläfe. Ratlos blickte er in die Runde. Die anderen blickten ebenfalls in einer seltsamen Lethargie zurück, sodass schließlich ich vortrat.
„Auch ich entbiete euch meine Grüße. Wir könnten euch auf zweierlei Arten helfen. Zum einen haben wir in Crossing bereits unser detektivisches Können bewiesen und würden euch gerne in den Ermittlungen beistehen. Zum anderen wissen wir um den abtrünnigen Hexer Earn MacRathgar, eigentlich ein Mitglied eurer Gilde. Den jüngsten Informationen von Graf Bryan MacAelfin nach hat er Zuflucht bei der Olwydd-Sippe gefunden. Sicherlich ist auch euch bekannt, dass es sich dabei um einen sehr einflussreichen Stamm in Clanngadarn handelt. Wenn man nun bedenkt, dass Earn sich somit ein großes Netz aus Verbündeten schaffen könnte… die Auswirkungen könnten verheerend sein und wir könnten uns anbieten, um dieser Bedrohung frühzeitig Herr zu werden.“

Es folgte eine Minute Stille. Die Magier sahen sich an, blieben stumm, unterhielten sich vielleicht äußerst subtil oder nutzten gar magische Verständigungsmöglichkeiten, dann sprach schließlich wieder die Frau. „Danke für Eure Ausführungen“, begann sie auf Eldalyn, was ich mit einem respektvollen Kopfnicken annahm, fuhr dann aber wieder auf Comentang fort. „Wir glauben, dass euer Engagement in den Ermittlungen, so ehrenhaft und kompetent ihr auch sein mögt, nur zu weiteren Verwirrungen führen würde. Diese liegen ohnehin in den Händen unserer Besten. Doch was Earn MacRathgar betrifft, so glauben wir, dass es wichtig ist, herauszufinden, was er plant. Insbesondere nach den Berichten von einer ‚dunklen Armee‘, die sich ebenfalls nördlich von uns formieren soll. Der hohe Rat würde euch alle darum bitten, unsere Augen und Ohren in den Dornar-Hügeln zu sein.“

Wir sahen uns gegenseitig an, es folgte ein einhelliges Kopfnicken und ich gab unsere Zustimmung an den Rat weiter.
„Wie sieht die Belohnung aus?“, fragte Caileass dann nach.
„Das hängt selbstverständlich von euren Erkenntnissen ab. Aber es dürfte wohl keine Frage sein, dass wir euch angemessen entlohnen können“, erklärte einer der männlichen Ratsmitglieder. Eine andere Information war auch nicht wirklich zu erwarten gewesen.

„Was sollen wir tun, wenn wir Earn finden?“, fragte ich, mit einem vielleicht etwas zu düsterem Ton, nach.
„Tut, was ihr tun könnt, aber handelt nicht überstürzt. Bedenkt auch, dass er einiges an Wissen für uns bereithalten könnte“, mahnte ein anderer Magier.

„Wir bräuchten noch eine Art Urkunde oder dergleichen, damit wir uns gegenüber anderen als euch verbunden ausweisen können“, merkte Garric an und erntete ein zustimmendes Nicken des Rats. Ich war dankbar, dass der Gildenmagier rechtzeitig an mögliche bürokratische Hürden dachte. Bis ich mich daran gewöhnen würde, könnte es noch eine Weile dauern, falls ich es überhaupt schaffte.

Nachdem wir zuletzt noch die Weisung erhielten, ein Schiff nach Deorstead zu nehmen, entließen uns die Ratsmitglieder aus dem Gespräch. Die Gilde übernahm die Kosten für unsere Überfahrt, die noch am selben Tag begann. Das Meer spiegelte die Abendsonne wieder, als wir uns auf das Meer begaben, um weiter nach Norden zu reisen – eine deutlich schnellere Reise als über das Land.

Sechs Nächte verbrachten wir an Bord eines kleinen Handelsseglers, ehe wir schließlich Deorstead erreichten. Die Stadt lag an den Ausläufern des Devern und somit in Albas Norden, an dieser natürlichen Grenze zu Clanngadarn. Sie war vergleichsweise klein, kleiner als Crossing und gar nicht zu vergleichen mit der Weltstadt Haelgarde. Doch ihre Mauern würden wohl selbst Beornanburgh zur Ehre gereichen: von ausreichender Höhe, aber vor allem von äußerster Dicke verlieren sie Deorstead etwas Lauerndes – beinahe wie ein Wolf vor dem tödlichen Sprung auf sein Opfer. Es erfüllte mich mit Zuversicht, dass die dunkle Armee – sollte sie tatsächlich existieren und marschieren – wohl hier auf einen Fels treffen würde, der jeglicher Brandung einige Zeit widerstehen konnte.
Ohne Probleme landeten wir in dem kleinen Hafen an und verabschiedeten uns vom Kapitän des Handelsschiffs. Zielstrebig machten wir uns auf den Weg in die Innenstadt, es dämmerte bereits und unsere Mägen knurrten. Doch wir waren gerade durch das Tor geschritten, da blieb mein Blick an einer kleinen Inschrift hängen, die daneben im Stein versenkt war. Neugierig winkte ich Caileass heran und bat ihn, mir die albische Schrift vorzulesen. Rasch überflog er die wenigen gravierten Zeilen im Eisen, ehe er murmelte: „Das ist eine Art Ehrenwidmung. ‚Den Bezwingern des Frostriesen und Ehrenbürgern von Deorstead: Burz’Krokasch, Arian MacConuilh, Anounah al Azah, Adarius Pilus und Osric MacBeorn Feuerklinge.‘ Muss eine Weile her sein, sieht schon ziemlich verwittert aus.“
Ich nickte zustimmend, ehe wir weitergingen.

Olo hatte bereits in Erfahrung gebracht, dass es ein „Gasthaus“ gebe, welches als Schlachthaus bekannt sei. Meine Vermutung ging eher in die Richtung, dass es Letzteres war und Ersteres vorgab. Daher entschieden wir anderen uns, auf Caileass Anraten hin, für das Goldene Hufeisen am Westtor – der Halbling murmelte, er würde später nachkommen.

Die Straßen Deorstead kündeten nicht von ungeheurem Reichtum, doch waren alle Häuser gepflegt und nahezu keine Bettler unterwegs. So erreichten wir zügig unser Ziel. Das Gasthaus war nicht sehr groß und war vom einfacheren Volk besucht, wohl auch einige Bauern, Holzfäller und Schafshirten aus der Umgebung. Ohne weitere Umschweife ließen wir uns an einem Tisch nieder, wo wir ebenso schnell mit Getränken und der typisch albischen Hafergrütze versorgt wurden. Wir waren gerade fertig, da kam auch Olo zu uns, der von einem vorzüglichem Essen im „Schlachthaus“ schwärmte.
Nach einer Weile kam dann ein junger Mann zu uns hinüber, sein Ale bereits ausladend schwenkend und sicherlich schon deutlich erheitert. Mit einem etwas einfältigen Grinsen, welches schiefe Zähne offenbarte, begrüßte er uns auf Albisch.
„Seid gegrüßt“, erwiderte Caileass süffisant auf Comentang.
„Mae govannen“, ergänzte ich auf Eldalyn mit nahezu spitzbübischer Freude.
Und Miyako sagte irgendetwas auf KanThaiTun.

Verblüfft starrte der Mann in die Runde, ließ aber nicht locker. Zum Glück übersetzte und nacherzählte mir Caileass seinen Redeschwall, auf dass die folgenden Worte nicht in Vergessenheit geraten sollten!
An ein ehrfurchtsvolles und neugieriges: „Seid ihr Abenteuer?“ schloss sich rasch ein großes Kompliment an Miyako an, „bist ja ne ganz Nette, wa?“ – einem Wasserfall gleich drängte der junge Mann namens Jeremy uns, ihm alles über unser bisheriges, momentanes und zukünftiges Leben zu erzählen, nur um dann selbst Überlegungen anzustellen, was „Abenteurer wie wir“ denn so machen würden, rundum kommentiert mit den weisen Ratschlägen, die ihm sein Vater mit auf den Weg gegeben hatte. Er war dabei ganz offen, berichtete in einer sehr verwaschenen Sprache, wohl eine Mischung aus zu viel Alkohol und hinterwäldlerischem Dialekt, dass es gar dreiste Gerüchte gebe, dass sein „Paps“ mit Schafen ganz besondere Dinge getan habe. Mit einer leicht gefurchten Stirn und der tiefsten Überzeugung eines Tors erklärte er uns auch, dass das natürlich fieser Humbug sei. Dabei spielte er eine Runde Karten mit Caileass, der höchste Geduld aufbringen musste, um dem jungen Jeremy die Regeln beizubringen. Zugegebenermaßen hätte ich wohl nicht so lange als „Lehrmeister“ durchgehalten.

Schließlich war es Olo, der unseren… Gast mit einem schmierigen Lächeln zu einer Pfeife einlud. Die beiden gingen vor die Türe, während wir anderen uns allmählich ins Bett begaben. Wenn Wahnsinn und Torheit aufeinandertrafen sollte man wohl sehen, dass man in Sicherheit war.

Überraschenderweise stand Deorstead am nächsten Morgen noch. Beim Frühstück wirkte Olo auch vergleichsweise normal, sofern man dieses Wort mit ihm in Verbindung bringen konnte. Allerdings verkündete er nach zwei Portionen Hafergrütze, dass er beim Hof von Jeremys Vater nachsehen wollte, ob es der Junge es heimgeschafft habe – der Alkohol habe zu einer Nacht im Graben verleitet. Caileass schloss sich dem Halbling an, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass er eine größere Katastrophe verhindern konnte. Währenddessen machten Garric, Miyako und ich uns auf den Weg, um dem Clan Tilion einen Besuch abzustatten. Womöglich waren hier an der Grenze neuere Informationen über die Olwydd und Earn MacRahgar zu erhalten.

Die Burg war eine massive Steinkonstruktion, die ein wenig lieblos wirkte, aber sicher nicht so schnell von einem Tribok zerschossen werden konnte. Am Eingang hielten uns erwartungsgemäß zwei Wachen mit Kleidung in den Tartans der MacTilions auf. Nach der schwungvollen und formvollendeten Darlegung unserer, sowohl mit Siegel als auch mit nahezu kalligraphischer Schrift verzierten, Bescheinigung durch die ehrwürdige Phönixgilde, welche uns als Personen von womöglich nicht umfassender Integrität aber dennoch ausreichender Kompetenz auswies, dass man uns eine Aufgabe anvertraute, die der Gilde selbst womöglich für zu lästig, aber für uns „Abenteurer“ doch zugleich äußerst geeignet erschien. Wenn auch das Pergament in diesem Sinne keine eindeutige Zuordnung traf, so wurde doch offenkundig, dass der eigentliche Zweck (der da wäre, die Öffnung sozialer Pfade, die man sonst so gern in dieser Zivilisation genannten Einöde menschlicher Bürokratie verschloss) durchaus erfüllt wurde. Ein galantes Schulterzucken und der stringente, aber gleichermaßen lässige, Fingerzeig auf eine Tür im Innenhof der Burg, durch einen der wachhabenden Krieger, verkündete ebenjene Akzeptanz der vorgelegten Schrift, auf dass wir wiederum dankend vorbeischritten – angestrengt darum bemüht, ebenjene Autorität auszustrahlen, die ein Fetzen Papier uns zu bescheinigen schien.

Es handelte sich um einen einfachen Aufenthaltsraum. An einem langen Tisch saßen einige weitere Krieger, aßen, tranken und spielten mit Würfeln. Während die meisten uns nach einem kurzen Aufblicken nicht mehr beachteten, trat einer heran, der mit seinem Kettenhemd sowie dem typisch-albischen Claymore offensichtlich einer der herausragenden Clansmaen war. Tatsächlich stellte er sich als Offizier heraus, der, nach kurzem in Augenscheinnehmen, sich mit uns an die Tafel setzte und aussagte, was der Clan über die Olwydd-Sippe und Earn MacRathgar wusste. Dies war leider nicht sehr viel, die Twyneddin schienen sich ruhig zu verhalten – für ihre Verhältnisse, was kleinere Konflikte nicht ausschloss – und vom abtrünnigen Gildenmagier war hier weniger bekannt, als wir an Wissen mitbrachten. Allerdings verwies der Mann uns schließlich an den Waldläufer Landis, der sich in den nördlichen Territorien auskannte und uns sicherlich mehr verraten konnte. Dankend verabschiedeten wir uns, um Caileass und Olo am Goldenen Hufeisen wieder zu treffen.

Die beiden erwarteten uns bereits vor dem Gasthaus. Der Albai lächelte ein wenig verschmitzt und als wir in Olos Gesicht sahen, ließ sich auch erahnen warum: ein wunderschönes, blau leuchtendes Veilchen schimmerte um das linke Auge des Halblings und ein mürrischer Gesichtsausdruck verunzierte das sonst so freundliche Gesicht unseres Morgensternschwingers.
Rasch setzten wir die beiden ins Bild, die Verletzung Olos galant übergingen wir dabei galant. Caileass meinte dazu nur, etwas stirnrunzelnd, dass er wiederum gehört habe, dass die Olwydd-Sippe aufrüstete und neue Verbündete suchte. Die Widersprüchlichkeit der Informationen bestärkte uns nur noch mehr, dass wir uns persönlich nach Norden begeben mussten. Gemeinsam machten wir fünf uns dann auf den Weg zu Waldläufer Landis, wobei mir Caileass noch erzählte, was der Halbling eigentlich getrieben hatte.
Es schien wohl so, dass Olo gleich den ersten Bauern, den sie getroffen hatten, nach dem Vater von Jeremy gefragt hatte, mit der Spezifikation, dass es auch ein Mann sei, der mit Schafen schlafe. Zum Unglück unseres Halblings stand er allerdings gerade vor dem Gesuchten – allerdings zeigte sich erneut eine gewisse Unfähigkeit, die Folgen des eigenen Handelns abzusehen, und er provozierte den bereits erbosten Mann noch etwas weiter… mehr brauchte man dazu eigentlich kaum zu sagen. Caileass erklärte zudem noch, dass er Olo nur durch ein leichtes Rangeln davon abhalten konnte, die Tür des Bauern zu verwüsten. Über unseren kleinen Begleiter konnte man manches Mal nur den Kopf schütteln.

Wir fanden das Haus des Waldläufers recht zügig. Es war eine kleinere Hütte, wohl gepflegt aber ohne große Schnörkel – vergebene Mühe, trieb es den Menschen auch mehr in die Natur als in die Stadt. Nach einem kurzen Klopfen, öffnete auch bald ein Mann die Tür. Er trug ein einfaches Wams sowie eine feste Hose aus dunklem Stoff, was ihn von den, gerade im Norden sehr stolzen, Clansmaen abhob. Das wettergegerbte Gesicht mit nicht sonderlich gepflegtem Bart und Haar wies ihn durchaus als eine eher naturverbundene Person aus.
„Seid gegrüßt, Waldläufer Landis. Wir sind an Euren Diensten interessiert“, eröffnete Garric.
Wortkarg nickte der Mann und trat beiseite um uns einzulassen. Die Einrichtung war durchaus pragmatisch, reichte aber, um uns allen einen Sitzplatz zu verschaffen.
„Was braucht Ihr?“, fragte Landis, sobald wir Platz genommen hatten.
„Uns wurde mitgeteilt, dass Eure Reisen euch häufiger gen Norden ins Gebiet der Twyneddin geführt haben. Die Olwydd-Sippe ist Euch bekannt?“
„Natürlich“, kam die Antwort brummend.
„Nun, wir haben gehört, dass ein gewisser Earn MacRathgar zurzeit bei dieser Sippe lebt. Stimmt das?“
„Ja, das ist richtig. Der Magier ist vor einigen Monaten dort aufgetaucht…wenn ich mich recht entsinne, dann verdingt er sich dort als Heiler.“
„Also er besitzt ein gewisses Gastrecht?“, fragte Garric nach.
„Wenn Ihr es so nennen wollt“, erwiderte Landis knapp, wobei er möglicherweise meiner Verwunderung Ausdruck verlieh, dass der Gildenmagier den Twyneddin etwas so Förmliches zuschrieb.
„Und wenn wir den Olwydd von seinen Untaten in Alba berichten würden, würde er dieses Aufenthaltsrecht verwirken?“, drängte unser Gelehrter weiter in die juristischen Bahnen.
„Nun…eigentlich nicht“, meinte der Waldläufer kopfschüttelnd während ich mich fragte, worauf Garric eigentlich hinauswollte. Meines Wissens nach bestand kein Auslieferungsabkommen zwischen Clanngadarn und Alba…
„Also gut“, mischte sich nun Caileass ein. „Wir brauchen einen ortskundigen Führer, der uns durch die Dornar-Hügel geleiten kann. Seid Ihr so ein Mann, Landis?“
„Ja, ich dürfte euch schon durchkriegen…allerdings seid ihr fünf ziemlich auffällig.“ Dabei glitt sein Blick insbesondere über Miyako und mich, aber auch ein wenig über Olo. „Kennt ihr euch zumindest etwas in der Wildnis aus?“
Garric wirkte beinahe pikiert und wies das ganz weit von sich, ganz der Mann von Büchern und Schriftrollen. Die anderen zuckten lediglich die Schultern, während ich dem Waldläufer ein zustimmendes Nicken gab.
Im weiteren Gespräch erklärte Landis uns, wie wir uns ausstatten sollten. Zunächst wäre es nützlich, wenn wir uns unauffällig aber wetterfest kleideten. Darüber hinaus wären Pferde hilfreich, vor allem um wegen der kurzen Beine des Halblings keine Zeit zu verlieren. Natürlich auch einiges an Verpflegung, sollte die Reise doch insgesamt zwanzig bis fünfundzwanzig Tage dauern, was uns nicht schlecht staunen ließ. Zuletzt wären einige Dinge als Gastgeschenke angebracht, da man eher bei Familien unterkam, wenn man nächtigen wollte und nicht in Wirtshäusern oder Ähnlichem wo klingende Münze weiterhalf.

Wir verabschiedeten uns von Landis, ehe wir in die Stadt aufbrachen um all diese Dinge zu besorgen, wobei jeder auch noch kleinere Ergänzungen zu seiner bisherigen Ausstattung machte. Schlussendlich stand dann ein ordentlicher Konvoi aus vier Pferden und zwei Ponys, eines für den Halbling und eines für Gepäck. Zusammen mit Landis und seinem Reittier würden wir damit eher den Eindruck einer Handelskarawane als einfacher Wanderer machen… zumindest hatten Miyako und ich uns dicke Kapuzenmäntel besorgt, um unsere Gesichter weitgehend zu verbergen.

Am Abend saßen wir wieder im Goldenen Hufnagel beisammen, Landis würde frühestens am nächsten Tag aufbrechen können. Es dauerte auch nicht lange, bis Jeremy sich erneut zu uns gesellte – sein Gespräch, vorrangig mit Olo geführt, wurde mir wieder von Caileass übersetzt.
„Hm, er hat unseren Teehändler gerade auf das Veilchen angesprochen…ach herrje, der Halbling erzählt, wie er fast die Tür eingeschlagen hat.“
Jeremy wirkte währenddessen etwas bekümmert, sofern sein freundliches Gesicht das zuließ. Olo indes redete energisch mit erhobenem Zeigefinger auf ihn ein.
„Also…Platschfuß… erinnerte gerade an die Ziegensache. Der Bauernjunge möchte nicht, dass so böse Sachen erzählt werden…“
„Caileass“, versuchte ich meinen Übersetzer gelassen zu unterbrechen.
„Ui, jetzt hat Olo gesagt, dass er Sorgen habe, dass Jeremys Vater Dinge tun würde…“
„Caileass, bitte.“
„Also der Bauernjunge meint, sein Paps sei immer sehr freundlich…zu freundlich merkt der Halbling an…“
„Caileass!“, meinte ich diesmal etwas energischer und legte dem Albai eine Hand auf die Schulter, dass er mich, in seinem Redeschwall unterbrochen, ansah. „Bitte, hör auf, zu übersetzen.“
Grinsend tat er, wie geheißen und ich konnte den Rest meines Abendessens ohne Olos Unflätigkeiten genießen. Schließlich war meine Aufmerksamkeit jedoch erneut vonnöten. Es schien, als würde sich Jeremy uns gerne anschließen. Etwas betreten, versicherten wir ihm, dass wir am morgigen Abend darüber abstimmen würden… was für den Bauernjungen reichte und er verabschiedete sich alsbald von uns.

Am nächsten Tag fanden wir uns mit Landis zusammen und überquerten schließlich am Mittag den Devern und begannen unsere lange Reise gen Norden. Die ersten Meilen führten uns dabei durch noch vergleichsweise flaches, aber karges Gelände. Die großen Wälder Albas lagen längst hinter uns und nur vereinzelt standen kleine Baumgruppen herum – Sträucher und Gebüsche überwogen bei weitem. Bald senkte sich die Sonne herab und wir schlugen ein Lager auf: Miyako und Landis jeweils in ihrem, wir vier anderen in unserem neu erstandenem Zelt. Abwechselnd übernahmen zwei eine Wachschicht, wobei wir glücklicherweise eine erste, ruhige Nacht in Clanngadarn verbringen konnten. Lächelnd beobachtete ich dabei jedoch, wie Maglos um die Gruppe unserer Pferde und Ponys herumlief und immer wieder aufmerksam die Gegend absuchte: der Hütehund in ihm kam nun vollständig zur Geltung.

Gemütlich trotteten wir auf unseren Reittieren weiter gen Norden, als die Sonne wieder am Horizont erschien. Eine tiefe Ruhe lag über diesem Landstrich – eine trügerische zweifelsohne, waren die Twyneddin doch für ihr unruhiges Verhalten an der Grenze bekannt. Doch ich genoss trotzdem diese Erholung nachdem wir wochenlang immer von dutzenden bis hunderten Menschen umgeben waren und ein nie endender Geräuschpegel die Ohren malträtiert hatte. Im Gegenzug wirkten Garric und Miyako, als Kinder der Zivilisation, hier nicht gerade glücklich. Der Gelehrte sah sich ständig missmutig um und schien hinter jedem Busch und jedem Baum einen barbarischen Angreifer zu erwarten. Der KanThai schrieb ich meine Vermutung ein stückweit zu, ließ ihr ausdrucksloses Gesicht (soweit es unter der weiten Kapuze zu erkennen war) doch wie immer kaum Rückschlüsse zu. Allerdings hatte sie bisher nie gescheut, bereits Alba für seinen „geringen Grad an Zivilisation“ zu verlachen, da dürfte Clanngadarn sicherlich noch schockierender sein.
Am Mittag erblickten wir einen Karren, der sich tief in eine Schlammkuhle auf dem Feldweg eingegraben hatte. Der ratlose Besitzer stand daneben und versuchte seinen Ochsen zu Höchstleistungen anzuspornen. Wir verharrten zunächst einen Moment lang, als wir den Mann sichteten, war doch so manche Räuberbande auch sehr kreativ in ihren Hinterhalten. Doch die Umgebung bot kaum Platz, um so etwas einzufädeln, sodass wir uns schließlich näherten und dem Mann, Landis übersetzte für uns, unsere Hilfe anboten.

Mit zwei weiteren Zugtieren gelang es dann auch, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Währenddessen konnten wir uns ein wenig mit dem Besitzer unterhalten. Er sei wohl ein Händler auf dem Weg nach Deorstead. Allerdings konnte er uns keine Neuigkeiten berichten, die für uns interessant gewesen wären, so verabschiedeten wir uns bald. Natürlich gab Olo zum Abschied noch eine Kostprobe Tee aus.

Gen Abend erblickten wir ein kleines Dorf am Horizont, was, wie hierzulande üblich, durch einen Palisadenwall geschützt wurde. Landis hatte uns empfohlen, uns nicht allzu auffällig durch Clanngadarn zu bewegen, sodass wir beschlossen, einen großen Bogen um das Dorf herum zu machen. Allerdings war das Gelände hier bereits etwas hügeliger geworden und dadurch, dass wir nun auch noch den Feldweg verließen, verloren wir durch den Umweg beinahe zwei Stunden. Gemeinsam mit Landis einigten wir uns darauf, dass es sinnvoller wäre, bis unmittelbar vor dem Gebiet der Olwydd, auf den Wegen zu bleiben.
In der Nacht zeigte sich das Land nun von seiner wilderen Seite. Wolfsgeheul erklang immer wieder, manches Mal nur eine Meile entfernt, wie mir schien. Die Pferde wirkten unruhig, Maglos kreiste immer wieder um sie, während die Wachhabenden die Waffen griffbereit hielten, um zur Not eine Meute blutgieriger Tiere zurückzuschlagen.

Doch das blieb uns glücklicherweise erspart, sodass wir am nächsten Morgen wieder unbeschwert aufbrechen konnten. Es dauerte gerade einmal bis zum Vormittag, als wir das Wolfsrudel entdeckten, dass uns eine sorgenvolle Nacht beschert hatte: offenbar hatten vier Tiere ein Pferd gerissen, welches sie einige hundert Meter vor uns zerfleischten. Vorsichtig machten wir einen angemessenen Bogen, um keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen und gelangten so unbehelligt an den Raubtieren vorbei.
Unsere Reise führte uns weiter nach Norden, die Dornar-Hügel hatten uns bereits umfasst, sodass sich auch unsere Geschwindigkeit deutlich verlangsamte, wenngleich wir versuchten auf den Anhöhen zu bleiben, um einem ständigen Auf und Ab zu entgehen.
Abends erblickten wir die Lichter eines Bauernhauses, welches wir zielstrebig ansteuerten. Es handelte sich um drei Hütten, die wohl jeweils eine Familie beherbergten. Es waren rustikale Holzbauten, die ihren Zweck erfüllten. Ein Mann erwartete unsere große Gruppe und unterhielt sich einen Moment lang mit Landis auf Twynddisch. Am Ende stand für uns ein solides Abendessen sowie eine Übernachtung auf Stroh, während Miyako sich durch stoische Abweisungen eindeutiger Avancen erwehren musste. Für Caileass, Olo und Garric gab es sogar auch einen kleinen Absacker, nachdem der Halbling ein Gastgeschenk präsentiert hatte.

Ein Hanenschrei weckte uns am nächsten Morgen und wir fanden ein reges Treiben um die Siedlung herum vor. Mit Landis im Schlepptau befragten wir noch ein, zwei der Bauern, ob sie Neuigkeiten über die Olwydd hätten. Sie verneinten – oder wollten zumindest uns Nichts mitteilen. So brach unsere Karawane alsbald wieder auf.
Es war Mittag, als wir durch ein kleines Dorf ritten, vielleicht ein dutzend Hütten umgeben von einem Palisadenwall. Man schenkte uns nicht viel Aufmerksamkeit, aber genug, dass wir uns zügig weitermachen wollten. Da fiel unser Blick auf eine seltsame Erscheinung: in einem großen Gatter stand ein junges Paar, sowohl der Mann als auch die Frau in eine weiße Kutte gekleidet. Sie hatten einen abwesenden, seligen Blick im Gesicht und schienen uns kaum wahrzunehmen.
„Landis, was ist das?“, kam die Frage aus unserer Mitte.
„Eine Opfergabe“, erklärte der Waldläufer knapp.
„Ein Menschenopfer?“, fragte Caileass verblüfft nach.
„Ja, die Twyneddin opfern alles Mögliche: Gold, Nahrung, Tiere… und manchmal auch Menschen. Wenn die Ernte schlecht war, oder einfach nur um Unheil abzuwenden.“
„Wer verantwortet das?“, verlangte ich zu wissen.
„Diese druidischen Priester, denke ich.“
Druiden? Menschenopfer? Schockiert blickte ich mich um. Was hatte ein sinnloser Mord mit dem Gleichgewicht der Natur zu tun?! Bisher hatte ich lediglich gehört, dass die einfachen Menschen Clanngadarns beinahe unsere Brüder im Geiste wären, doch als ich das jetzt sah…eine schreckliche Pervertierung. Menschen.
Während sich in mir alles zusammenkrampfte, fragte Caileass weiter: „Sind sie Freiwillige?“
„Ja, sie scheinen sehr von ihrer Tradition überzeugt.“
„Sie wirken sehr…abwesend. Werden sie berauscht?“, kam es von Olo, was Landis mit einem knappen Nicken bestätigte.
Unser Schritttempo hatte sich verlangsamt, fast blieben wir mitten im Dorf stehen.
„Sollten wir sie befreien? Wenn wir jetzt den Moment der Überraschung nutzen…“, überlegte Caileass.
„Dann müssten wir sie wahrscheinlich zwingen mit uns zu kommen. Es könnte schwer werden, sie dann zu überzeugen, nicht einfach wieder in ihr Verderben zu laufen“, ergänzte ich.
„Wenn ihr Rausch endet vielleicht“, schloss der Albai.
„Lasst die Menschen hier doch machen, was sie wollen. Das braucht uns kaum zu interessieren“, kam es plötzlich von Miyako, während die anderen sich schließlich in Schweigen hüllten, resigniert angesichts der Unmöglichkeit einer Rettungsaktion. Erschrocken blickte ich zur KanThai, erwartete das Blitzen von Bösartigkeit in ihren Augen zu sehen…und sah nur Gleichgültigkeit. Ihr war es tatsächlich egal, was mit diesen Menschen geschah. Diese Verachtung des Lebens jagte mir einen tiefen Schrecken ein.
Schließlich drängte Landis zum Weiterreiten und wir mussten uns alle eingestehen, sofern wir wenigstens darüber nachgedacht hatten, dass wir diese armen Seelen nicht würden retten können. Die Übermacht war zu groß und ihre geistige Verwirrung wohl zu tief.

Am Nachmittag hüllte uns dichter Regen ein und trieb die Stimmung auf den Tiefpunkt unserer Reise. Kaum einer von uns konnte es abwarten, das Nachtlager aufzuschlagen, um in tiefem Schweigen die mitgebrachte Trockennahrung zu verzehren. Nicht einmal Caileass spielte auf seiner Lyra.

Mir schien, dass ich kaum die Augen zugemacht hatte, da erschallte Miyakos Ruf: „Wir werden von einem Bär angegriffen!“
Rasch sprangen wir Schlafenden auf und hasteten aus dem Zelt – Caileass kurz hinter mir, Garric zum Schluss. Tatsächlich: am Rande des Feuerscheins rang ein gewaltiger, braunfelliger Bär mit dem kleinen Halbling, der jedoch gewandt unter den Attacken des sich aufbäumenden Tiers wegtauchte. Miyako stand bereits mit gezücktem Schwert dabei und begann einen schnellen Stich nach dem nächsten zu setzen – Caileass lief nun auch noch mit gezücktem Rapier zu dem Angreifer hin, der trotz der Überzahl seiner Feinde nicht abließ. Es musste ein hungernder Bär sein, vielleicht war er auch krank… Mitleid stieg in mir auf, als das erste Mal der Morgenstern Olos in die Flanke des Tiers fetzte und ein grässlicher Schrei die Nacht erfüllte.
Instinktiv begann ich nach dem mich umgebenden Leben zu tasten, geisterhafte Finger glitten über die Erde, spürten das Gras, die Insekten, wanderten immer weiter. An meinen Gefährten vorbei bis hin zu dem zornigen Tier. Ich fühlte, was es fühlte. Wut wie aus Feuer, eine Welt, verzerrt in schrecklichen Farben – Schmerz. Diesen Verstand, in tiefster Agonie gepeinigt, versuchte ich zu beruhigen, mit ruhigen Händen zu umschließen. Eine beruhigende Umarmung, die dem Bären zeigte, dass nicht jeder seinen Tod wollte.
Doch da schossen Bilder vor meinem inneren Auge vorbei. Eine tote Gladiatorspinne… Aldwin – wir hatten ihn umgebracht. Sofort spürte der Bär meine Unruhe und sein Geist stieß mich davon. Im Herzen getroffen, wankte ich, doch versuchte ich es weiter. Das Tier blutete bereits aus mehreren Wunden und raste vor Schmerz.
Ein Menschenpaar in weißer Kleidung, auf einem Scheiterhaufen. Die Flammen züngelten empor und verzehrten sie mit Haut und Haar. Es traf mein Herz wie ein Stich, ließ mich in die Knie gehen. Etwas stimmte hier nicht…etwas war falsch in diesem Land.

Meine Kraft reichte nicht mehr aus und verzehrt zog ich mich in mich selbst zurück. Auf Knien beobachtete ich, wie Caileass den letzten Stich setzte und das Leben des Tiers beendete. Was für ein Wahnsinn es getrieben haben mochte, dass es uns angriff? Ich hatte versagt, sein Leben zu schützen, ihn vor diesem Fehler zu bewahren.
Garric zog mich hoch, mitfühlend, wenngleich so ehrlich, dass er nicht vortäuschte, meine Trauer nachvollziehen zu können. Ich nickte ihm dankbar zu.

Als der Morgen anbrach ritten wir weiter. Die Hügel wurden immer unübersichtlicher, was nicht gerade zu allgemeiner Entspannung beitrug. Dennoch wurde es ein ruhiger Tag und die Nacht verbrachten wir in einer Senke während die Wachen sich auf einen Hügelkamm begaben, um bessere Übersicht zu behalten.

Am sechsten Tag unserer Reise blieb der Himmel von einer dichten Wolkendecke grau. Die Sonne drang kaum zu uns durch, sodass ein bizarres, blaues Licht umso mehr auffiel, als wir gen Mittag im Osten eine Höhle sahen. Neugierig näherten wir uns, wenngleich Landis unzufrieden murrte. Nachdem Miyako und ich vorsichtig ausgespäht hatten, was es dort gab, kamen die anderen nach: in dieser Höhle wuchsen hunderte blauschimmernder Pilze.
„Diese Dinger enthalten fluoreszierende Flüssigkeit!“, kam es plötzlich überraschend von Olo. Der Halbling vermochte in der Tat zu überraschen.
„Kann man daraus etwa Tee herstellen?“, witzelte Garric, da dies doch das einzige Fachgebiet unseres Händlers zu sein schien.
„Leider nein“, meinte dieser jedoch betroffen. „Sie sind giftig. Könnt sie gerne mal anfassen, aber guttun wird das euch nicht.“ Seine letzten Worte unterstrich er mit einem Feixen.

Darüber hinaus führte in der Höhle jedoch ein Schacht nach unten und meine Neugier war groß, was sich dort unten wohl verbergen konnte. Bei den anderen hielt es sich in Grenzen, allerdings überließ mir Caileass seine Lampe, da es dort unten finster wurde. Anschließend ließ er mich an einem Seil hinab.
Es ging wohl gut und gerne zehn Meter in die Tiefe, ehe ich wieder Boden unter den Füßen hatte. Das Licht der Lampe gewährte mir Sicht: ein Gang führte weiter und zielstrebig folgte ich ihm in eine beinahe hallenartige Aushöhlung des mich umgebenden Felsens. Und hier wuchsen beinah tausend Pilze und schimmerten in diesem eigentümlichen blau.

Und ein weiterer Gang führte hinaus und auch diesen durchquerte ich, nachdem mir offenbar wurde, dass sich in diesem Raum Nichts weiter befand. Der Pfad führte um eine Ecke herum und öffnete sich schließlich in eine weitere, kleine Höhle. Hier befand sich ein steinernes Hügelgrab von überschaubarer Größe. Wer es wohl erbaut haben mochte? Und warum hatte man ausgerechnet diesen merkwürdigen Ort gewählt? Interessiert näherte ich mich…als mit einem Schlag die Temperaturen absanken und ein Schauer über meinen Körper jagte, dass sich meine Nackenhaare aufstellten. Aus dem Grab erhob sich ein durchsichtiger Schemen und beinah fror ich an Ort und Stelle fest. Es war das Abbild eines Toten, ein skeletthafter Schädel blickte mich mit hasserfüllten Augen an und ich beschloss das einzige zu tun, was mir an dieser Stelle möglich war: ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte los. Doch der Geist schien nicht damit zufrieden, dass ich das unmittelbare Hügelgrab in Ruhe ließ und schoss mir hinterher.

Hastig erreichte ich das Seil und sprang daran hoch, während ich die Kälte förmlich hinter mir herjagen spüren konnte. Doch kalter Schweiß machte meine Hände rutschig und ich glitt die ersten Meter wieder zurück – direkt in den Angriff des Wesens. Mit krallenhafter Hand schlug das Biest nach mir, schien mir jegliches Leben entziehen zu wollen. Wenig galant ließ ich mich fallen und entging dem Angriff so, rollte mich gleich zur Seite und sprang wieder auf. Der Geist fauchte mich an, doch ich war bereits wieder am Seil und kletterte so schnell wie in meinem Leben nach oben. Hastig eilte ich dort angekommen an Caileass vorbei und ließ mich schwer atmend vor der Höhle ins Gras sinken.

„Da unten…ist ein Geist“, meinte ich hechelnd zu meinen Gefährten. „Vielleicht sollten wir bald weiter.“
Die anderen lachten – lediglich Landis schien verärgert, dass seine Auftraggeber so leichtsinnig in Gefahr gerieten. Doch wenn wir alle etwas gemeinsam hatten, dann war es unser Hang zu einem gewissen Wahnsinn.

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