Aus der grünen Hölle…

Meine Gedanken rasten. Die geballte Lebenskraft, die uns hier entgegenwallte, verschlug mir den Atem. Hier lag Macht in der Natur. Und meine Gedanken zogen weiter zu meiner Heimat. Ich dachte an die tiefen des Broceliande, an all das, was dort lebte, die tiefen Kräfte, die friedlich schlummerten. Und ich erinnerte mich an den Brocendias und die anderen Wälder, die Alba bedeckten. Auf eigentümliche Weise entwurzelt, einer Seele entrissen, deren Existenz den meisten nicht einmal bewusst war. Alte Verbitterung trieb in meinen Gedanken empor, die Erinnerung an das, was einst war und nun verloren schien.
Doch hier lag die Macht vor uns. Eine Rose, die Kraft des Lebens. Eine Möglichkeit, zurückzuholen, was zerschmettert worden war? Gier wallte auf. Die anderen würden es mir nicht gestatten, mir diese Macht wegnehmen. Mit ihnen hätte ich keinerlei Chance, den Wäldern Albas ihre alte Form zurückzugeben!

Aber auch andere Erinnerungen tauchten auf. Diese Zeit war vorbei. Meinem Volk blieb, was ihm nun mal blieb und wir hatten unseren Frieden damit gefunden. Anderes war eine Verführung durch eine eigens geschaffene Illusion. Was hier unten lag, war keine Natur in wahrer Blüte. Das hier war gebundene Hexerei, die einen schrecklichen Einfluss auf das Leben ausübte. Eine Perversion.

Wir hatten kaum drei Schritte auf die Bäume zugemacht, da hallte eine Stimme in meinem Kopf wider. Der Klang war mir nur allzu vertraut…Indiél, meine Mutter.
„Ich grüße euch, Fremde. Seid willkommen in meinem friedlichen Reich, abgeschieden von allen Übeln. Auch dich grüße ich, Cirdor. Mögen es dir und deinen Begleitern gut ergehen.“
Zweifellos war dies nicht meine Mutter, sondern irgendeine Enthität, welche sich ihrer Stimme bediente. Und das war beunruhigend genug. Die anderen wirkten ebenso irritiert wie ich.
„Habt ihr eine Stimme auf KanThaiTun gehört“, fragte Miyako, worauf wir nur den Kopf schütteln konnten. Vier Abenteurer und vier Stimmen. Was Maglos vernommen haben mochte? Er wirkte zumindest als einziger entspannt.
„Und wer ist dieser Cirdor?“, fragte Olo verwundert nach.
„Ich weiß es nicht, aber ich habe einen Verdacht“, murmelte ich und hob die bernsteinerne Rose vor meine Augen. Doch sie verhielt sich nicht ein kleines bisschen anders…

So drangen wir weiter in diese bizarre Welt vor, an gewaltigen Bäumen vorbei, über einen schmalen Bachlauf. Das dichte Gras, zuweilen mit Moos versetzt, dämpfte unsere Schritte und erzeugte eine Aura der Stille, welche im Zusammenhang mit dem abnehmenden Licht nahezu einschläfernd wirken könnte, wenn wir nicht im höchsten Maße angespannt gewesen wären.
Plötzlich standen wir auf einer Lichtung und vor uns ein enormer Hirsch mit einem gewaltigen Geweih, der uns unverwandt anstarrte. Es hatte etwas Königliches, wie er da vor uns verharrte, den Kopf stolz emporgereckt, weit höher als jeder von uns – wenngleich zugegebenermaßen keiner von uns mit besonderer Größe prahlen konnte. Aber auf jeden Fall schien es das Tier zu sein, von dem Groam eine Art Vision gehabt hatte.
Dann begann der Hirsch gemessenen Schrittes davonzugehen. Weiterhin vorsichtig, gingen wir ihm nach, unsicher, was das alles hier zu bedeuten hatte.

Es waren nur wenige Minuten, dann standen wir auf einer weit größeren Lichtung, deren Mitte von einem Baum beherrscht wurde, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Mit Sicherheit der größte und gewaltigste Waldriese, der selbst die anderen in dieser kleinen, abgesonderten Welt klein wirken ließ. Er wirkte seltsam verdreht, wie ein Strudel, in den mindestens ein Dutzend verschiedene Baumarten eingewoben worden waren und die Krone zeigte Blätter aller Sorten und Farben.

Der Hirsch kam rechts neben diesem Baum zum Stehen, während sich am Rande der Lichtung dutzende Tiere versammelten, wobei Wölfe friedlich neben Hasen, Berglöwen neben Ziegen standen. Die Raubtiere wirkten dabei etwas seltsam…kleiner und ihren natürlichen Artgenossen seltsam entrückt. Und all ihre Augen ruhten auf uns.
Und dann erklang wieder die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf und die anderen schienen ebenfalls die ihrige zu hören – in diesem Moment beugten sämtliche Tiere ehrerbietig das Haupt, als würde ein König zwischen ihnen wandeln.
„Ich grüße Euch, werte Reisende. Willkommen in meinem Reich. Wer seid Ihr, die ihr Zuflucht und Geborgenheit sucht?“
Binnen eines Augenblicks wurde mir klar, dass man mit einer Lüge hier nicht weit kommen konnte. Die Stimme war schließlich in unseren Köpfen. Und sie wusste etwas von einem geheimnisvollen Cirdor, den ich immer noch mit der Bernstreinrose in Verbindung brachte, wenngleich ich dafür keinen Beweis hatte.
„Auch ich entbiete Euch meinen Grüß. Ich bin Ilfarin Tinuhên und dies sind meine Begleiter Miyako, Olo Platschfuß und Groam Bärentod sowie mein treuer Hund Maglos. Wir sind hierher gereist, um nach der Rose des Lebens zu suchen, wobei wir bereits jene der Erde in unserem Besitz wähnen dürfen. Wer seid Ihr, die Ihr uns hier so freundlich willkommen heißt?“
„Danke für eure Worte. Ich bin Geia, die Mutter von allem. Zurückgelassen vor Äonen von Jahren, erschuf ich mir ein friedliches Reich, in dem Niemand zu Schaden kommt. Nun will ich auch nie mehr zurück, denn dies ist ein Ort voller Friede, wie es ihn dort draußen nicht geben kann.“
„Was ist mit den Raubtieren? Wölfe, Berglöwen…sie essen Fleisch. Und hier stehen sie in Reih und Glied mit ihrer Beute“, musste ich fragen.
„Sie ernähren sich von Pflanzen. Hier wird Niemand umgebracht, um sich daran zu nähren“, erwiderte Geia. Zumindest erklärte das den eigenartigen Zustand der Tiere und ich hatte Mühe, meine Abscheu über diese Unterdrückung zu verbergen.
„Es könnte außerdem für euch interessant sein“, fuhr Geia fort. „Dass sich hier drei weitere menschliche Geschöpfe aufhalten. Sucht sie, sprecht mit ihnen, wenn ihr möchtet. Das wird eure Einsicht in diese Welt verbessern.“
„Was gibt es hier sonst noch, Geia?“, fragte ich weiter.
„Nun, alle Tiere, die sich in meinen Schutz begeben haben…Schlangen, Berglöwen, Wölfe, Böcke und Ziegen, Nymphen…“
„Oh!“, horchte Olo auf, verstummte aber direkt, als ihm plötzlich die ungeteilte Aufmerksamkeit der Lichtung zuteil geworden war.
„Wo sind die Menschen, von denen du sprachst, Geia?“, fragte nun Miyako.
„Sie hausen meist am See. Ihr könnt ihn sicherlich leicht finden, denn mein Reich ist nicht riesig, sondern genau in der richtigen Größe“, kam die Antwort ohne Umschweife.
„Kann uns der Hirsch den Weg weisen?“, hakte die KanThai nach.
„Sicherlich. Fragt ihn einfach.“

Als wäre es eine Selbstverständlichkeit übernahm ich es, an den großen Hirsch heranzutreten und mich feierlich zu verbeugen. Im Hintergrund hörte ich, wie Olo unseren Begleitern aufzählte, was alles für Baumarten in Geia eingewoben waren. Buche, Eiche, Zeder, Birke, Esche, Weide, Ahorn, Fichte, Kiefer und noch einige mehr. Jede Bemerkung versah er noch mit Informationen zur Nützlichkeit für die Zubereitung von erfrischenden, heilsamen, beruhigenden oder auch aufputschenden Teesorten.
Beim Hirsch angekommen, verneigte ich mich knapp und fragte: „Herr des Waldes und Vertrauter Geias, könnt Ihr uns den Weg zum See der menschlichen Wesen weisen?“

Zunächst reagierte das Tier nicht, dann schritt es erhobenen Hauptes davon – und wir hintendrein. Tatsächlich dauerte es keine zehn Minuten, bis wir angekommen waren. Es war ein kleiner See, der zum Teil von dem Bach gespeist wurde, den wir bei unserer Ankunft überschritten hatten. Mit Sicherheit gab es noch einen unterirdischen Abfluss, aber selbst bei dem klaren Wasser, war der Grund kaum auszumachen. Der Hirsch verließ uns nun wieder und wir suchten das Ufer ab. Recht schnell fanden wir dabei die Überreste eines Lagerfeuers. Wir schlugen leicht abseits unser Lager auf, um sie nicht abzuschrecken und warteten.
Einige Zeit später, es war bereits Abend, kamen drei Gestalten auf uns zu. Zwei von ihnen waren Menschen, die wohl einst auch entsprechende Bewaffnung besessen hatten, nun jedoch etwas verwildert aussahen, wenngleich auch gut genährt. Der dritte war ein Elf, der uns mit ausdruckslosem Gesicht musterte.
„Seid gegrüßt. Wir sind die Neuen“, eröffnete Olo grinsend das Gespräch auf Comentang.
„Grüße. Ich bin Burgit und das ist Dormer, wir kommen beide aus Maris“, erklärte der stämmigere der beiden Menschen während der Elf schweigsam blieb. Daher sprach ich ihn auf Eldalyn an während sich die Albai mit meinen Begleitern unterhielten.

„Grüße, Freund. Sprichst du nicht die gemeine Handelssprache?“
„Nein“, erwiderte mein Gegenüber knapp.
„Wie verständigst du dich dann mit deinen beiden Begleitern?“
„Zeichensprache.“
Ich schmunzelte kurz, als mir durch den Kopf schoss, dass dieser Elf wohl nicht einmal seine Muttersprache wirklich brauchte, so knapp wie er redete.
„Nun, ich möchte mich zunächst vorstellen. Ich bin Ilfarin Tinuhên. Bist du Cirdor?“
„Wer? Mein Name ist Mendir. Von einem Cirdor weiß ich Nichts.“
„Also gut. Und wie bist du hierhergekommen? Wir mussten immerhin durch ein versiegeltes Portal.“
Mendir wies auf die Decke der Höhle, welche einige Spalten und Risse aufwies, durch die nun nur noch einige Sterne funkelten. „Ich bin durch eine Spalte gefallen.“

Ich wandte meine Aufmerksamkeit nun wieder den anderen zu, da Mendir für seinen Teil nicht sonderlich viel zu berichten haben schien. Die beiden Albai waren wohl ebenfalls durch eine Spalte gefallen und gemeinsam hatten die drei einen Handel mit Geia abgeschlossen. Sie halfen den Tieren mit Dingen weiter, wo ihre Fähigkeiten, wie z.B. ihre Größe und die Fähigkeit, Werkzeuge zu benutzen, nützlich waren. Im Gegenzug durften sie ab und an jagen und sich so mit Fleisch versorgen. Den Gedanken, dass sich diese absurde Romantik einer unnormalen Natur damit auch noch korrumpierte und damit jeglichen Anspruch aufgeben musste, mehr zu sein, als das Reich eines wahnsinnigen Geistes, ließ ich lieber unausgesprochen. Mittlerweile schien es auch meinen Begleitern und mir klar, dass der Baum, in dem Geia ihr Zentrum hatte, wohl um die Rose der Essentia Holz herumgewachsen war und daraus ihre Kraft zog.
Auf eine Frage Groams hin, erhielten wir die Auskunft, dass man diesen Wald in gerade Mal einer halben Stunde durchlaufen hatte, was den ersten, überwältigenden Eindruck in einen sinnvollen Rahmen hob. Allerdings waren nach diesen Stunden, die wir bereits hier verbracht hatten, die Bedenken des Zwerges und mir gewachsen, dass wir hier ganz einfach wieder herausspazieren konnten. Die drei schienen uns darauf keine Antwort geben zu können oder zu wollen, da sie nicht wegwollten. Mendir sagte sogar, dass unser Volk ohnehin nicht gut auf ihn zu sprechen war, was mir einen unangenehmen Hauch kalter Erinnerungen bescherte, weswegen ich nicht mehr nachfragte.

Groam und ich gingen also wieder zurück und fanden die Tür, durch die wir eingetreten waren, verschlossen vor. Genau genommen fanden wir nicht einmal die Pforte, sondern nur eine leblose Wand, die auf die Berührung mit der Bernstreinrose nicht ansatzweise reagierte. Nicht überrascht, aber dennoch griesgrämig, kehrten wir zu den anderen zurück und beschlossen eine Wacheinteilung, während Dormer, Burgit und Mendir bereits friedlich eingeschlafen waren. Groam übernahm die erste Aufsicht…

Und die morgendlichen Sonnenstrahlen, soweit sie durch die Spalten in der Höhlendecke fallen konnten, weckten uns. Eine Art dämmerndes Zwielicht verharrte in dieser Welt, selbst, wenn es hell sein sollte und erschuf eine Aura beruhigender Müdigkeit. Die offensichtlich auch den Zwerg befallen hatte, der gerade erst aus seinem schnarchenden Schlaf erwachte. Ein zwergischer Fluch kam über seine Lippen, aber Vorwürfe konnte ihm keiner machen: hier ging es nicht mit rechten Dingen zu.

Wir beschlossen nun, uns etwas in „Geias Reich“ umzusehen. Dabei entdeckten wir nebst den verschiedensten Baumarten und kleineren Pflanzen die Rastplätze der Tiere, die sich zumindest nach ihren Rudeln aufgeteilt hatten. Sie schienen mehr oder weniger den Tag mit Dösen zu verbringen und in ihren Augen flackerte nur der klägliche Rest eines frischen Geists. Olo konnte sogar einen Berglöwen streicheln, der darauf mit wenig mehr als einem weiten Gähnen reagierte.
Schließlich trafen wir auch wieder auf Mendir und die anderen. Neugierig auf etwaige Reaktionen holte ich die Rose der Macht hervor. Sie schien ein grobes Erinnern hervorzurufen, allerdings konnten sie uns nicht viel mehr sagen.
Also schritten wir – es schien nun kein Weg mehr daran vorbeizuführen – wieder zu Geia. Die bernsteinerne Rose hoch erhoben, sprach ich: „Geia. Kennst du diese Rose der Macht?“
„Nein, Ilfarin, so etwas habe ich noch nie gesehen“, hallte die Stimme meiner Mutter durch meinen Kopf, in einer dünnen Tonlage die ich so seit bestimmt hundert Jahren nicht gehört hatte. Es brauchte nicht viel, um die Täuschung zu erkennen, die hier ausgebreitet wurde. Aber womöglich war es auch eine Täuschung, die den Geist selbst befallen und in diesen Wahnsinn gestürzt hatte, der sich hier vor uns zeigte.

„Uns ist aufgefallen, dass wir hier nicht herauskommen. Wie lässt sich das ändern?“, brummte Groam.
„Euch mangelt es am Einklang mit der Natur. In diesem Zustand kann ich euch nicht gehen lassen. Mindestens einen Mond müsst ihr hier verbringen, bis ihr die Wege meines Landes gelernt habt. Dann unterziehe ich euch einer Prüfung, die zeigen wird, ob ihr meine Weisheit erlangt habt.“
„Und was ist mit mir? Ich bin ein Druide und lebe im Einklang mit den Lebenskräften, die uns umgeben“, forderte ich mein Recht ein.
„Du müsstest zweifelsohne hier nicht so lange verharren…aber deine Begleiter in jedem Fall.“
„Wir könnten den Baum auch einfach verbrennen“, rief Olo aus und musterte theatralisch den Baum. „Ja, ja, etwas Feuer da und da…dann brennt Geia lichterloh.“
Mit aufgerissenen Augen starrte ich zu dem Halbling hinüber, der gerade einmal wieder unter Beweis stellte, dass er vor Nichts Angst hatte (einem leeren Magen ausgenommen). Keine zwei Herzschläge später hörten wir ein Knurren hinter uns und erblickten einen Berglöwen, der in angriffslustiger Haltung seinen Blick auf Olo geheftet hatte. Zugegeben, der Anblick eines Raubtiers ohne ausgeprägte Reißzähne war nicht sonderlich furchteinflößend. Doch als der Halbling an das Tier herantrat, um es zu streicheln, glaubte ich ihn wieder einmal von allen guten Geistern verlassen. Fauchend schnappte der Löwe, die Kiefer schlossen sich – aber Olos Hand war geschwind wieder in Sicherheit gebracht. Nun war er jedoch erbost und langte nach seinem Morgenstern.
„Halte ein, Olo“, rief ich noch, dann schallte Geias Schrei durch unseren Kopf: „GENUG!“

Eine Welle aus Schmerzen prasselte auf den Halbling ein, die so gewaltig war, dass sie auch verästelnd nach uns ausschlug. Wie heiße Nadeln, die in unsere Wirbelsäule gestochen wurden. Ächzend zuckte ich zusammen, genauso wie die anderen – doch Olo blieb stehen, lediglich sein rechter Gesichtsmuskel zuckte etwas und verriet die Schmerzen, die er gerade ignorierte. Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber ich war tatsächlich beeindruckt davon, wie standhaft der kleine Halbling blieb. An den Geschichten um dieses kleine Volk musste wohl tatsächlich etwas dran sein.

Doch wir waren uns einig, dass wir uns vorerst zurückziehen sollten. Groam und die anderen wollten nach in dem See nach einem Ausgang suchen, ich erkletterte währenddessen den höchsten Baum – mit Ausnahme Geias – den ich finden konnte. Oben angelangt konnte ich die Höhle einsehen, die der Geist sein Reich nannte, doch versperrten dichte Baumwipfel den Blick auf den Boden. Die steinerne Decke war auch noch einige Meter entfernt und definitiv nicht als Fluchtweg für uns erreichbar. Wenngleich die Flucht immer noch dem Erlangen der Rose der Macht untergeordnet war, sonst wäre die Reise vergebens gewesen.
Also kletterte ich nach unten und machte mich auf die Suche nach Mendir und den anderen.

Sie waren rasch gefunden, wie sie da standen und hoch hängende Beeren pflückten. Um sie herum tummelten sich allerlei Tiere, die begierig darauf warteten, dass Dormer eine Frucht auf den Boden warf.
„Habt ihr schon einmal etwas von der Prüfung Geias gehört?“
Zunächst schwiegen die drei, doch allmählich ließ sich ihnen aus der Nase ziehen, dass es eine Prüfung des Geistes war. Die Menschen waren bereits einmal daran gescheitert, was sie nicht daran hinderte, es erneut zu versuchen. So viel dazu, dass sie eigentlich nicht zurück nach draußen wollten. Nun gut, Geias Ohren waren hier auch schließlich überall, das war sicher.

Ich traf mich mit meinen Begleitern wieder, die auch im See keinen Abfluss gefunden hatten, der auch für uns geeignet wäre – sofern man überhaupt dieses Risiko eingehen wollte. Als sie von der Geistprüfung erfuhren und meinem Interesse, sie zunächst einmal zu probieren, zeigten sie ihre Zustimmung und so traten wir am Abend ein weiteres Mal an den gewaltigen Baum heran.
„Geia, ich wünsche die Prüfung des Geistes abzulegen.“
„Sodann, Ilfarin, lege deine Hände an meinen Stamm.“
Entschlossen trat ich hervor und legte meine Hände auf das Holz.

Ich verlor jegliches Gespür für meinen Körper. Ich sah Nichts, hörte Nichts, fühlte Nichts. Es war ein seltsames…Nicht-Gefühl, das mich einige Momente lang umfasste – gerade so lange, dass in mir die Panik aufflackerte, für immer verloren zu sein in einem Zustand, der erschreckend wie das Ende des Lebens anmutete. Doch dann fand ich mich auf einem Waldboden wieder. Der Boden war von gräulichem Gras bedeckt während auch die Bäume und Sträucher seltsam leblos wirkten. Kein Wind und kein Tier sorgten für Bewegung. Nur ich hockte in einem Lendenschurz hier und einige Meter entfernt stand ein Mann in einer langen Robe, die die Farbe von Bernstein hatte. Sein Gesicht wirkte sanft, das grausträhnige braune Haar kurz geschnitten und die Augen hatten einen durchdringenden Blick, der von enormer Willenskraft kündete.
„Cirdor?“, fragte ich und der Mann nickte. „Bist du an diese Rose gebunden, die ich bei mir trage…zumindest in meiner körperlichen Gestalt?“
„In gewisser Weise. Eine umfassende Erklärung an dieser Stelle abzugeben, dürfte schwierig werden. Sagen wir einfach, mein Geist – oder ein Teil meines Geistes – hat diesen Bernstein als Anker in der stofflichen Welt.“
Ehe ich weiter fragen konnte, knackte es geräuschvoll hinter mir. Ich blickte mich um, gerade rechtzeitig, um einer hölzernen Faust zu entgehen, die auf mein Gesicht zuschoss. Nach einer uneleganten Rückwärtsrolle richtete ich mich auf und wurde nun meines Gegners gewahr: ein etwa zwei Meter großer Golem aus massivem Holz, dessen geballte Fäuste so tödlich wie der Kopf von Groams Stielhammer.

„Ich lenke ihn ab“, rief Cirdor und binnen einer Sekunde schoss eine Erdwand aus dem Boden hervor – die der Golem beinah ebenso schnell zerschmetterte. Das gab mir jedoch Gelegenheit für einen Angriff. Mein Faustschlag prallte an der eisenharten Oberfläche einfach ab und bescherten Nichts mehr als mir pochende Schmerzen.
Dem nächsten Angriff konnte ich ebenfalls ausweichen, dann war die Erdwand wieder da und ich dachte verzweifelt an einen Stoßspeer – und als der Golem die Wand zerschlug, hielt ich meine Waffe in der gewohnten linken Hand. Eine Prüfung des Geistes.

Entschlossen, meinen Gegner nun zu vernichten, stach ich zu und bohrte tatsächlich die Spitze in den Oberschenkel des Golems. Ohne ein Zucken hieb er auf die Waffe ein, die splitternd brach. Mit der anderen Hand fegte mein Prüfer eine weitere Erdwand Cirdors weg und versetzte mir schließlich einen Schlag vor die Brust. Der Treffer zerschmetterte den Knochen und sandte brachiale Schwingungen aus, die sämtliche Rippen während meines Schwungs nach hinten erst in Bewegung brachten – und sie dann zersplitterten.
Ich spuckte Blut, als ich auf den Rücken aufschlug. Gerade als ich mich, in einem Schock begriffen, aufrichten wollte, war der Golem wieder über mir. Seine rechte Faust traf mein Gesicht und zerschmetterte erst das Jochbein, brachte mein linkes Auge zum Platzen und verschob dann meinen Unterkiefer bis er aus dem Gelenk brach und rechterhand nur noch an dünnen Fäden hing.

Ich erwachte schweißgebadet inmitten meiner Begleiter in Geias Höhle. Der körperliche Schmerz war weg, doch allein die Erinnerung raubte mir jede Kraft. Meine Muskeln schrien so sehr, dass ich mich in Krämpfen gewunden haben musste. Groam und Miyako stützten mich als wir zum Lager zurückkehrten und ich erzählte ihnen, was ich erlebt hatte.
Wir fanden Mendir, Burgit und Dormer bereits beim Essen vor – ein Kaninchen, das in Geias Welt als Tauschobjekt galt, wo doch eigentlich kein Tod geduldet wurde. Die zwei Menschen nickten mir verständnisvoll zu, als sie mich sahen.
„Ganz schön anstrengend, was? Aber der Schock lässt nach. Siehst jetzt schon besser aus, als Burgit und ich damals. Nach unserem Kampf lagen wir erst einmal eine Nacht lang vor Geia, bis wir wieder gehen konnten“, erzählte Dormer.
„Bei eurem Kampf?“, horchte Miyako auf.
„Ja, ja“, erklärte Burgit. „Wir haben zu zweit gekämpft, nachdem wir einige Zeit hier verbracht hatten.“

Ich blickte meine Gefährten an und sah in entschlossene Gesichter – ein Mond, dann würden wir uns gemeinsam der Prüfung unterziehen.

Beinah dreißig Tage verbrachten wir in Geias Höhle, umgeben von einer romantisierten, abartigen Natur, die mir dennoch einige Möglichkeiten bot, mein Wissen zu vertiefen. Auch die anderen nutzten ihre Zeit. Groam und Miyako waren meist in kämpferischen Angelegenheiten beschäftigt, erprobten sich im Duell oder im Kampf gegen imaginäre Feinde. Die KanThai offenbarte dabei auch ein Geheimnis: sie besaß eine kleine Armbrust, die sie in einem Ärmel verstecken konnte, wenn es notwendig war. Ein kleines Wunder der Handwerkskunst, mit dem sie Zielschießen vornahm. Während Groam sich ganz auf seine Waffen konzentrierte, schien Miyako auch ihren Körper weiter auf Vordermann zu bringen.
Olo schwang währenddessen zwar hier und da mal seinen Morgenstern, döste aber die meiste Zeit, schmauchte seine Pfeife oder zehrte von seinem schier unendlichen Vorrat an Tee. Immerhin war er mir als „Opfer“ hilfreich, als ich mich am Studium der Heilkunde versuchte.
Zuletzt fiel es in dieser Phase mir zu, die anderen mit Nahrung zu versorgen. Da ich kein Geschäft mit Geia aushandelte, waren das meist Beeren und Pilze, die zu Suppen verkocht wurden. Es verwunderte mich nicht, dass der Zwerg bald misslaunig wurde. Es gab kein Fleisch und auch kein Bier. An manchem Tag fehlte nicht viel, da wäre er wohl zu Geia gelaufen und hätte diesen Naturdämon persönlich aus der Rinde herausgeschält und verprügelt.

Doch schließlich war der Mond vorüber und gemeinsam suchten wir den großen Baum auf, fest entschlossen, die Prüfung zu bestehen.
„Sodann, ich hoffe, dass euer Geist nun stark genug ist, um die Prüfung zu bestehen. Geläutert von allen Schlechtigkeiten könnt Ihr dann in die Welt hinausschreiten, um meinen Frieden zu verbreiten.“
Ich musste beinah lachen, als ich den hochroten Kopf Groams sah, der Geia nur zu gerne erzählen wollte, was er wirklich von ihrer Botschaft hielt.

Aber dann stellten wir uns im Kreis um den mächtigen, in sich verdrehten Baum auf und legten gleichzeitig die Hände an den Stamm.
Die bekannte, aber nichtsdestoweniger unheimliche Körperlosigkeit umschloss mich. Doch diesmal war ich nicht allein. Zwar konnte ich Nichts sehen, Nicht spüren, doch allein das Wissen, dass meine Gefährten da waren, schien sie greifbar zu machen.
Dann richteten wir uns allesamt auf dem Waldboden in einer anderen Welt auf. Meinen Bericht von der beinah vollständigen Nacktheit im Kopf, gaffte Olo direkt zu Miyako hinüber – zu seinem Missmut jedoch mit ausreichend Stoff versorgt, um sämtliche Blößen zu bedecken.
Dann beschworen wir herauf, was uns als erstes in den Sinn kam: Miyako eine Rüstung, Groam einen Stielhammer, den er wie ein Neugeborenes streichelte, Olo einen riesigen Morgenstern, der absurd wirkte und zuletzt ich einen Speer, wie ich ihn gewohnt war.
Auch Cirdor war wieder da und dann auch der Golem, der aus dem Unterholz hervorbrach. „Ich werde die Bande zwischen dieser Kreatur und seiner Herrin nutzen, um Geia zu verbannen, wenn ihr ihn bezwungen habt!“, rief der Magier aus einem vergangenen Zeitalter aus, womit er unsere Zustimmung erntete. Dann stellten wir uns dem Golem entgegen, dessen weibliche Gesichtszüge mir nun zum ersten Mal auffielen. Der Rest war glücklicherweise nicht so ausgeprägt, dass Olos Libido einen Kampf unmöglich gemacht hätte.

Groam übernahm die linke Flanke, Miyako ging in die Mitte und Olo attackierte von rechts. Ich nutzte die Länge meiner Waffe für Angriffe aus der zweiten Reihe. Während sich Groam ebenfalls eine Rüstung herbeibeschwor und Miyako ein Langschwert riefen mir die beiden unaufhörlich zu, was ich machen sollte.
„Wünsch dir einen brennenden Speer!“
„Beschwöre eine Feuerkugel herauf!“
„Rufe einen fünf Meter langen, brennenden Speer herbei!“
„Ein Feuer, das den Golem direkt verzerrt!“

Die schwachsinnigen Kommentare meiner noch schwachsinnigeren Begleiter verhinderten, dass ich einen klaren Gedanken fassen konnte, sodass ich nur mit ansehen konnte, wie Groam bereits getroffen wurde. Sein linkes Bein krachte kurz weg, doch der Zwerg fing sich mit eiserner Entschlossenheit und blieb standhaft. So menschlich dieses niedere Gefühl auch wahr, aber ich gestattete mir einen Hauch von Genugtuung. Dann begann ich meine Freunde mit allem, was ich hatte zu unterstützen.
Olos riesiger Morgenstern fand indes zum ersten Mal sein Ziel und riss lange Furchen in den Leib des Golems, dass die Späne nur so auf den kleinen Halbling herabrieselten. Doch die Antwort folgte direkt und ein tritt beförderte den tapferen Kämpfer einige Meter nach hinten. Der linke Arm stand in einem seltsamen Winkel ab, als er wieder heraneilte, aber seine Schmerzunempfindlichkeit hatte er ja bereits vor Geia persönlich bewiesen.

Groam schmetterte seinen Stielhammer mit aller Kraft dorthin, wo bei einem Menschen die Nieren saßen – die Wucht trug den Golem nach vorn, direkt in einen Angriff meines Speers und Miyako bearbeitete das Kniegelenk des magischen Kunstmonsters. Es versteifte in der Folge, doch das Wesen hatte noch genug Gleichgewicht, um weiter um sich zu schlagen. Ein Hieb traf Olo vor den Kopf und ich war entsetzt, als die Stelle, die ich für die dickste am gesamten Körper des Halblings hielt, entzwei brach. Die Augen wurden glasig, dann verblasste der gesamte Körper, ehe er den Boden berührte.

Dann kam eine gefühlte Urgewalt über den Golem, als Groam ein weiteres Mal traf und genug Holz für ein Lagerfeuer davonschmetterte. Miyako nutzte die wenigen, für einen gewöhnlichen Kämpfer verborgenen Schwachpunkte der Kreatur und ich bescherte dem Wesen mit jedem Stich immerhin eine hoffentlich unangenehme Ablenkung.

Doch gerade einmal die Hälfte schien geschafft und das Kunstwesen wurde nicht müde. Gerade wollte ich einen Gesichtstreffer landen, da verblasste meine Waffe – ebenso die von Groam und etwas später auch von Miyako. Fluchend riefen wir neue herbei. Der Zwerg drehte sich dabei bereits und führte die Hände, als hätte er die Waffe noch in der Hand. Sein Angriff erfolgte perfekt, der Stielhammer erschien im letzten Moment und entlud plötzlich Wucht über die gesamte linke Schulter, die nach Miyakos Vorarbeit zerbarst. Ein stummer Schrei schien sich auf dem Gesicht des Wesens abzuzeichnen, dann traf ein Rückhandschlag das Gesicht der KanThai. Hastig sah ich weg, als die Blutwolke in alle Richtungen wallte und unsere Mitstreiterin verblasste.
Um Groam zu helfen, sprang ich an dem Golem vorbei, der gerade zu einem Wuchtangriff ansetzte. Tatsächlich irritiert blickte mir das Wesen nach, als ich hinter ihm aufkam. Warmer Schmerz blitzte in meinem linken Knöchel auf, den ich mir bei dieser heroisch-dilettantischen Aktion verstaucht hatte. Dann fiel ich nach vorne aus und bohrte den Speer knapp unterhalb der Hüfte des Golems in das massive Holz. Einige der Übungsstunden, die ich mit Groam und Miyako verbracht hatte, schienen sich gelohnt zu haben: so einen wuchtigen Treffer hatte ich noch nie gelandet.

Und der Zwerg nutzte die Ablenkung. Sein Stielhammer fuhr durch den Hinterkopf des Golems wie durch Butter, schlug sich weiter durch, zerfetzte das arg gelittene Holz am Rücken, dass Holzbrocken in Massen davonflogen, und endete erst an der Hüfte. Der Golem ging auf die Knie und zerfiel dann in ein dutzend Teile.
Schwere Vibrationen flirrten durch die Luft, als würde alles gleichzeitig zu summen anfangen während Cirdor seine Arme bizarr hin und her bewegte und große Zauberei durch seinen Astralleib fließen ließ. Dann…

… erwachten auch Groam und ich vor dem Baum, in dem Geia hauste. Grinsend blickte ich zu dem Zwerg und meinte sogar einen ganz kurzen Moment so etwas wie Erleichterung in seinen Augen zu sehen. Dann wurde er glücklicherweise wieder der Alte und sprang auf die Beine, klopfte sich den Staub ab und brummte: „Anstatt so einen dämlichen Sprung zu machen, hättest du auch die offene Flanke bearbeiten können.“

Dann wanderte unsere Aufmerksamkeit zu dem Baum vor uns, der in vier Metern Höhe ein Stück auseinanderbrach und aus der klaffenden Wunde glomm ein grünlicher Schein. Alle Waldbewohner, die sich auf der Lichtung versammelt hatten, um die Prüfung auf ihre Art zu beobachten, flohen Hals über Kopf.
„GEHT!“, brüllte Geia wütend und dann noch einmal, kraftloser: „Geht. Ihr habt, was ihr wollt.“
Doch das stimmte nicht und unsere Entschlossenheit hatte bestand – dem bizarren Wind zum Trotz, der nun zwischen den Bäumen umherfegte und uns beinah von den Füßen riss.
„Ilfarin!“, rief plötzlich Miyako und stürmte auf mich zu, die Augen jedoch auf den vier Meter hohen Spalt gerichtet. Wir hatten es nur einmal geübt in diesem vergangenen Mond und ich vertraute einfach darauf, dass es trotz unser aller Erschöpfung gelingen möge: ich hielt die Hände auf, wie bei einer Kletterhilfe, die KanThai sprang hinauf und drückte sich ab. Ich hielt dagegen und gab noch so viel Schwung mit, wie ich konnte, wobei ich fast wieder mein Gleichgewicht verlor.
Und Miyako vollführte einen Salto durch die Luft, ehe sie genau richtig gegen den Stamm knallte und sich an den Wundrändern Geias festklammerte.
Sie schob das rechte Bein in den Spalt und zog sich dann mit den Armen näher heran. Grünes Licht spiegelte sich auf ihrem Gesicht, das kurz Zögern, dann aber Entschlossenheit zeigte… dann flackerte das Licht kurz auf…um dann in einer gleißenden Druckwelle zurückzukehren. Das grünliche Strahlen war von einer Intensität, dass sie einem Sturmwind gleichkamen – und Miyako wurde davon geschleudert. Mehr schlecht als recht rollte sie sich über die rechte Schulter nach hinten ab, blieb dann jedoch von der Erschöpfung und Schmerzen gekennzeichnet liegen.
„Ich konnte das Ding nicht festhalten“, ächzte sie.

Während Groam lauthals fluchte und ich untersuchte, ob sich die KanThai nicht etwas gebrochen hatte, trat Olo an Geia heran, spuckte in die Hände und begann mit dem Aufstieg.
„Verdammt, den Kleinen zerreißt es doch!“, rief der Zwerg aus.
„Vertrau auf die Widerstandskräfte des Halblings“, mahnte ich, blickte aber gleichermaßen sorgenvoll zu dem Unbekümmerten, der sich gerade in den Spalt hineinwand. Der Wind um uns herum intensivierte sich, einige Bäume begannen sich bereits zu biegen und an der Erde zu rütteln, die ihre Wurzeln bedeckte. Ein helles Strahlen aus dem Baum, in dem der kleine Olo kaum noch zu sehen war. Es wurde heller, immer heller, bis ich meine Augen abwenden musste, um nicht zu erblinden. Ein hoher Entsetzensschrei füllte meinen Kopf aus und ließ mich beinahe in Panik verfallen. So viel Angst…

Dann endete es. Der Wind gab auf, das Licht verging und Sekunden später sahen wir den Halbling aus Geias Baum herausschauen. Mit einem breiten Lächeln und eine blaugrün gefärbte, schwach schimmernde Rosenblüte in der Hand. Der Stein des Lebens.
Behände kletterte Olo zu uns hinunter und wir verstauten diesen Fund in der Truhe Feanors. Dieser Stein schien noch gefährlicher als jener aus Bernstein. Miyako hatte sich wieder aufgerafft und wir entschlossen uns, diese Höhle so schnell wie möglich zu verlassen. Die Blätter an den Bäumen verloren bereits ihre Farbe und begannen zu fallen. Vor unseren Augen begannen Pflanzen zu verrotten. Der magische Bann Geias war gebrochen und das zerschmetterte Gleichgewicht musste wieder hergestellt werden.
Laut rief ich nach Mendir, Burgit und Dormer – doch entweder waren sie bereits geflohen oder hörten mich schlicht nicht. Und so eilten wir nach draußen, begleitet von den Geräuschen zersplitterter Stämme, als die unnatürlichen Baumriesen in sich zusammenfielen. Der Gang nach draußen war unverändert…bis auf die zerschmetterte Pforte. Magie hatte sie entzwei gespalten und wir eilten ohne Umschweife hindurch.

Und wir blickten zum ersten Mal seit einem Mond auf den unversperrten Nachthimmel. Die Sterne funkelten hell und eine sanfte Brise wehte um unsere Nasen. Tiefe Erleichterung ergriff uns.
Doch wir konnten uns keine Unaufmerksamkeit leisten – diese Landschaft hatte bereits gezeigt, dass sie ungezähmt war. Die Zelte wurden aufgestellt und Wachen eingeteilt. Erst dann hieß es für alle außer zunächst Miyako, sich in den erholenden Schlaf zu stürzen.

Der nächste Morgen begann mit einem lauten: „Hunger!“ von Olo. Verwundert blickte ich zu ihm hinüber, wie er mit vorgeschobener Lippe am Lagerfeuer saß und bei meinem Anblick wiederholte: „Ich habe Hunger. Ich will was Gescheites.“
„Olo, wir haben alle Hunger, aber dort unten im Tal können wir doch bereits ein Dorf sehen, das uns auf der Hinreise entgangen ist. Spätestens gegen Mittag sind wir da.“
„Ich habe aber jetzt Hunger!“
„Wenn ich jetzt losziehe…“
„Hunger!“
„Aber wenn wir einfach gleich…“
„HUNGER!“

Kopfschüttelnd packte ich meinen Bogen und begab mich auf eine kurze Jagd, die ich mit einem erlegten Kaninchen beendete. Es war kaum was dran, aber es reichte als kleine Mahlzeit, um den immerhungrigen Halbling ruhig zu schalten. Dann brachen wir auf, es war nun Vormittag und von den anderen Befreiten war immer noch Nichts zu sehen. Mit Sicherheit waren sie bereits vor uns geflohen – hoffte ich zumindest.
Das Dörfchen entpuppte sich als „Arkendale“, das mit dem Gasthaus „Der müde Elf“ glänzte. Es war kaum mehr als gewöhnlich aber nach den beengten Wochen in Geias Reich wirkte alles einladend. Olo war natürlich der erste an der Theke und flötete fröhlich: „Vier Mahlzeiten, bitte!“ Der Wirt nickte und wollte gerade in die Küche gehen, da drehte sich der Halbling zu uns um: „Und was wollt ihr?“

Ich weiß nicht genau, welches Weltentor sich im Magen dieses kleinen Mannes verbarg, aber er war schließlich schneller mit dem Essen fertig als wir – bei vierfacher Portionsgröße. Anschließend holten wir bei dem Wirt noch einige Trockenmahlzeiten und brachen wieder auf. Zunächst wollten wir zurück nach Estragel, wo uns mit Sicherheit bereits wieder ein Bote oder Ähnliches von Feanor erwarten dürfte.

Als wir unser Nachtlager einige Meilen weiter aufschlugen, kam mir der Gedanke, dass man die beiden Steine der Macht nun einmal nebeneinander legen konnte. Immerhin standen sie in einem Zusammenhang und es schien so, als wären die Geister ihrer Schöpfer noch immer mit ihnen verbunden. Die anderen stimmten meiner Idee zu und so holte ich den Stein des Holzes und den der Erde hervor und legte sie behutsam nebeneinander in die geöffnete Schatulle Feanors.
Das blaugrüne und bernsteingoldene Glimmen der beiden Stein blieb zunächst ruhig, verhalten wie immer.  Dann ein Zucken… es wirkte, als ob die Rose des Lebens einen Lichtstrahl abgefeuert hätte. Das Leuchten der beiden intensivierte sich, wurde voller und kräftiger. Bis es sich auf einem starken, aber gleichbleibenden Niveau hielt. Es geschah Nichts mehr.
„Sollten wir die mal aneinander halten?“, fragte Olo.
„Das halte ich für keine gute Idee. Wir wissen immer noch nicht, wie genau diese Steine der Macht funktionieren und wer an sie gebunden ist“, wehrte ich den Vorschlag ab.
„Ilfarin hat Recht. Solche Experimente können nur schief laufen“, stimmte Miyako zu und mit einem Brummen von Groam war das dann entschieden.

Ich packte die Bernsteinrose weg und nahm jene des Lebens in die Hand. „Vielleicht kann ich auch dieses Artefakt in gewisser Weise ergründen.“
Es kamen keine Gegenworte, so begann ich eine Meditation, um mich auf dieses Zauberwerk einzustimmen und seine Wege und Spielarten zu erkennen.

Doch… ich spürte Widerstand. Wo der Bernstein noch auf seine eigene Weise einladend und anziehend gewirkt hatte, war hier Gegenwehr. Falls Geia einst eine Magierin gewesen war, die diesen Stein erschaffen und nun an ihn gebunden war, dann mochte mich das nicht wundern. Aber ich hatte nur Mutmaßungen und so musste ich schließlich erschöpft aufgeben. Die Rose des Holzes ließ sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht bändigen.

Es war der Nachmittag des nächsten Tages, wir nutzten auf unserem Rückweg die halbwegs ausgebaute Straße, da erspähten wir in einiger Entfernung eine seltsame Kreatur. Sie wirkte wie eine Art übergroße Echse, die sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf uns zu bewegte. Der Gang wirkte schlängelnd, wenngleich das Tier über Beine verfügte…
„Wir sollten runter von der Straße“, murmelte ich und die anderen pflichteten mir bei. Hastig eilten wir hinter ein paar Büsche und warteten.
Das Tier näherte sich. Es war tatsächlich eine große Echse, mit vier Beinen am etwa zwei Meter langen Körper, der noch einmal um einen fast genauso langen Schweif ergänzt wurde. Und dann waren da zwei kleine, verkümmert wirkende Flügel auf dem Rücken der Kreatur. Ich rieb mir die Augen während sie sich etwa auf unserer Höhe aufrichtete und begann, zu schnuppern. „Das ist ein Hausdrache“, sagte ich verblüfft.
„Ein Drache? Verdammt, tote Drachen sind die besten Drachen!“, polterte Groam los.
„Aber die wachsen doch gar nicht mehr“, wandte Olo ein. „Schau doch mal, er ist doch eigentlich ziemlich putzig.“

Mittlerweile hatte der Hausdrache uns natürlich erspäht und blickte in unsere Richtung, den Kopf neugierig schräg gelegt. Etwas peinlich berührt traten wir wieder auf die Straße und waren nicht wenig überrascht, als das Tier plötzlich den Mund aufmachte und losplapperte: „Seid gegrüßt, Reisende. Ich bin Gero.“ Er sprach! Comentang, die Handelssprache. Beeindruckend. Und ebenfalls überraschend war die späte Aufklärung, wer denn eigentlich Gero war, den Feanor bereits ohne Erklärung in seinem letzten Brief erwähnt hatte.
„Grüße…Gero. Ich bin Ilfarin.“
„Miyako.“
„Groam Bärentod.“
„Olo Platschfuß.“
„Bist du ein Gesandter von Feanor?“
„Ja, ja“, nickte der Hausdrache. „Meister Feanor hat mich gesandt, euch das zu bringen.“
Und mit diesen Worten holte Gero aus einer Art Bauchtasche einen Brief sowie eine dieser einzigartigen, kleinen Schatullen hervor.

Olo nahm den Brief entgegen und las rasch hinüber.
„Gero wird uns wohl begleiten, bis wir den nächsten Stein geholt haben… er soll keine größeren Städte betreten, die Menschen wären außerhalb Valians wohl etwas skeptisch oder eben gierig. Feanor ist gerade auf dem Weg nach KanThaiPan! In drei Mondzyklen möchte er sich dann mit uns in Valian treffen. Der Magier hat einen Brief erhalten. Ein erainnischer Priester beschrieb darin eine rote Rose, welche in einem Dorf seines Landes als Heiligtum verehrt werde. Es ist von magischen ‚Spuren‘ die Rede. Ziel unserer nächsten Reise ist also Teámhair in der Region Mallachtéara. Das Dorf soll nicht weit davon liegen.“
„Damit wäre das ja geklärt“, meinte Groam.
„Wohl richtig. Ich bin allerdings etwas skeptisch…wenn ich mich recht entsinne bedeutet Mallachtéara ‚verfluchtes Land‘. Klingt alles andere als einladend“, merkte ich an, wenngleich es keine Widerrede sein sollte. Es blieb uns wenig mehr als die Schultern zu zucken.
„Am besten, wir wenden uns also nun nach Westen, dann nach Norden und vielleicht finden wir einen vertrauenswürdigen Schiffer in Fiorinde, der uns nach Erainn bringt“, schloss Groam.
„Dann lasst uns noch einmal in Arkendale Halt machen, wir brauchen deutlich mehr Verpflegung“, fügte Miyako noch an, als Olo plötzlich den Tränen nahe war: „Wie weit müssen wir denn dann laufen?! Seht ihr denn nicht, was ich an Gepäck bei mir trage? Das schaffe ich doch nie! Und seht meine kurzen Beine! Es dauert Jahre, bis wir ohne Ponys und Pferde ankommen.“
„Ganz ruhig, Olo, es macht doch keinen Sinn, wenn wir jetzt erst nach Estragel reisen, um uns Pferde zu besorgen. Die paar Tage schaffst du schon“, meinte ich und hatte alle Mühe meine Augen nicht zu verdrehen.
„Nein, das ist Mist. Einer von euch muss mir tragen helfen!“
Groam schüttelte bereits demonstrativ den Kopf. Es war keine Sache des Könnens, sondern des Prinzips. Aber natürlich fand Olo ein Schlupfloch für seine halbling’sche Faulheit: „Gero… du bist doch kräftig, stimmt’s?“
„Ja, durchaus!“, meinte der Hausdrache begeistert, wenngleich er dabei etwas klang wie ein zehnjähriges Kind.
„Kannst du meine Sachen tragen?“
Ich wollte bereits einwenden, dass ein Hausdrache doch kein Packesel sei, da kam ein treues: „Wenn es euch hilft, sehr gerne.“
Und Sekunden später sah sich Gero mit Olos Gepäck beladen. Ich schüttelte zwar kurz den Kopf, aber so war nun allen geholfen und wir kaum aufgehalten. Nun konnten wir aufbrechen, gen Westen, zuerst nach Arkendale und dann weiter, bis wir an den Melgar-Bergen vorbei waren und die Bucht der Bäume sich vor uns erstreckte.

Auf dem Weg fanden wir heraus, dass Feanor nicht der erste Meister war, dem Gero gehorchte, wenngleich er nicht verriet, wer vorher sein Herr gewesen war. Richtigerweise wies er darauf hin, dass es für uns derzeit keinen Belang hatte. Wir reagierten mit Staunen, als der Hausdrache schließlich verriet, dass er über hundert Jahre alt war.

Am Abend nächtigten wir dann schließlich im „Müden Elf“ und statteten uns mit ausreichend Nahrung für die Strecke bis zur großen Handelsstraße entlang der Bucht der Bäume aus. Den Zufall einer Stallung bot uns das kleine Arkendale leider nicht, auf den Schafen hier konnte auch nicht mal Olo reiten, daher waren wir auf unsere Füße angewiesen. Nach einem Monat in der Enge von Geias Reich aber auch nicht gerade das Schlimmste. Besonders Maglos schien eine unruhige Vorfreude erfasst zu haben.

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