Etwa einen Mond verbrachten wir in Dairaba. Der nunmehr quickfidele Luis Maskroni ließ uns freudig im „Goldenen Wüstenschiff“ wohnen, solange wir wollten. Dieser Luxus brachte es auch mit sich, dass man viele Reisende aus anderen Ländern begegnete. So lernte ich einen Handelspartner Maskronis aus Valian kennen. Derzeit hatte er einige Geschäfte in der Stadt zu erledigen, sodass ich ihn immer wieder abends antraf, um mit ihm über seine Heimat zu sprechen. Als begeisterter, wenn auch eher laienhafter, Historiker konnte er mir einiges berichten und ich sorgte dafür, dass seine Kehle nie trocken wurde.
Suena trieb sich nur indes nur selten in dem gehobenen Gasthaus herum. Sie schien sich nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen, wenn so viele reiche Herren um sie herum waren. Meinen Glaubensbruder Dario traf ich auch weniger im „Wüstenschiff“, dafür aber beim Gebet am Morgen und am Abend. Wie Mara schien er sich in Dairaba einen Waffenmeister gesucht zu haben, um die ohnehin schon beachtlichen Fertigkeiten auszubauen.
Zu viert saßen wir tatsächlich nur beim gemeinsamen Essen zusammen und wenn wir uns etwas erzählten, dann waren es Anekdoten, zumeist aus dem jüngst erlebten Rennen. Doch allmählich wurde es fade und am Ende des Monds machte sich allgemeine Unruhe breit – und just da wehte die Wüste uns einen Boten ins Haus …
„Ihr müsst die Gewinner des großen Rennens sein!“, sprach uns der Scharide an, von dessen Schultern noch der Sand rieselte.
„So ist es“, bestätigte ich dem Mann.
„Wunderbar. Ich habe eine Botschaft für euch … vielmehr für Euch, Karim – nicht wahr?“, wandte er sich direkt an mich.
„Wieder richtig.“
„Ähm, ich denke, es wäre angebracht, wenn wir kurz unter zwei … äh, vier Augen sprechen.“
Ich nickte, erhob mich und ging mit dem Boten etwas abseits.
„Dies ist eine Nachricht von Usharia Ashanti. Zunächst möchte sie Euch mitteilen, wie besonders jene Nacht war“, der Mann sagte das ohne rot zu werden und fuhr sogleich fort: „Und darüber hinaus erinnert sie sich mit großer Freude daran, wie bravurös eure Gruppe das größte Rennen der Dekade gewonnen hat. Deswegen glaubt sie, dass Eure Begleiter und Ihr die besten wärt für eine neue Aufgabe.“
„Welche Aufgabe?“
„Das wird die Hohepriesterin erklären. Ich weiß nur, dass es sich um die Erkundung alter Ruinen handeln wird, also eine nicht ungefährliche Aufgabe. Aber wie gesagt, sie glaubt, dass ihr als Sieger des Rennens wenig zu befürchten habt.“
„Und wo soll das Treffen stattfinden?“, fragte ich.
„Drei Tage südlich von hier besitzen die Amazonen eine kleine Zuflucht, in der sich Usharia Ashanti derzeit aufhält. Für die Reise wird euch eine Kutsche gestellt.“
„Und könnt Ihr uns führen?“
„Das … ja, das könnte ich übernehmen.“
„Dann sagt mir noch Euren Namen und ich werde meine Gefährten nach ihrer Meinung fragen.“
„Odilon“, machte es der Bote knapp. Er setzte sich sodann an einen Tisch bei der Tür, während ich zu meinen wartenden Gefährten ging. Sie warteten bereits ungeduldig. Nun, vielleicht bis auf Suena, die ruhig ihre Katze streichelte. Knapp schilderte ich, dass wir von der Hohepriesterin der Amazonen erwartet wurden.
„Viel wissen wir ja nicht – ich wüsste aber gerne mehr“, fasste es Suena passend mit einem Grinsen zusammen. Mara nickte, nur Dario war zunächst etwas zögerlich: „Ruinen durchsuchen? Das klingt nach Grabschändung.“
„Nun, wir wissen weder etwas über den Grund noch über die Ruinen“, beschwichtigte ich den Araner.
„Hm … ja, ich will zumindest hören, was diese Amazone noch zu erzählen weiß.“
„Gut, dann werde ich Odilon informieren, dass wir eine Kutsche brauchen. Außerdem wird er uns begleiten, dafür kann er ja mein Pferd nehmen.“
„Ich würde vorschlagen, dass wir heute Nacht aufbrechen“, sagte Dario. „Hat sich bewährt.“
„Wieder nachts reisen? Sollten wir das nicht nur tun, wenn es wirklich notwendig ist?“, fragte ich unsicher nach. „Es ist die Zeit Alamans.“
„Ormut wird seine schützende Hand über euch halten, keine Sorge. Ich bin sein Schwert.“
„Hat das nicht etwas von Hochmut, wenn wir seinen Schutz so herausfordern?“, zweifelte ich.
„Wir fordern vielmehr Alaman heraus und dieser schändliche Gott verdient es.“
Ich nickte und ging dann hinüber zu Odilon und informierte ihn über den Stand der Dinge. Daraufhin brach er sofort auf, um die Kutsche zu organisieren, die er dann später vor das „Wüstenschiff“ bringen wollte.
Den halben Tag, den wir noch hatten, nutzten Suena und Dario, um uns Verpflegung und diverse Ausstattung für die Erkundung von Ruinen zu besorgen. Mara und ich holten hingegen aus unserer alten Kutsche, die noch unverändert im Handelskontor stand, den Bogen. Anschließend kaufte ich bei einem Schmied ein zweites Nimcha, um für den Fall gewappnet zu sein, dass mein Krummsäbel bei einem Kampf zerbrach – Maras Unglück blieb nicht vergessen.
Dann war es schon soweit: meine Gefährten hatten Seile, eine Brechstange, ein paar Holzkeile und vieles Weiteres gekauft, was wir benötigen würden. Und wir waren aufbruchsbereit. Die ersten Sterne zeigten sich, da weckten wir Odilon, der bis dahin ein Nickerchen in der Kutsche gemacht hatte, und brachen auf. Dario segnete uns vor der Abreise noch, um Ormuts Schutz zu garantieren. Dann rollten wir auf das Stadttor zu – und verließen Dairaba für ein weiteres Abenteuer.
Wir und auch die Pferde waren frisch und erholt, sodass es für Dario kein Problem darstellte, uns durch die Nacht und den gesamten nächsten Tag in südliche Richtung zu lenken. Die Wüste bestand hier mehr aus Stein denn aus Sand und auch die Temperaturen waren aushaltbar. Als wir Halt machten waren wir aber nichtsdestotrotz etwas geschlaucht und ich langte nach meiner Laute, um ein schönes Lied anzustimmen, um unsere Stimmung anzutreiben.
Wie von selbst spielte ich die ersten Töne. Es waren jedoch die Klänge eines anderen Lieds, eines traurigen, das bei Begräbnissen gespielt wurde. Ich wusste nicht recht, wie mir war, und so spielte ich die Weise weiter und weiter, bis mir eine Träne die Wange herunterfloss. Stumm legte ich die Laute weg, in Gedanken bei traurigeren Tagen. Suena versuchte die Stimmung noch mit ihrem Gesang zu beleben, doch bereits nach den ersten Sätzen brach sie mit belegter Zunge ab.
Erst die Nachtruhe brachte uns allesamt wieder auf Vordermann. Wir kamen am nächsten Morgen gut voran und bereits nach wenigen Stunden erblickten wir die kleine Zuflucht der Amazonen: eine massive Hütte, mitten im Nirgendwo, eng von einem Palisadenwall umgeben.
Als wir uns näherten wurden wir von zwei Amazonen entdeckt, die uns das Tor öffneten. Odilon und wir stoppten kurz davor und banden die Pferde los, und legten ihnen etwas zu Essen bereit, dann traten wir zu den beiden Frauen. Sie waren nur äußerst dürftig bekleidet, wodurch ihre gebräunte Haut sowie ihr durchtrainierter Körper sichtbar wurden. Nichtsdestotrotz verfügten sie über gewisse Attribute der Weiblichkeit, welche jeden Betrachter beinah erröten ließen.
„Seid gegrüßt“, sagte eine der Amazonen mit kräftiger Stimme. „Da der Bote mit euch zurückgekommen ist, vermute ich, dass ihr die Sieger des großen Rennens seid?“
„So ist es“, bestätigte ich. „Mein Name ist Karim, das sind Dario, Suena und Mara.“
„Karim … der Auserwählte Usharias. Sie erwartet euch bereits sehnlichst“, erklärte die Amazone.
„Dann wollen wir sie nicht länger warten lassen“, schloss ich und die Frauen nickten und öffneten die Tür zur Hütte.
Es handelte sich um eine recht kleine Behausung, die jedoch alles bot, was man mitten im Nirgendwo brauchen konnte – und das nicht ohne einen gewissen Luxus. Gepolsterte Sessel, eine Wasserpfeife, sogar ein Kamin für besonders kalte Nächte. Während die anderen sich etwas umsahen, wurde ich direkt die Treppe hoch geschickt und fand dort in einem von drei Zimmern Usharia Ashanti, die Hohepriesterin der Amazonen mit ihrem langen, silberweißen Haar und von zeitloser Schönheit.
„Meine Königin“, sagte ich ehrerbietiger als vielleicht sein müsste, doch ihr Anblick ließ mich wieder erschauern.
„Karim“, sagte sie sanft und zog meinen Kopf aus der Verbeugung nach oben. „Ich habe die Zukunft gesehen.“ Mit einem Lächeln strich sie sich über den unbekleideten Bauch. „Ein Mädchen.“
Ich konnte nur noch kurz vor Freude strahlen, dann ging die Tür hinter mir zu und eine Stunde verging mit Dingen, deren genaue Auslegung ich hier verweigern will. Schließlich geht es um die Mutter meiner Tochter!
Nach angemessener Zeit und gewisser besänftigter Gelüste gingen Usharia und ich hinunter zu den anderen, die sich in der Zwischenzeit mit den beiden Amazonenwächterinnen unterhalten hatten. Nun zeigten sie aber ihre Ungeduld und Dario fragte: „Hohepriesterin, seid uns gegrüßt. Was hat es mit dem Auftrag auf sich, dessentwegen wir hier sind?“
„Ich danke euch, ihr Gewinner des größten Rennens der Dekade, dass ihr meinem Ruf gefolgt seid“, erklärte Usharia zunächst feierlich. Doch länger als diesen Satz hielt ihre Maske der Förmlichkeit nicht und ehrliche Besorgnis grub sich in ihr Gesicht. „Es geht um nicht weniger, als den Bestand meines Volkes. Das Land der Amazonen trocknet aus, die Ernten werden karger. Noch hungern wir nicht, aber die Zukunft wird dunkler. Wir können nicht einfach wegziehen, dafür ist unsere Kultur, unsere gesamte Lebensart zu verschieden vom Rest dieses Kontinents. Was wir brauchen, ist ein altes Artefakt unseres Volkes.“
„Das sich in den Ruinen eurer Vorfahren befindet“, schloss Dario.
„So ist es. Es handelt sich um ihre Ruhestätte, eine Tagesreise südlich von hier. Neben ihren Grabkammern befindet sich dort auch das Artefakt: ein vierblättriges Kleeblatt aus Gold, das die Fruchtbarkeit in unser Land zurückzubringen vermag.“
„Was erwartet uns dort unten?“, fragte ich. „Sicher mehr als ein paar Ratten.“
„Zur Sicherung vor Grabräubern wurden bei dem Bau der Ruhestätte einige Mechanismen eingebaut von denen womöglich noch einige intakt sein werden. Darüber hinaus kann ich nichts sagen, zu lange war keiner aus unserem Volk dort unten. Doch eine Warnung muss ich euch auf den Weg mitgeben: ihr seid nicht die ersten, die dort hinabsteigen. Bereits einige eurer Vorgänger hatten diese Aufgabe erhalten. Nicht alle haben sie angenommen, doch die, die es taten, sind nie zurückgekehrt. Aber bedenkt auch, dass es ihrer stets nur zwei waren statt vier. So vielfältig und auch so stark wie ihr war keiner vor euch.“
Damit übertrieb es Usharia vielleicht etwas, doch das Lob nahmen wir gerne an und es spornte uns an.
„Wie sieht es mit einer Belohnung für diese gefährliche Aufgabe aus?“, fragte dann Mara.
„Es soll euch frei stehen, mitzunehmen, was ihr in den Ruinen findet. Die Geister unserer Ahnen haben schon lange ihre letzte Ruhe gefunden, das ist gewiss. So nehmt, was euch zufällt, mit dem Segen der Amazonen.“
Dieser Großzügigkeit gab es wenig hinzuzufügen.
„Wir werden unser Bestes geben“, beschloss ich und die anderen stimmten zu. Damit war es ausgemacht und sogleich machten wir die Kutsche bereit, um weiterzureisen. Usharia würde uns bis zu den Ruinen begleiten und dann zurückkehren. In der Zwischenzeit würde mein Pferd hierbleiben und die Amazonen würden sich darum kümmern, dass bei unserer Rückkehr Verpflegung zur Verfügung stand, damit wir auch den Weg zurück nach Dairaba schaffen würden. Die Anwesenheit von Odilon erwies sich in diesem Sinne als Glücksfall.
Dann brachen wir auch schon auf, diesmal waren Mara und Dario vorne auf dem Kutschbock, Suena, Usharia und ich hinten im Wagen. Und die Hohepriesterin begann bereits nach wenigen Metern wieder mit eindeutigen Avancen … auch in Richtung Suenas. Meine Begleiterin aus den Küstenstaaten wirkte ehrlich irritiert und lehnte ab. Es wäre auch alles viel zu verwirrend. So blieb der unebene Boden das einzige, was die Kutsche hie und da ins Ungleichgewicht brachte.
Als Dario den Wagen anhielt, sprang ich als erster aus der Kutsche. Allmählich wurde es mir der Avancen Usharias zu viel und ich drängte auf etwas Freiraum – ohne, dass ich die Hohepriesterin selbst ablehnen konnte. Die Sache mit dem Hochverrat käme sonst viel zu schnell wieder auf den Tisch.
Zu fünft blickten wir dann auf die Ruinen früherer Amazonenbauten. Aus dem Fels, der sich vor uns erhob, waren ganze Häuser und Türme herausgeschlagen worden. Wie ein Wald ragten sie auf, eng verwachsen mit dem Boden. Nur der stete Wüstenwind hatte nach Generationen seinen Tribut eingeholt und viel von dem weggeschliffen, das sich hier einst erhoben hatte. Usharia Ashanti schritt sogleich los und wir folgten ihr, sobald wir unsere Sachen von der Kutsche heruntergenommen hatten. Die Hohepriesterin führte uns zu einer Halle im Gestein, die von außen noch wie eine einfache Höhle angemutet hatte. Im Inneren erblickten wir jedoch das riesige Symbol eines vierblättrigen Kleeblatts, das in den Boden eingraviert worden war. Eine kleine Vertiefung in der Mitte war der einzige Anhaltspunkt in der ansonsten leeren Halle.
„Ihr müsst euer Blut geben, damit ihr hinabfahren dürft“, erklärte Usharia.
„Sodann“, machte Dario und schnitt sich in die Hand. Mara, Suena und ich folgten seinem Beispiel und so troff unser Blut hinab auf das Kleeblatt. Ein Ruck ging durch den Fels und binnen weniger Sekunden senkte sich der Stein. Wir fuhren auf der Plattform, die das Kleeblatt war, etwa sechs Meter in die Finsternis. Ohne einen direkten Weg zurück nach oben zu sehen.
„Ist euch schon mal der Gedanke gekommen, das keiner zurückkam, weil er hier unten verhungert ist?“, rief Dario lakonisch nach oben.
„Ich werde bald wieder hier sein. In zwei Tagen spätestens, um euch zu empfangen“, erklärte die Amazonenpriesterin.
Ich runzelte die Stirn, ebenso meine Begleiterinnen. Aber hier waren wir und Dario entzündete eine Fackel, um Licht ins Dunkel zu bringen. Nach wenigen Momenten konnten wir so den Raum in Augenschein nehmen – doch er bot wenig mehr, als die Platte, auf der wir heruntergefahren waren. Der Platz war hier unten einst von unermüdlichen Händen freigehauen worden. Doch darüber hinaus war hier alles kahl und leer. Lediglich zwei Türen führten aus dem Raum hinaus.
Dario wollte bereits zur Tat schreiten und eine Tür öffnen, da hielt ich ihn am Arm zurück. „Bevor wir voranschreiten, in der Düsternis dieses Labyrinths, sollten wir einen Moment verweilen. Ich will euch an einen großen Helden Eschars erinnern, der sich nicht von den Gräueln zurückschrecken ließ, die in der Welt fern von Ormuts Licht lauern.“
Dazu nahm ich meine Laute hervor und spielte die ersten Töne. Suena blickte mich eindringlich an und kannte wohl den Text dieses Liedes. Ich nickte ihr zu und so begann sie mit schöner, kräftiger Stimme mein Lautenspiel zu begleiten. So stärkten wir uns und unsere beiden Begleiter für die kommenden Stunden – ja, wahrscheinlich sogar Tage – in der Düsternis dieser Gräber.
Als wir endeten nickte mit Dario zu und schritt zu einer hölzernen Tür, die die Jahrzehnte hier unten unbeschadet überstanden zu haben schien. Sie war verschlossen, doch von diesem kleinen Hindernis ließen wir uns nicht aufhalten. Der Araner setzte die Brechstange an und mit einem Ruck brach der die Tür auf. So konnten wir weiter vordringen: durch karge Gänge, mal sauber behauen, mal uneben und rau. Wenig war üblich, falls es denn überhaupt einmal große Pracht hier unten gegeben hatte. Um genau zu sein, war überhaupt wenig übrig, immer wieder landeten wir in Sackgassen ohne erkennbaren Nutzen.
Schließlich öffnete Dario eine Tür und wir alle vernahmen ein deutliches Klacken. Ich schob mich neben den Araner und untersuchte den Rahmen der soeben geöffneten Pforte. Am unteren Rand befand sich ein Klickmechanismus, der nun eingerastet war – was er wohl immer tat, wenn die Tür geöffnet wurde.
Nachdem ich Dario darauf aufmerksam gemacht hatte, nahm er einen herumliegenden Stein, von denen es in diesen Ruinen mehr als genug gab, und rollte ihn den Gang entlang. Sobald das Gewicht über den steinernen Boden kullerte, klappte der Boden weg. Allerdings dauerte es gerade einmal fünf Sekunden, dann war die „Falltür“ bereits wieder oben und sie trug den Stein mit sich.
„Ist das eine Falle oder ein Versteck?“, fragte ich verdutzt in die Runde. Zur Antwort nahm Dario noch einen Stein, warf ihn erneut und diesmal konnten wir mehr erkennen: der Boden klappte herunter und gab den Weg zu einem kleinen Raum frei.
Zunächst warf Dario eine unserer Fackeln voraus, dann schickte Suena ihre schwarze Katze los, die sich bisher unbemerkt um uns herum bewegt hatte. Das Tier kam unbeschadet in den kleinen Raum rein und wieder heraus – und die Küstenstaatlerin erklärte, nachdem ihre Augen kurz glasig geworden waren: „Dort unten gibt es eine kleine Kiste.“
So machte es sich zuletzt Mara zur Aufgabe, diese zu bergen. Sie lief auf die Platte, hastete in den Raum hinein … und auch wieder heraus. Mit sich trug sie die kleine Kiste, die wir sofort neugierig aufschlugen. Darin befand sich, sicher in Samt eingelegt, ein kleines Fläschchen.
„Was das wohl ist?“, fragte Suena.
„Oh, da ist ein Zettel“, bemerkte ich und zog die Notiz vom Hals der Flasche ab. Glücklicherweise war sie auf Scharidisch: „Hier steht, das Gebräu wäre ein Heiltrank.“
„Muss stimmen – wenn es da schon steht“, merkte Dario an.
„Auf jeden Fall“, bestätigte Mara.
Mit diesem Schatz in der Tasche zogen wir weiter durch Korridore, die einst mal mehr, mal weniger mühsam abgeschliffen wurden. Schließlich schienen wir den tatsächlich bearbeiteten Bereich verlassen zu haben und sahen uns nach einer weiteren versperrten Tür einer großen Höhle gegenüber. Die Luft war feucht und diverse Pilze sowie Moose erkletterten einige Tropfsteine. Das Licht unserer Fackel reichte nicht, um bis in den hintersten Bereich zu strahlen, doch eines sahen wir ohne jeden Zweifel: dutzende Spinnnetze, die teilweise miteinander verwoben waren. Diese ganze Höhle musste ein Nest sein.
„Da links ist eine Tür. Hier geht es weiter“, erklärte Dario.
„Wollen wir nicht lieber umkehren?“, fragte Mara mit zittriger Stimme.
„Von so ein bisschen Getier lassen wir uns doch nicht aufhalten“, hielt ich dagegen. „Dario schließe noch einmal kurz die Tür. Ich werde eine alte Weise von Sahal Haddin vortragen, einem furchtlosen Feldherrn, um unseren Mut zu kräftigen.“
Der Araner tat wie ihm geheißen, wenngleich er mich mit meiner Laute etwas skeptisch anblickte. Doch kaum, dass ich die ersten Töne angeschlagen hatte, floss die Wirkung des emotionalen, wenn auch textlosen Liedes in meine Begleiter. Als ich am Ende ankam, hängte ich die Laute wieder sicher an meinen Rucksack und zog mein Nimcha.
„Gehen wir durch die Höhle!“, sagte Dario und bekräftigte seinen Entschluss indem er seinen Säbel zog.
Wir gingen dicht hintereinander am Rand der Höhle entlang. Es waren nicht mehr sehr weit bis zum Ausgang … da hörten wir das Trippeln von Beinen und das Klacken von Zangen. Größere Schemen bewegten sich am Rande des Lichtfelds und Mara, die mit besserer Sehkraft als wir gesegnet war, hielt den Atem an.
„Da … da … Spinnen!“, stammelte sie und kurz darauf schoben sich vier hundegroße Kreaturen ins Licht. Ihre dunkle Haut war mit schwarzem Haar bedeckt und sie bäumten sich auf, um ihre Giftzangen zu präsentieren. Zweiunddreißig Augen starrten erwartungsvoll auf uns vier.
„Lasst uns fliehen!“, schrie Mara, wobei ihr fast die Stimme brach. Zur Antwort trat ich mit meinem langen Krummsäbel einen Schritt nach vorne, den Spinnen entgegen: „Weichet, Kreaturen des Abgrunds!“
Sofort sprangen mich zwei der Biester an, doch es gelang mir, auszuweichen. Dann zögerten auch meine Begleiter nicht länger, Dario und Mara stürzten sich jeweils auf eine Riesenspinne. Der Bihänder der Elfe zischte durch die Luft und öffnete den dicken Hinterleib, der grünes Blut freigab. Mit einem widerlichen Kreischen ging das Wesen zu Boden.
„Ha! Wir werden sie besiegen!“, brüllte ich, während ich den weiteren Angriffen meiner beiden Gegner auswich. Ein Biss erwischte mich am Bein, doch das giftige Sekret floss wirkungslos über den Lederschutz hinweg. In diesem Moment schlug Dario der Spinne vor ihm auf die Beine. Das Untier knickte ein, dann schoss die Elfe von der Seite heran und vergrub den Stahl ihres Bihänders tief im Leib der Kreatur.
Dann waren es nur noch die beiden Riesenspinne, die ich in diesem Moment weiterhin … ablenkte. Doch in dem Moment, als Dario an meine Seite kam und eine der Spinnen mit einem plötzlichen Angriff verwirrte, nutzte ich den Moment und schlug mein Nimcha in das Maul und damit den Kopf der Bestie.
Nun entschloss sich auch Suena zum Angriff und stürmte heldenhaft mit gerade einmal einem Dolch auf die letzte Spinne zu. Es musste die Begeisterung meines Liedes sein, das sie so nach vorne peitschte … dann strauchelte sie und rollte geradeso unter dem Gegenangriff der Spinne weg. Mara war sofort da und schlug nach der Spinne, um Suena etwas Luft zu verschaffen – doch ihr Angriff ging fehl und mit voller Wucht schlug der Stahl gegen Felsen. Das Material schrie förmlich und eine Scharte war in die Waffe geschlagen. Doch sie zerbrach zum Glück nicht. So kam Dario zum Ausfall, verfehlte und geriet aus dem Gleichgewicht. Die Spinne attackierte ihn und er schaffte es nur auszuweichen, indem er rückwärts zu Boden fiel.
Doch nun hatte die Kreatur ihr Momentum überreizt. Ich griff schwungvoll an, den Griff meiner Waffe mit beiden Händen umfasst, und zerteilte die Riesenspinne in der Mitte.
Ich atmete noch stoßweise aus, da packte mich Dario am Arm und zog mich weiter. Wir eilten rasch aus dieser Höhle hinaus. Hinter der Tür auf der anderen Seite offenbarte sich zunächst nur ein weiterer, schmuckloser Gang. Genau der richtige Ort, um eine kurze Ruhepause einzulegen. Mit einem Holzkeil verschloss der Araner sicherheitshalber die Tür hinter uns, damit uns so leicht keine weiteren Spinnen mehr folgen konnten. Dann machten Dario und Suena sich daran, mit ihren rudimentären Heilfertigkeiten, unsere Wunden zu versorgen. Diese waren zwar eher klein, aber wer wusste, welche Gefahr hinter der nächsten Biegung lag.
Mara war jedoch ungeduldig und ging bereits etwas vor – oder vielmehr von der Spinnenhöhle weg. Ich rief ihr zwar nach, sie solle warten, aber dann war sie auch schon um die Ecke gegangen. Wir drei verblieben kopfschüttelnd, doch die Elfe kam bereits wenig später unversehrt zurück.
„Eine geschlossene Tür versperrt den Weg. Dario, kannst du sie aufbrechen?“
„Sicher“, verkündete der Ordenskrieger und nachdem der letzte Verband festgezurrt war, erhob er sich. Mit der eisernen Brechstange bewaffnet folgte er der Elfe. Suena und ich gingen hintendrein. Auf dem Weg gab es tatsächlich weiterhin nichts. Keine persönlichen Spuren der einstigen Erbauer, nicht einmal ein Zeugnis der letzten Abenteurer, die von den Amazonen hinab gesandt worden waren.
Dann standen wir auch schon an der Tür, Dario schob die Brechstange in den Spalt zwischen Fels und Holz und begann zu hebeln. Mehrere Minuten mühte er sich ab, dann wischte er sich keuchend den Schweiß von der Stirn.
„Das Ding will nicht nachgeben.“
Zur Antwort legte Mara die Hand auf den Türknauf und schob das „Hindernis“ auf. Geschlossen bedeutete nicht verschlossen … und wir drei verblieben etwas überrascht vom schelmischen Geist der Elfe.
Doch die Szenerie, die sich uns nun bot, war grundlegend anders als alles zuvor, obwohl sich nur wenige Details veränderten. Der Gang hinter der Tür war gemauert, also noch etwas sauberer ausgearbeitet. Vor allem eines fiel jedoch auf: An der Wand hingen Fackeln … brennende Fackeln.
„Sie könnten einst mit Zauberöl entzündet worden sein“, mutmaßte Mara.
„Hm, ich bin mir nicht sicher“, erwiderte ich – mir war unverständlich, wie eine Fackel Jahrhunderte überdauern konnte.
„Es macht schon Sinn … Zauberöl macht einiges möglich“, warf Suena ein, die wohl als einzige eine tatsächliche Nähe zu Zauberei und solchen Dingen hatte. An der Stelle fragte ich mich aber wieder: woher eigentlich? Das war nun nicht der richtige Ort dafür, doch irgendwann musste ich mir Gewissheit verschaffen …
„Aber wirklich ewig brennende Fackeln?“, fragte ich nun stattdessen nach.
„Sicher … oder?“, wandte sich Mara an Suena.
Doch die zuckte jetzt nur die Achseln. Seltsames Gespräch.
So schritten wir weiter, etwas ratlos, durch ausgeleuchtete Gänge. Eine Abzweigung fanden wir jedoch, die uns wieder an den Rand einer natürlichen Höhle brachte. Diese war deutlich größer als jene mit den Spinnen. Wie groß genau ließ sich entsprechend nicht erahnen, doch vor allem war sie ausgefüllt mit mannsgroßen Pilzen, die ein schwaches Licht ausstrahlten. Der Boden war ebenfalls mit kleineren Pilzen oder leuchtenden Halmen übersät.
„Ich glaube nicht, dass wir hier weiter sollten“, mutmaßte ich angesichts des dichten Bewuchses und den mir unbekannten Gewächsen.
„Da hast du wahrscheinlich …“, doch der Rest von Maras Satz ging unter, als etwas in dem Pilzwald vor uns raschelte. Nur einen Moment später schoss zwischen den Pflanzen ein übergroßer Tausendfüßler hervor, dessen schwarzer Panzer im leichten Licht schmierig schimmerte.
Blitzschnell zückten wir unsere Waffen, dann bäumte sich das Wesen bereits auf und seine vordere Hälfte war beinah so groß wie ein Mensch. Unter dem ersten Schwinger von Maras Bihänder tauchte das Wesen unter und versuchte mit seinen breiten Zangen nach dem Arm der Elfe zu schnappen. Sie entging dem Gegenangriff, dann folgte unsere Gegenreaktion. Suena rief aus dem Hintergrund eine Zauberformel, ich lenkte das Wesen ab und Mara schaffte es, einen ersten Treffer zu landen, der einige der vorderen Beine abtrennte. Der Riesentausendfüßler zuckte, dann rauschte auch schon der Säbel Darios heran und trennte den Kopf vom Rest des übergroßen Leibs.
Ohne ein Wort zu viel zu verlieren, zogen wir uns wieder in den gemauerten Teil dieses unterirdischen Systems zurück. Und allmählich wurde es kurios, was wir hier unten vorfanden. Zunächst war da ein ordentlich eingeräumter Lagerraum, der es einem an nicht viel mangeln ließ, was insbesondere der Magen begehrte. Sogar einige äußerst exotische Tiere gab es, entweder gepökelt und abgehängt oder eingelegt und ausgestellt. Es lag nichts offen oder angebrochen herum, was darauf schließen ließ, dass zumindest unmittelbar niemand hier gewesen war.
An den Lagerraum angeschlossen fanden wir eine kleine Zelle mit zwei Schaffen, die beide bereits gut gemästet wirkten. Etwas verdutzt über diese Szene, beschloss ich, den beiden Futter zu geben.
„Es gibt ja Geschichten von Menschen, die in Schafe verwandelt wurden“, begann ich.
„Nicht jetzt, Karim“, meinte Dario.
Also gingen wir weiter und fanden einen großen und geschmückten Raum. Ihn beherrschte eine lange Banketttafel, über der ein großer Kronleuchter aufgehängt war. Der Tisch war vollständig gedeckt, doch lag eine leichte Staubschicht auf allem.
Wir gingen weiter, einen anderen Gang entlang, und erreichten etwas, das wie eine Schlafkammer aussah. Wer wohnte denn hier im Grab der Amazonen?
Wenig später standen wir in einem Alchemielabor, wenngleich wenig davon übrig war. Doch einige Bücher hatten sich gut erhalten und ohne groß zu zögern steckte ich sie nach kurzem Überfliegen ein. Ihre Titel waren: Marsiano, Terissimo und Martiso. Wenn ich mich recht entsann waren das Namen, die eher düsteren Bereichen der Alchemie entsprangen. Näheres würde eine Recherche in Dairaba oder einer anderen großen Stadt zu Tage bringen.
Mara zog es bereits weiter und neugierig öffnete sie eine Tür, aus der ihr sogleich zorniges Gefiepe entgegenschwoll. Zwei Ratten, größer als Suenas Katze, stürzten sich der Elfe entgegen, die kurzerhand ihr Schwert zog und das erste Untier mit einem Streich zerteilte.
Dario stand am nächsten bei ihr, doch er machte keine Anstalten, seine Waffe zu ziehen. Zu ungefährlich schien ihm das zweite Tier … das just in diesem Moment erst auf Maras Bein sprang und dann ihre Kleidung hochkraxelte, bis es in den ungeschützten Hals der Elfe biss. Es schoss nicht allzu viel Blut aus der Wunde, doch ungefährlich war dieser Angriff nicht gewesen! Nun schüttelte Mara das Biest aber ab und erschlug es keine Sekunde nachdem es auf den Boden aufgeschlagen war.
Der Gang hinter der Tür erwies sich indes als verschüttet. Hier gab es höchstens ein Durchkommen für kleinere Tiere, die gut graben konnten. So wählten wir einen anderen Weg und landeten in einem Raum, der uns innehalten ließ. In seinem Zentrum befand sich ein großes Becken, quasi ein Bad … nur war es nicht mit Wasser gefüllt. Sondern mit Blut.
„Was geht hier vor sich?“, keuchte ich.
„Hm“, machte Mara. „Ob das menschliches Blut ist?“
„Wir haben immerhin nur die Körper von Tieren gesehen“, hielt Suena dagegen.
Bald schon wich der erste Schrecken der Neugier. In das Bad wollte sich freilich keiner begeben, doch wir versuchten, einige Gegenstände hineinzuwerfen, um die Tiefe abzumessen. Doch spätestens in der Mitte des Beckens versank alles ohne wieder aufzutauchen.
„Ob sich dort ein geheimes Portal versteckt?“, mutmaßte die Elfe.
„Ich hoffe, wir müssen es nicht herausfinden“, erwiderte Dario kopfschüttelnd.
Also gingen wir weiter, Mara übernahm wieder die Führung und öffnete die nächste Tür. Wir standen in einem engen Gang und ich sah nicht, was genau vor sich ging. Doch plötzlich bemerkte ich, wie sich die Elfe nach links warf, Dario nach rechts, Suena ließ sich fallen … und ein riesiger Bolzen, vom Durchmesser eines jungen Baumes und mit brutaler, eiserner Spitze versehen, raste auf mich zu. Ich wirbelte nach links und hauchdünn strich der Ballistenpfeil an mir vorbei und zerschellte an der nächsten Wand. Im nächsten Moment starrten wir vier uns an – erst überrascht und dann erfreut, dass wir alle geschafft hatten, dieser Falle auszuweichen!
Doch das Grab der Amazonen war mit seinen Wundern, Hinterhalten und Bewohnern noch lange nicht am Ende. Als nächstes war da ein Gang, in dem gleich mehrere Axtpendel den Weg versperrten. Diese wiesen keinen einheitlichen Rhythmus auf, sodass es dem Wahnsinn gleichkäme, dort hindurchschlüpfen zu wollen. Also wählten wir wieder einen anderen Weg …
Und landeten in einer großen, gut aufgeräumten Bibliothek. Sieben Regalreihen ragten vor uns auf, nur durch schmalste Gänge zerteilt. Und in ihnen befanden sich hunderte Bücher, auf deren Rücken ich die verschiedensten Sprachen sah, zuweilen Zeichen, die ich nicht einmal zuordnen konnte. Doch auch Schriften in Scharidisch waren darunter. Sie handelten von fernen Ländern, eines sogar von KanThaiPan, das mir gerade einmal von Erzählungen über Erzählungen von Handelsreisenden bekannt war. Der östliche Rand der Welt … natürlich musste ich mir dieses Buch und so viele wie noch möglich einstecken. Das war der Beginn für eine neue Dichtung.
Plötzlich hörten wir Stimmen. Sie kamen von hinter einer Tür, die sich rechterhand befand: der einzige weitere Ausgang.
„Das klingt nach Neu-Vallinga“, stellte Suena fest.
„Lidralier … Küstenstaatler? Hier?“, fragte ich verdutzt.
„Hier ist einiges viel zu seltsam für meinen Geschmack“, brummte Dario. „Besser wir verstecken uns zunächst, um zu beobachten, wer auch immer hier haust.“
„Hinter die Regale“, zischte Mara und mangels eines besseren Verstecks folgten wir ihrem Vorschlag.
Dann glitt auch schon die Tür auf und eine Person trat ein. Es war ein Mann, der eine schwarze Robe trug. Er war äußerst blass, doch wirkte er nicht schwächlich. Ohne Argwohn schritt er auf die Regalreihen zu … und stand prompt neben Mara.
„Huch“, machte er. „Wer seid Ihr?“
„Wer seid Ihr?“, gab die Elfe zurück und hob ihren Bihänder entschlossen.
„Ahh! Eindringlinge!“, gab der Mann einen ersten Ruf von sich.
„Still oder ich erschlage dich“, knurrte Mara. Das Schreien gab der Robenträger tatsächlich auf, doch still wurde er nicht: „Was wollt Ihr? Seid Ihr eine Amazone? Wir wollen diesen Kampf nicht mehr.“
„Welchen Kampf?“, fragte ich und trat aus meiner Reihe hervor. Suena und Dario folgten. Verdutzt blickte uns der blasse Mensch an, der in der Sprache der Küstenstaaten redete.
„Wohl doch keine Amazonen“, stellte er angesichts der Vertreter des männlichen Geschlechts fest. „Aber vielleicht in ihrem Dienst?“
„Was geht hier eigentlich vor sich?“, entgegnete Dario.
Der Mann atmete einmal tief durch. Mara schritt indes an ihm vorbei und besah sich die Tür, durch die er hereingekommen war.
„Ich beginne am besten von vorn. Mein Name ist Krolok und ich lebe hier mit meiner ganzen …“, er zuckte etwas zusammen als es hinter seinem Rücken krachte: Mara hatte ein Regal umgeworfen. Krolok räusperte sich und sprach dann weiter: „Ich lebe hier mit meiner ganzen Familie.“
„Welche Familie?“
„Die Krolok-Familie“, erwiderte der Mann etwas verschmitzt. „Wir sind dreizehn.“
„Mutter, Vater, Kinder …?“, fragte ich weiter.
„Nun, es ist vielleicht etwas komplizierter. Unser Familienbegriff ist, ähm, speziell. Wie ihr vier vielleicht festgestellt habt, bin ich nicht ganz menschlich. Ebenso wenig jeder andere aus meiner Familie“, erklärte Krolok – während Mara hinter seinem Rücken das Regal vor die Tür schob. Wir blickten indes genauer in das Gesicht dieses Mannes. Sahen dunkle, aber gewöhnliche Augen, schwarzes Haar, ein weißes Lächeln … und besonders ausgeprägte Eckzähne.
Unsere Augen weiteten sich, Krolok nickte, wobei er seltsam beschämt wirkte, und Mara schob gerade einen Lesesessel zur Tür und warf ihn auf das Regal.
„Wir sind Vampire. Dreizehn Vampire, die hier leben, um möglichst fern der Menschheit zu sein.“
„Fern? Euresgleichen labt sich doch an ihrem Blut!“, entgegnete Dario.
„Üblicherweise“, gestand Krolok ihm zu. „Doch wir haben uns von diesem Pfad abgewandt. Wir trinken das Blut von Tieren.“
„Das funktioniert?“, fragte Suena neugierig. Krolok wackelte zur Antwort mit dem Kopf hin und her, ehe er erklärte: „Mehr oder weniger. Wir verspüren keinen Hunger mehr nach menschlichem Blut. Doch wir brauchen viel tierischen Lebenssaft. Und natürlich einen sicheren Rückzugsort, den wir hier gefunden haben. Den Amazonen sind wir jedoch ein Dorn im Auge. Wir haben großen Respekt für ihre Ansprüche, doch jede Verhandlung wurde abgelehnt. Stattdessen haben sie versucht, uns zu überfallen. Dabei sind einige von ihnen umgekommen … seitdem herrscht Krieg.“
Krolok wirkte ernsthaft niedergeschlagen, wenngleich ich seine einseitige Schuldzuschreibung etwas in Zweifel zog. Die Situation war jedoch alles in allem sehr vertrackt – und kurios.
„Ihr, eine Vampirfamilie, führt Krieg gegen die Amazonen?“, fasste ich verblüfft zusammen.
Krolok nickte. „Aber was führt euch vier eigentlich hierher? Dieser Kampf kann es wohl kaum sein … zumindest nicht direkt.“
„Wir suchen etwas“, erklärte ich nach einem kurzen Blickaustausch mit Dario. „Ein Artefakt, das die Amazonen benötigen. Und wir haben nicht vor, uns anderweitig in diesen Konflikt einzumischen … es muss kein Blutvergießen geben.“
„Ich befürchte, ich weiß, was ihr sucht“, erwiderte Krolok. „Ein vierblättriges Kleeblatt aus Gold, ein Symbol und Artefakt der Fruchtbarkeit.“
„Wir sind wohl nicht die ersten, die es holen wollen“, stellte Suena fest. Gedanklich wanderte meine Hand bereits zur Waffe – das klang nicht gut.
„Nein. Die Amazonen fordern schon länger, dass wir ihnen dieses Artefakt ausliefern. Doch auch meiner Familie gereicht es zum Nutzen. Es verstärkt unsere Möglichkeiten, Tiere aufzuspüren. Wie ihr euch vorstellen könnt, ist das in diesem kargen Land von höchstem Nutzen für uns“, führte der Vampir aus.
„Aber diese Jagderfolge werden euch nicht mehr weiterhelfen, wenn die Amazonen herkommen, um sich das Artefakt mit geballter Macht zu holen“, wandte ich ein. „Sie stehen bald mit dem Rücken zur Wand. Und dann wird es ein Kampf ohne Erbarmen.“
„Ich weiß“, erklärte Krolok, was mich wieder verblüffte. „Deswegen versuche ich auch, meine Brüdern und Schwestern zu überzeugen, dass wir den Amazonen das Artefakt übergeben – als Preis für den Frieden.“
„Ihr debattiert bereits darüber?“
„Ja … fünf von unserer Familie bestimmen unsere Vorgehensweise, quasi als kleiner Rat. Zwei Schwestern und zwei Brüder von mir, ich bin der fünfte. Doch derzeit steht es zwei gegen drei, weswegen wir das Artefakt nicht aufgeben werden.“
„Dann werden wir Euch dabei unterstützen, eure Brüdern und Schwestern umstimmen!“, erklärte ich entschlossen. „Sonst wird es Tote geben, Amazonen oder Vampire, auf beiden Seiten.“
„Ihr wollt uns helfen? Einer Familie Untoter?“
Ich atmete tief durch. Es klang nach Wahnsinn – doch konnten Krolok und seine Verwandten so schlimm sein? Hier, ausgestoßen, weit weg von der Zivilisation? Ich sah meine Begleiter an: Suena nickte, Dario nickte. Mara betrachtete stolz die Barrikade, die sie vor der Tür errichtet hatte.
„Ja, wir werden euch helfen“, versicherte ich Krolok, woraufhin der blasse Mann unerwartet warm lächelte.
„Dann versuchen wir es. Eine meiner Schwestern habe ich bereits überzeugt, bei der anderen haben das derzeit meine Brüder geschafft. Diese beiden werden wir sicher nicht umstimmen können … sie sind ehrgeizig und opponieren gegen meine Vorrangstellung in der Familie. Aber meine Schwester Lysann, bei ihr könnte es gelingen.“
„Hol sie her“, schlug ich vor. „Hier können wir neutral mit ihr reden. Wenn wir mit dir gehen …“, mitten ins Nest hätte ich fast gesagt, „wird es schwerer fallen, sie zu überzeugen. Umgeben von deinen Brüdern.“
Krolok neigte den Kopf und wandte sich der Tür zu – und blickte einer gewaltigen Barrikade entgegen. Er schnalzte mit der Zunge, trat heran und warf die schweren Holzblöcke, die einmal Regal, Tisch, Stuhl und Sessel gewesen waren, nacheinander mit einer Hand lässig zur Seite. In diesem Moment war ich froh, nicht die Waffe gegen ihn erhoben zu haben. Mara erging es wohl ähnlich, denn sie blickte fassungslos auf Kroloks geringe Mühen. Der zwinkerte ihr nur noch kurz zu und verschwand dann hinter der Tür.
„Wie wollen wir vorgehen?“, fragte Suena.
Als die Vampire in den Raum kamen, war alles bereit. Ich hatte meine Waffe auf den Schoß gelegt, Mara, Dario und Suena standen im Halbkreis einige Meter vor der Tür, aus der zunächst Krolok trat, dicht gefolgt von einer Frau – die wohl wie keine andere den Namen „Herrin der Nacht“ verdiente. Langes, blondes Haar fiel ihr auf den Rücken, ihr blasses Gesicht war ebenmäßig und makellos. Enge, schwarze Lederkleidung offenbarte ihren, berechtigten, Stolz auf den eigenen Körper.
So war es eine Kleinigkeit für mich, meine Waffe aufzunehmen: die Oud, die scharidische Laute. Ich schlug die Saiten an und entlockte ihnen Klänge, deren Widerhall mehr anschlug, als die Ohren fassen konnten. Diese Musik hörte man mit dem Herzen.
Mehrere Minuten spielte ich, ohne, dass irgendjemand sprach. Lediglich Suena unterstütze mein Spiel an zentralen Stellen durch geschickt eingesetzten Gesang. Mal offensiver, mal ruhiger, doch immer durchtränkt vom Lob für die eine, deren Schönheit und bald auch Weisheit unbestreitbar war: Lysann. Denn eines galt schon immer: Lob für Erreichtes mündete immer in einer Bitte für Neues. Und es funktionierte.
Kroloks Schwester war noch einen Moment sprachlos, als der letzte Ton verklang, dann zeigte sie ein breites Lächeln, das ihre vorher noch kalte Schönheit in einen flammenden Orkan verwandelte.
„Ich grüße dich, du Schönheit der Nacht“, schmachtete ich, während ich meine Oud zur Seite legte und mich tief verneigte. „Dies sind meine Freunde Dario und Mara. Die bezaubernde Stimme war jene von Suena und ich bin Karim.“
„Ich bin Lysann … welch seltene Freude, ein solches Lied zu hören“, erwiderte die Vampirin und neigte anerkennend den Kopf.
„Und ich wünschte, wir wären nur hierherzukommen, um die Schönheit zu besingen, die wir bestaunen dürfen. Doch leider bringen wir dringende Kunde. Die Amazonen stehen mit dem Rücken zur Wand. Wenn sie nicht bald das Artefakt erhalten, werden sie hungern. Und dann werden sie mit allem, was sie haben, herkommen und es sich holen. Dann wird es keine Gnade mehr geben, erst recht keinen Frieden.“
„Doch was geschieht, wenn wir ihnen das Kleeblatt übergeben? Wir werden hungern und die Amazonen werden ihre Chance nutzen. Ich sehe in der Zukunft nur den Krieg“, entgegnete Lysann.
„Das werden wir nicht zulassen. Das Artefakt wird den Beginn von Verhandlungen markieren. Für einen lang anhaltenden Frieden!“
„Wie soll das funktionieren, wenn wir hungern?“, blieb Lysann pessimistisch.
„Ihr macht euch ihre Zahl zunutze“, erklärte Suena. „Sie werden euch mit Essen versorgen, denn sie werden genug haben. Dafür könnt ihr die Gräber hüten und pflegen, die gleichzeitig eure Zuflucht sind.“
„Ich bezweifle, dass die Amazonen dem zustimmen werden. Sie sind rachelüstern und hinterhältig. Sobald sich die Gelegenheit bietet, werden sie meiner Familie einen Dolch in den Rücken schlagen.“
„Das werden wir nicht zulassen! Das Artefakt wird nicht einfach so übergeben. Wir werden sie an ein Versprechen binden.“
„Das sie nicht halten werden!“
„Wagt wenigstens den Versuch zum Frieden, denn jeder andere Weg führt in Krieg und Tod!“
Nun hielt Lysann inne. Sie fixierte mich mit ihren mitternachtsblauen Augen und schien mich förmlich zu durchwühlen. Sie suchte nach einem Funke Unehrlichkeit, einem Hauch von Verrat – doch sie fand nichts, denn ich glaubte an das, was ich gesagt hatte. An das, was Suena gedacht hatte.
„Es kann Frieden geben“, bekräftigte ich. Dario und Mara traten neben mich. Suena nickte.
Lysann sah mich noch einen Moment länger an, dann nickte sie seufzend. „Lasst es uns wagen.“
Wenige Stunden später endete die Sitzung des kleinen Rates der Krolok-Familie. Seine Brüder hatten zwar jede Menge Gift gegen ihn gespien, doch sich letzten Endes seiner Stimme und der ihrer Schwestern unterworfen. So saßen wir nun gemeinsam mit der gesamten Familie an der langen Tafel, die wir bereits entdeckt hatten. Der Staub wurde weggewischt und köstliches Essen aufgetragen – natürlich alles tierisch.
Uns fiel dabei auf, dass es nur zwölf statt dreizehn Vampiren waren.
„Das ist eine etwas kuriose Geschichte“, erklärte Krolok daraufhin. „Tatsächlich hat einer unserer Brüder einst versucht, uns etwas Nahrung zu besorgen und hat dabei ein Schaf gestohlen. Leider stand dieses Schaf zu diesem Zeitpunkt im Besitz einer alten Vettel, die über nicht geringe Zauberkräfte verfügte. Sie hat ihn zur Strafe in ein ebensolches Schaf verwandelt.“
„Oh … dann sind wir ihm wohl begegnet.“
„Ja? Nun, er wird sich nicht beschwert haben. Tatsächlich … wir wissen nicht, wer von den beiden Schafen unser Bruder ist. Daher kümmern wir uns um beide so gut, wie wir können. Vielleicht ist er so glücklich.“
Ich sah die beiden, extrem wohlgenährten, Schafe wieder vor mir, wie sie genüsslich auf dem Futter herumkauten, das ich ihnen hingeworfen hatte. Ein Grinsen konnte ich mir gerade so verkneifen, aber tatsächlich schien es nicht das schlechteste Leben zu sein.
Dario sprach indes mit den anderen Vampiren über Ormut – es stand wohl außer Frage, dass diese Untoten, diese Jäger der Nacht, insbesondere als Geschöpfe Alamans galten. Doch hier, abgeschieden von der Welt, ereignete sich erstaunliches: ein Ordenskrieger aus Aran nahm seine Halskette ab, an der das heilige Symbol der Sonne hing und überreichte es Lysann, einer Vampirfrau. Lächelnd legte sie es sich an und Dario gab ihr einen rituellen Kuss auf die Stirn. Wer konnte sagen, was der Glaube hier noch bewirken mochte? Diese Vampire blickten einer faszinierenden Zukunft entgegen – doch vorerst mussten wir sie verlassen.
Lysann führte uns nach dem gemeinsamen Essen in die Schatzkammer und überreichte uns feierlich das massive Artefakt aus purem Gold. Daneben übergab sie uns aus reiner Dankbarkeit einige heilende Tränke sowie eine kleine Zahl von alten Spruchrollen für Suena. Zuletzt gab sie uns noch einige Amulette mit auf den Weg. Nach dem Ursprung dieser Reichtümer mussten wir nicht fragen, aber die Hohepriesterin selbst hatte uns sogar zugebilligt mitzunehmen, was wir hier unten fanden.
Dann brachte uns Lysann zu Krolok, der uns wiederum in einer großen Höhle erwartete, die wohl den einzigen Ausgang bedeutete: über eine recht dürftig wirkende Strickleiter konnte man zu einem Loch oben in der Decke hinaufklettern, wo wir bereits die ersten Sterne sahen.
„Eine letzte Frage, bevor wir euch fürs Erste verlassen“, wandte sich noch einmal Dario an die Vampire. „Was hat es mit diesem Pilzwald weiter vorne in diesem Höhlensystem auf sich?“
„Das sind Ruldenpuff-Pilze. Berührt man sie, stoßen sie eine giftige Sporenwolke aus, die einen zumindest lähmt, meistens sogar ohnmächtig macht. Angesichts vereinzelter Kreaturen, die dort herumirren, kein wünschenswerter Zustand.“
„Was liegt dahinter?“
„Dahinter? Wir haben nie versucht, uns dort hindurch zu quälen. Wer weiß, vielleicht liegt da ein Schatz“, zwinkerte der Vampir.
„Vielleicht werden wir das eines Tages herausfinden“, lachte der Araner und verabschiedete sich von Krolok. Nacheinander sagten wir den Vampiren Auf Wiedersehen und machten uns dann an den Aufstieg. Suena stieg zuerst auf und warf mir dann ein Seil herunter, das sie oben befestigt hatte. Mit dieser Sicherung fühlte ich mich gleich wohler und folgte der Küstenstaatlerin rasch. Mara und zuletzt Dario schafften es ebenfalls ohne größeren Zwischenfall; der Araner rutschte nur am Anfang kurz von den dünnen, wackligen Streben. Hätte er sich ebenfalls festgebunden, wäre ihm ein unangenehm pochendes Steißbein erspart geblieben, doch so lamentierte er noch eine Weile am abendlichen Lagerfeuer an der frischen Luft herum.
Sobald die ersten Strahlen der Sonne den Himmel aufhellten, brachen wir auf. Drei Tage ging es durch die unwirtliche Gegend, bis wir wieder den Zufluchtsort der Hohepriesterin ausmachten. Das Tor wurde bereits geöffnet und Usharia Ashanti erwartete uns.
Wir hielten die Kutsche an und gingen die letzten Schritte. Die Hohepriesterin eilte uns entgegen und fragte: „Habt ihr das Artefakt?“
„Ja. Und ein Friedensangebot.“