Als ich mich am Morgen ankleidete fiel mein Blick auf ein Amulett, das ich bereits einige Zeit nicht mehr eingehend betrachtet hatte. Es war aus Alchemistenmetall angefertigt worden und umfasste einen kleinen Smaragd. Als ich es an diesem Morgen des Elfttages in der ersten Trideade des Draugrmonds in die Hand nahm, spürte ich, dass es sich erwärmt hatte. Vage meinte ich mich erinnern zu können, dass sich dieses Gefühl in den letzten Tagen verstärkt hatte… wünschte nun tatsächlich Feanor wieder uns zu sehen?
Zunächst kamen wir zu viert beim Frühstück im Gasthaus „Zum Goldenen Käfig“ zusammen. Gerade hatten wir das Essen zu uns genommen, übernahm erst einmal Mara das Wort: „Es war mir eine Freude, mit euch gereist zu sein! Es war einige interessante Erfahrungen dabei – allerdings muss ich nun zunächst wieder eigene Pfade gehen. Ich möchte mich noch etwas in Candranor umschauen und dann sehen, wohin es mich verschlägt.“
Herzlich verabschiedeten wir uns von der Elfe, die uns dann verließ. Zu dritt blieben wir zurück und ich brachte zur Sprache, was mir am Morgen aufgefallen war: „Miyako? Hast du ebenfalls eine Veränderung am Amulett gespürt?“
„Ja, es hat sich erwärmt“, bestätigte die KanThai. „Wir sollten uns wohl auf den Weg zu Feanor machen.“
Bei diesen Worten zeigte ich auch einmal Ricardo mein Amulett, das uns der Magier des Elementarsterns überreicht hatte, ehe wir den Küstenstaatler kennengelernt hatten. Auch Groam hatte eines besessen, aber dieses lag nun am Grund des Meeresbodens unweit von Oktrea…
Während wir sprachen hatte ein seltsamer Mann das Gasthaus betreten und beim Zugehen der Tür bereits laut etwas ausgerufen. Ich verstand die Sprache nicht, wenngleich sie Ähnlichkeiten zu hiesigen Dialekten aufwies. Ricardo lehnte sich allerdings plötzlich neugierig in seinem Stuhl zurück und warf einen Blick zu dem älteren Herrn, der gerade zum Tresen ging und ein Wort mit dem Wirt wechselte. Nur einen Moment später wandte der Neuankömmling sich unserem Tisch zu und kam mit großen Schritten näher.
Er wirkte bereits etwas älter mit ersten grauen Strähnen im dunklen Haar, das sich bereits etwas lichtete. Seine Kleidung war aus teurem Stoff gemacht und sorgfältig genäht und bestickt worden, was ebenso für Wohlstand sprach wie sein durchaus fülliger Bauch. Ein beinah bis zur Brust reichender Bart verlieh ihm bereits etwas Großväterliches für menschliche Verhältnisse, wenngleich er wohl nicht so alt war. Bei sich trug er einen kleinen Magierstab aus Palisanderholz, der ihn unverkennbar als Mann entsprechender Zunft auswies. Zu guter Letzt trug er ein seltsames Gestell auf der Nase, welches zwei Glaslinsen vor seinen Augen hielt. Selbst bei genauerer Betrachtung war mir jedoch nicht erkennbar, was es damit eigentlich auf sich hatte: es schien keinerlei Verzerrung in eine etwaige Größe stattzufinden, als wären die Gläser eine Art Lupe. Stattdessen wirkten sie wie zwei Stück Fensterglas.
Bei unserem Tisch angekommen verkündete der Mann mit lauter Stimme sein Anliegen. Ricardo schien ihn zu verstehen, also handelte es sich dabei wohl um die Neu-Vallinga der Küstenstaaten – ich versuchte es dennoch hoffnungsfroh auf Comentang: „Sprecht Ihr die gemeine Handelssprache Vesternesses?“
„Durchaus!“, bekundete der Mann lautstark, während er beiläufig mit den Fingern über meinen Teller fuhr und ein paar Krümel aufklaubte, die übrig geblieben waren. Begierig schob er sie sich in den Mund und erklärte sich dann: „Mein Name ist Nicola Santoro! Ich habe euch gesucht! Merkwürdig, wie lange es manchmal dauern kann, eine so bunte Truppe wieder zu finden.“
„Und wer hat Euch geschickt?“, fragte ich zunächst misstrauisch nach. Eine Antwort schwebte mir bereits vor, aber spätestens seit der Mallachtéara wussten wir auch, dass es andere Kräfte gab, die es nach den Rosen der Macht drängte…
„Es war natürlich der ehrenwerte Herr Feanor von der Gilde des Elementarsterns. Eine Kutsche steht bereit und er wünscht sich dringlichst, euch zu sehen!“
„Dann werden wir gleich zu dir kommen. Wir brauchen lediglich noch unser Gepäck“, vermittelte ich dem Mann und wir drei erhoben uns, um unsere Ausrüstung zu holen. Voll bepackt gingen verließen wir dann das Gasthaus und trafen auf der Straße wieder auf Nicola mitsamt beistehender Kutsche. Sobald wir alles verstaut hatten, ging die Fahrt los.
Während der Fahrt schwiegen wir noch, während wir allmählich die dicht gedrängten Häuser Candranors hinter uns ließen. Schließlich öffnete sich die Umgebung und wir fuhren auf einer gut ausgebauten Straße an vereinzelten Olivenhainen und anderen Farmen vorbei. Zum Mittag hielt die Kutsche an einem Gasthaus, wo wir ausstiegen, um uns ein Mahl zu besorgen. Nicola bestellte sich entgegen einer ersten vorsichtigen Vermutung nur einen Teller – er schien gemütlich, aber nicht verschwenderisch. Oder das vergleichsweise einfache Essen stand einem Mann seines augenscheinlich höheren Standes nicht in größerem Maße zu.
„Etwas neugierig bin ich“, eröffnete ich das Gespräch. „Nicola, wenn Ihr von Feanor geschickt wurdet und einen solchen Magierstab bei euch tragt – seid Ihr dann auch Mitglied der Gilde des Elementarsterns?“
„Ich bin ein Gildenmagier, das ist richtig! Allerdings gehöre ich genau genommen zum Covendo Mageo de Cevereges Lidrales; dem Konvent aus den Küstenstaaten. Innerhalb diesem bin ich Teil des Ramis Crearis!“
„Des… was?“, fragte ich verdutzt nach.
„Der Gildenzweig der Kreation! Wir beschäftigen uns mit den Zaubern des Erschaffens!“
„Was könnt ihr denn alles erschaffen?“, fragte Ricardo neugierig nach. „Etwa Leben?“
„Nein!“, rief ich aus, wobei Nicola mit einfiel. Ich versuchte dieses Thema rasch abzuwiegeln und fuhr fort: „Es ist mit Magie nicht möglich, wahres Leben zu erschaffen. Alles was bei solcher Schwarzmagie herauskommt sind Missformen, wie die Untoten.“
„Nun, ich würde vielleicht von gewissen Grenzen sprechen, nicht von einer gänzlichen Unmöglichkeit“, merkte Nicola Santoro an. „Immerhin verfügen beispielsweise Beschwörer über die Fähigkeit, Leben aus anderen Dimensionen herbeizurufen.“
„Und auch das Herbeirufen fremder Lebensformen führt lediglich zum Chaos und der Verwüstung hiesigen Lebens hin“, entgegnete ich entschlossen. „Das sind keine Dinge, in die sich Zauberer gleich welchen Ranges einmischen sollten.“
„Wie dem auch sei…“, begann Nicola das Thema zu wechseln. „Wie sieht es eigentlich mit euren Begleitern aus? Mir war etwas von einem Zwerg gesagt worden. Und einem anderen Valianer?“
„Meint Ihr Leif?“
„Kann schon sein…“
„Er war Waelinger. Und der Zwerg, den Ihr suchtet, muss Groam Bärentod gewesen sein“, stellte ich nüchtern fest, ehe ich mit leiser Stimme eine knappe Erklärung versuchte: „Wir waren auf unserer vorletzten Reise im verdammungswürdigen Chryseia unterwegs… Groam und Leif sind nicht wieder mit uns zurückgekehrt. Sie sind tot.“
„Oh, das tut mir leid!“, erklärte Nicola sogleich bestürzt.
Danach erstarb das Gespräch und wir gingen nach dem Essen zurück zur Kutsche, welche uns die restliche Strecke zum Gildenhaus brachte. Trotz unangenehmer Erinnerungen fiel mir auf, wie schön doch die Natur dieser Insel war, insbesondere desto mehr wir uns unserem Ziel näherten. Zwar war natürlich auch hier Winter und die Temperaturen waren gesunken – doch auf Valian wurde es nicht wirklich kalt und die Pflanzen gediehen ungetrübt; ohne den Kältehauch des Nordens ertragen zu müssen.
Nur wenige Minuten von dem Gildenhaus entfernt erklärte Ricardo, dass die Kutsche anhalten solle: er wolle einen neu erlernten Zauber ausprobieren. In der Tat ahnte ich bereits, was er vorhatte, schließlich war ich es, der ihm die Spruchrolle dafür überreicht hatte. Doch auch die Worte des Küstenstaatlers wiesen unsere Begleiter ein: „Ich werde das Pferd der Kutsche in neuer Pracht erstrahlen lassen!“
„Das dürfte den Kutscher durchaus verwirren!“
„Ich möchte ja auch nicht ihn, sondern Feanor überzeugen!“
Nicola zog die Augenbrauen hoch. „Ein Illusionszauber, der einen Magier seines Kalibers beeindrucken soll? Ob das funktioniert, wage ich doch zu bezweifeln.“
„Es geht auch durchaus nicht darum, Feanor zu verwirren oder einem Trugbild anheimfallen zu lassen“, merkte ich an, um die Beweggründe unseres jungen Studenten der arkanen Kräfte so darzulegen, wie ich sie erkannte. „Vielmehr ist es eine prinzipielle Demonstration bisher erlernter Fertigkeiten – in diesem Fall von durchaus beträchtlichem Ausmaße.“
Nicola blieb skeptisch, doch Ricardo ließ sich nicht weiter aufhalten und verwandelte das Pferd vor unseren Augen in ein strahlendes Schlachtross – dem Schein nach. Wir, die wir Zeugen des Zaubers wurden, erkannten die Illusion, wodurch wenig mehr als ein schwacher Abglanz blieb. Auch der Kutscher wirkte wenig enthusiastisch und scheuchte Ricardo sogleich wieder in die Kabine. Doch wem wir jetzt auch immer begegnen mochten, der konnte sich durchaus fragen, wer einen solches Ross vor eine Kutsche spannte.
Zum Ärger unseres Magiestudenten verflog die Zauberei jedoch bereits, ehe wir das Gildenhaus des Elementarsterns erreichten. Es lag in der Art von Illusionen, flüchtiger bis unberechenbarer Natur zu sein – wenngleich man diese Eigenschaften durchaus auch dem meisten Leben dieser Sphäre zuschreiben kann. Dies mag durchaus meiner spezifischen Perspektive geschuldet sein, doch ergibt sich ein vergleichbares Bild durch die Augen eines jeden Reisenden.
Beim Gildenhaus angekommen, traten wir ein ohne dass noch jemand nachfragen musste, wer wir seien oder wohin wir wöllten. Man erkannte zumindest unsere Gesichter und sicherlich gab es einige Überlegungen, was wir wohl für Feanor tun würden, wenn wir wieder gingen.
Das Studierzimmer des Magiers fanden wir nahezu unverändert vor. Lediglich einige neue Bücher oder auch nur neue Ordnungen bevölkerten die Regalwände und der Schreibtisch strotzte vor etlichen Pergamenten in einem halben Dutzend verschiedener Sprachen und Schriften. Auf seinem bequemen, hochlehnigen Stuhl reckte sich Feanor etwas auf, als wir eintraten. Mir fiel in diesem Moment auf, dass wir ihn nicht mehr gesehen hatten, seit er uns mit Rothilus Balmatrema bekannt gemacht hatte. Das war durchaus einige Monate her, erklärte jedoch nicht völlig, wie alt mir der Mann in diesem Moment vorkam. Seine Haare waren durch und durch weiß und seine Hand wirkte zittrig als er sie zum Gruß hob. Einen übernatürlichen Grund konnte ich nicht erkennen – es musste schlicht die Last der Zeit gewesen sein, die schließlich einen unerkennbaren Damm eingerissen und ihren Tribut von Feanor gefordert hatte. Nun war er wirklich alt und ich glaubte nicht mehr, dass dieser Mann noch einmal eine Reise wie nach KanThaiPan wagen würde.
„Ah, seid gegrüßt. Es ist schön euch wieder zu sehen, Ilfarin und Miyako“, begrüßte er uns – seine Stimme verströmte im Gegensatz zu seinem Erscheinen noch immer ungetrübte Kraft und Autorität. Wenngleich er etwas vergesslich schien.
„Hey! Ich bin auch hier!“, meldete sich Ricardo zu Wort. Den ehemaligen Studenten und seit einiger Zeit auch unser Mitreisender bedachte Feanor daraufhin mit einem irritierten Blick. Es dauerte einige Momente, ehe sich seine gerunzelte Stirn glättete und er bekannte: „Ah, ja! Ricardo. Du warst länger nicht hier, um den Studien nachzugehen!“
„Ich reise ja auch mit Ilfarin und Miyako durch die Welt!“, erinnerte der Küstenstaatler, was Feanor zweifelsohne auch wieder einfiel aber nicht weiter kommentierte.
„Ich würde sagen, wir gehen zunächst in das Meditationszimmer nebenan. Dort können wir Tee trinken und uns über Vergangenes und Zukünftiges unterhalten.“
Mit diesen Worten erhob sich Feanor, wobei er sich auf seinen Magierstab stützte. Mit seiner kostbaren Gehilfe ging er zur Tür, welche ihm Nicola freundlich offenhielt. Dabei blickte er ihn fragend an und unser früherer Auftraggeber nickte nur, sodass sich der dicke Magier unserer Zusammenkunft anschloss.
Das Meditationszimmer war recht klein, wenn man die Ausmaße des gesamten Gildenhauses berücksichtigte. Das legte durchaus nahe, dass dieser spezielle Raum für die hochgradigen Zauberer reserviert war – was wiederum unsere Ungestörtheit sicherte. Lediglich am Anfang erhielten wir kurz Besuch, als uns eine junge Frau Tee vorbeibrachte und auf dem niedrigen Tisch abstellte. Möbel gab es hier nicht, wir waren dazu angehalten, auf dem Boden zu sitzen. Was für uns keine Probleme darstellte und auch für Feanor trotz seines Alters keine Herausforderung war, nutzte Nicola für eine seltsame Inszenierung seines ebenfalls gehobenen Alters – wenngleich unser früherer Auftraggeber ihn sicherlich noch um einige Jahrzehnte überflügelte. Nachdem auch er es sich bequem gemacht hatte, tranken wir alle zunächst still einige Schluck von unserem Tee.
Wir warteten ab, dass Feanor das Wort übernahm, um unser Herbeirufen zu rechtfertigen. Stattdessen blieb er jedoch still und blickte uns erwartungsvoll an. So übernahm ich es, das Amulett hervorzuholen, das er uns einst überreicht hatte.
„Ihr habt uns gerufen, nicht wahr?“
„Ja, das habe ich. Ich war mir nicht sicher, wie weit ihr entfernt wart und ebenso wenig ist diese Magie berechenbar. Daher habe ich auch Nicola Santoro losgeschickt, um euch herbeizuholen. Doch bevor ich zu meinem Anliegen komme: wie ist es euch ergangen? Seid ihr mit Rothilus Balmatrema gesprochen habt, habe ich keine Kunde mehr von euch erhalten.“
„Wir waren in Chryseia, ja“, begann ich mit schwerer Stimme. Alles in mir verlangte danach zu schweigen, die Vergangenheit zu begraben und einen Bann darüber zu sprechen. Doch wäre es ungerecht – die Toten verdienten Erinnerung, so schmerzhaft sie auch für die Überlebenden war. „Groam war ebenfalls mit uns, er ist nachgereist. Wir sind in Oktrea in dunkle Untiefen vorgedrungen, in der Hoffnung, Männer zu retten, die einer solchen Unternehmung nicht würdig waren. Wir fanden unheilige Katakomben der Dunklen Meister und wurden mit finsterer Hexerei konfrontiert. Groam hat nicht überlebt – Leif hat nicht überlebt. Nur unter Aufbietung aller Kräfte und unter solchen Opfern gelangten wir wieder nach oben. Zwei Männer hatten wir gerettet, welche daraufhin die Lügen von Oktrea spannen und sich einer gerechten Bestrafung entzogen. Dann haben wir Chryseia verlassen.“
Feanor schwieg und wirkte ernsthaft betroffen. Sowohl mit Groam als auch mit Leif hatte er bereits Bekanntschaft gemacht, bevor sie mit uns gereist waren, sodass ihre Tode auch für ihn ein schmerzhafter Begriff waren. Schließlich sagte er: „Es tut mir leid um eure Verluste. Indes bleibt uns nur die Hoffnung, dass ihr Tod nicht vergebens war.“
Anschließend schwieg er noch eine Weile, ehe er zum Mittelpunkt unseres Treffens zurückkam.
„Ich habe tatsächlich Neuigkeiten in Bezug auf die Rosen der Macht. Es gibt einen Weg mit ihnen zu kommunizieren – den alten Meistern. An einem jeden Ljosdag ist die Stellung der Gestirne günstig genug, um das entsprechende Ritual durchzuführen. Ich habe bereits einmal mit ihnen gesprochen… und nun, da morgen wieder Vollmond ist, will ich es erneut tun. Nur diesmal mit euch.“
Erstaunt hielten wir einen Moment inne, ehe ich fragte: „Was konntet Ihr bei dem ersten Gespräch mit den Magiern aus alter Zeit herausbringen? Waren sie überhaupt kooperativ?“
„Durchaus. Sie sind sehr an einer Zusammenarbeit interessiert. Am besten wird es sein, wenn ihr in diesem Punkt selbst mit ihnen sprecht.“
„Selbst Gäja war freundlich?“
„Sogar Gäja. Vergesst nicht, dass das, was ihr auf euren Reisen getroffen und gespürt habt nur blasse Abbilder oder Zerrbilder waren. Die alten Meister sind gestorben und nur noch Schatten ihres Geistes hängen an den Edelsteinen.“
„Konnten die sechs, die bereits zusammengetragen wurden, etwas über die beiden fehlenden Rosen sagen? Über Wasser und Eis?“
„Es gibt ein vages Gefühl, dass sich ein solch machtvoller Fokus im Norden befinden soll. Das ist leider nicht sehr genau, allerdings konnte ich in Erfahrung bringen, dass sich so mancher Seefahrer Geschichten von einem seltsamen Tempel aus Eis erzählt. Er soll sich irgendwo im Nordmeer befinden. Auch das ist kaum mehr als ein Hinweis – doch Ihr habt schon mit weniger Informationen Erfolg gehabt. Aber lasst uns nicht jetzt schon irgendwelche Pläne schmieden: morgen werden wir zunächst das Ritual durchführen und dann sehen wir weiter.“
Mit diesen Worten erhob sich Feanor langsam und verabschiedete sich für den Abend, während er mit leicht gebeugtem Rücken aus dem Raum entfernte. Auch wir verließen das Meditationszimmer und gingen zur Mensa des Gildenhauses, wo wir etwas zu Essen einnahmen und uns unterhalten konnten.
„Also, ihr drei. Was genau macht ihr eigentlich?“, fragte Nicola neugierig nach.
„Nun, ich würde sagen: wir sind Abenteurer! Wir reisen durch die Welt und lösen Probleme!“, erklärte Ricardo stolz.
„Was habt ihr denn so erlebt?“
„Ach, wir waren schon viel unterwegs. Seht, ich habe sogar einen Finger verloren!“, erklärte der Küstenstaatler und hob dabei seine neun verbliebenen empor.
„Kam das vom Kartoffelschälen?“, frotzelte der Magier ein wenig.
„Was, nein! Wir haben bittere Abenteuer durchstanden!“, begehrte Ricardo zwinkernd auf, während Nicola plötzlich in seiner Tasche herumsuchte und dem Mann vor ihm dann einen kleinen Kieselstein in die Hand drückte.
„Ähm?“, machte dieser etwas verwundert und Nicola erklärte sich: „Ich demonstriere nun einmal meine Zauberkraft!“
Dann sprach er eine Formel aus… und Nichts geschah. Nicola Santoro vom Ramis Crearis des Covendo Mageo de Cevereges Lidrales räusperte sich und wiederholte seinen Zauberspruch. Diesmal zuckte eines seiner Augen leicht, ehe er das Gesicht verzog, als hätte er sich einen leichten Schlag geholt. Ricardo drehte seine Hand um und offenbarte, dass der Kieselstein in seiner geballten Faust zu Staub zerfallen war.
„Habe ich den zerdrückt?“, feixte Ricardo.
„Oh ja“, versicherte Nicola stolz und mit einem verschmitzten Lächeln, was mich glucksen ließ angesichts der Tatsache, dass dieser versierte Magier wohl etwas unter dem berüchtigten Vorführeffekt litt.
Doch Ricardo ließ ihn nicht übel auflaufen und spielte mit: „Ha, habe ich kaum gemerkt. Was ein guter Spruch!“
Wir sprachen anschließend noch in groben Zügen über bisherige Reisen und Erlebnisse, wobei wir die tragischen Details versuchten so weit wie möglich auszuklammern. Letzten Endes gingen wir jedoch allesamt früh auf die zurecht gemachten Zimmer und fielen in einen dankbar-traumlosen Schlaf.
Vergleichsweise früh wurden wir jedoch geweckt, als die Glocke geschlagen wurde. Eigentlich sollten damit nur die jungen Adepten der Gilde zu ihren Lehrstunden gerufen werden und es wurde gerade so dämmrig. Doch da man nun schon wach war, drehte sich keiner von uns ein zweites Mal um und wir trafen uns beim Frühstück. Da Feanors Ritual erst abends beginnen würde, konnten wir uns den Rest des Tages frei beschäftigen. Nicola wollte losziehen und sich ein paar Kieselsteine suchen, wobei sich ihm Ricardo anschloss. Ich wollte es dagegen noch etwas mit Entspannung versuchen und ging mit Maglos zu einem nahegelegenen See. Dort konnte sich der Hund die Beine vertreten, während ich etwas angelte.
Die Fische bissen einigermaßen gut, wenn man bedachte, dass ich Olos Angel benutzte – die er wiederum von einem jungen Twyneddin erhalten hatte, den wir aus einem Fluss gerettet hatten. Eine vergleichsweise spektakuläre Geschichte für diesen doch eher primitiv gebauten Fischfänger. Mir diente er mehr als Erinnerungsstück, sodass ich nur die wenigsten Fänge tatsächlich einholte – und die, welche ich fing, entließ ich sogleich wieder in die Freiheit ihres Sees.
Am Abend trafen wir vier uns beim Abendessen und warteten noch etwas ab, bis die Zeit gekommen war und wir in Feanors Büro gingen. Der Magier erwartete uns bereits und öffnete bei unserer Ankunft den Geheimgang, der zu jenem wohl gehüteten Versteck unter seinem Zimmer führte. Wir gingen die Stufen hinab und fanden uns in jenem Raum wieder, den Miyako und ich seit Monaten – und Ricardo sowie Nicola noch nie betreten hatten. Zugegebenermaßen gab der Gildenmagier aus den Küstenstaaten nicht gerade Anlass zur Beunruhigung, sondern wirkte eher freundlich. Dennoch war ich etwas skeptisch, als er mit uns hinunterkam. Immerhin kannten wir ihn noch nicht lange und die Vergangenheit hatte gezeigt, dass die Rosen begehrt waren…
Der Raum war genauso, wie wir ihn das letzte Mal verlassen hatten. Etwa zehn auf zehn Meter, mit einem gewaltigen Elementarstern, der auf den Boden gemalt war. Am Ende jeder Zacke befand sich eine kleine Säule, die mit Symbolen übersät waren, die zu dem jeweiligen Element gehörten. Die umliegende Wand war ebenfalls gleichzeitig Kunstwerk wie Bannkreis und bestand aus unzählbaren und untrennbaren Linien und Zeichen eines Thaumagramms von Meisterhand.
Fünf Rosen lagen auf den Sockeln, eine glomm verstohlen im Magierstab Feanors. Dies war jene des Elements Metall. Diese hatte der Zauberer ebenso wie den schwarzen Unheilsbringer der Maganrose bereits in seinen Besitz gebracht, ehe wir ihn getroffen hatten. Dann war da noch das Artefakt aus Bernstein, das wir im albischen Wald von Escavalon geborgen hatten. Dort, wo es zunächst in der Hand eines Alchemisten und dann im Schädel eines Wolfs gewesen war. Der Tag an dem Dan-narmo lílta geboren worden war; „Der wider den Wolf tanzt“. Tanzte, viel mehr.
Und die blaugrüne Rose, einst eingewachsen in einen Baum. Der Schatten der einstigen Magierin namens Gäja war einem verzerrten Wahnsinn anheimgefallen und hatte eine eigene Welt unter den Melgar-Bergen geschaffen. Wir hatten einige Zeit dort verbringen müssen, ehe wir den Befreiungsschlag schafften und auch diese Rose an uns brachten.
Zuletzt hatten wir die Rubinrose des Feuers erbeutet. In der Mallachtéara, im kleinen Dorf Arthlinn hatten wir gegen einen schrecklichen Finstermagier gekämpft, der nicht gezögert hatte, einen Feuersturm zu entfesseln. Ein grausiges Massaker – dem noch die Schlacht der Verfluchten vorangegangen war; ebenfalls aufgrund ebenjenes Hexenmeisters. Der Tag, an dem Olo gefallen war.
Schließlich fand sich noch die Rose des Elements Luft ein, mit einer hellblauen Färbung. Diese hatte Feanor selbst mit drei Söldnern im fernen KanThaiPan bergen können. So waren es sechs von acht Teilen, es fehlten noch die Elemente Wasser und Eis. Und um diese erlangen zu können, um endlich diese Artefakte zu vernichten, deren reine Existenz bereits eine Bedrohung für den Verstand darstellte, nahmen wir sie allesamt auf Feanors Geheiß in den altbekannten, kleinen Kästchen mit nach oben.
Der alte Magier führte uns in einen kleinen Gärten der Gilde, in dem wir unter den Sternen und vor allem unter dem Vollmond waren – dazu aber auch abgeschirmt vor den Augen anderer. Feanor schien seine Vorbereitungen bereits abgeschlossen zu haben, denn wir fanden einen großen Zirkel vor. Ähnlichkeiten zu dem Geheimraum bestanden, allerdings reichten meine Kenntnisse der Magie nicht ansatzweise aus, die genauen Unterschiede und Auswirkungen erkennen zu können. Anhand der verblüfften Gesichter von Nicola und Ricardo erahnte ich jedoch, dass es sich hierbei wahrscheinlich um derart spezielle Zauberei handelte, dass sie Niemand kannte – mit Ausnahme jenes Magiers, der sich seit Jahrzehnten mit den Rosen der Macht der Alten Meister auseinandersetzte.
Den genauen Anweisungen Feanors folgend legten wir die Schatullen vor uns im Zirkel ab. Dann setzten wir uns im Kreis darum.
„Damit es funktioniert, müsst ihr euch darauf einlassen. Wehrt euch nicht, sonst funktioniert es nicht“, ermahnte uns Feanor, ehe er einen leisen Singsang anstimmte. Es war nicht zu verstehen, was genau er da sagte, aber es ähnelte der gesprochenen Maralinga – einer eigentlich längst toten Sprache, die wir nur aufgrund unserer schrecklichen Reise durch die Zeit erlebt hatten. Und während der alte Magier seine Formeln sprach, wurde es Mitternacht… ein dämmriges Gefühl beschlich mich, wenngleich es mehr war, als ein einfacher Schlummer, der sich anbahnte. Dies war das, was Feanor gemeint haben musste und so ließ ich mich hinabgleiten in einen tiefen Traum.
Als ich die Augen wieder aufschlug, wirkten meine Sinne so scharf, als wäre ich wach – wenngleich meine Wahrnehmungen dermaßen fremdartig waren, dass ich meine Einschätzung wieder in Zweifel zu ziehen begann. Meine Begleiter waren bei mir, ebenso Feanor. Wir befanden uns in einer großen, wabernden Leere aus grauem Nebel. Irgendwie fühlte ich einen Boden, auch wenn ich ihn nicht sah. Er schwankte nicht, wirkte eben, aber ein Blick zu meinen Füßen hin ließ mich taumeln: erblickte ich doch nicht mehr, als undurchsichtiges Grau über meinen Stiefeln.
Aber wir waren nicht allein: vor uns standen sechs Menschen. Sie waren alt, zumeist bereits ergraut. Gehüllt waren sie in Roben, die jeweils von einer kräftigen Farbe beherrscht wurden. Es waren drei Frauen und drei Männer, von denen wir bereits einen kannten: es war Cirdor. Der Magier der Bernsteinrose des Elements Erde – ohne ihn hätten wir Gäjas Alptraum niemals entfliehen können. Sie war wohl die Frau in grüner Robe, die uns allerdings freundlich anlächelte.
Es trat dann die andere Frau hervor, sie trug eine goldene Robe. „Seid gegrüßt, Ritter von Valian! Es ist uns eine Freude euch zu treffen, nachdem wir bereits Bekanntschaft mit dem Weisen Feanor gemacht haben. Ich bin Eleanoa die Goldene und dies sind meine einstigen Begleiter: Thereo der Schwarze – Cirdor der Braune – Gäja die Grüne – Sarafar die Rote und Aedhelm der Hellblaue.“
Sie sprach ohne die Lippen zu bewegen, auch wenn wir alle ihre Worte klar und deutlich verstanden – zudem hatte sie eine Möglichkeit gefunden, sich in der Gemeinsprache ausdrücken zu können; wohl eher noch der kleinste Trick, den sie und die anderen Meister beherrschten.
„Wir sind froh, dass ihr Kontakt zu uns aufgenommen habt, denn hoffentlich können wir uns gegenseitig helfen“, fuhr Eleanoa fort.
„Ihr wisst, was wir vorhaben?“, fragte ich zögerlich nach.
„Durchaus, Feanor war offen und ehrlich zu uns. Ihr müsst verstehen, dass unsere Existenz hier nicht mehr wirklich ist. Zwar erscheinen wir unter gewissen Umständen so, als würden wir noch leben – doch an den Edelsteinen aus unserer Asche hängen nur schwache Abbilder, die sich unserer eigentlichen Kontrolle entziehen. Nur hier in dieser Sphäre haben wir wirklich Kontrolle… zumindest einigermaßen. Und dies ist kein Zustand, der uns noch lange erquicken mag.“
„Also wollt ihr, dass die Rosen vernichtet werden?“
„Ja, denn hoffentlich können wir dann endlich diese Welt vollständig verlassen“, erwiderte Eleanoa mit stummen Lippen aber kräftiger Stimme.
Erstaunt blickte ich meine Gefährten an, verwundert über die Kooperationsbereitschaft der Alten Meister. Womöglich steckte mehr dahinter, als sie sagten, aber es klang auch durchaus verständlich… ich fuhr zunächst fort: „Gestattet mir zunächst eine Frage: wie alt seid ihr oder vielmehr, wann habt ihr existiert? Wart ihr Seemeister?“
„Seemeister? Das ist mir kein Begriff… womöglich existierten wir vor ihnen. Allerdings haben wir nur eingeschränkten Zugriff auf unsere Erinnerungen. Vieles ist seit unserem eigentlichen Tod verloren gegangen“, erklärte Eleanoa.
„Wer sind die beiden noch fehlenden Magier?“, fragte nun Miyako nach.
„Das sind Ila die Weiße, Meisterin des Eises, und Musk der Blaue, Meister des Wassers.“
„Und ihr spürt eine Art… Präsenz? Von ihnen im Norden?“, hakte die KanThai nach.
„Wir haben das Gefühl, dass sich zumindest Ila nördlich von uns aufhält, ja. Cirdor spürt es am deutlichsten, er hat die schärfsten Sinne von uns allen.“
„Wo im Norden? Habt ihr es etwas genauer?!“
„Leider nein… aber wenn ihr reist, könntet ihr den Bernstein Cirdors mitnehmen. Seine Sinne können euch leiten. Wie ein Kompass“, schlug Eleanoa vor. Und tatsächlich erinnerte ich mich, wir hatten ihn schließlich bereits einmal benutzt, um Gäjas Stein ausfindig zu machen. Das könnte funktionieren.
„Ein guter Vorschlag“, erwiderte ich und nickte Cirdor zu, der das stumm erwiderte.
„Was könnt Ihr uns über Ila sagen? Habt Ihr eine Vorahnung, was uns erwarten könnte?“
„Ila war niemals feindselig gewesen, aber durchaus eiskalt – ihrem Element angemessen. Sie war die erste, die unseren Bund damals verlassen hatte. Quasi der Anfang vom Ende.“
„Wir haben von einem Eispalast im Nordmeer gehört…“
„Das klingt nach ihr. Abgelegen und ungestört, aber dennoch majestätisch und voller Anziehungskraft.“
„Und was ist mit Musk dem Blauen?“
„Er war stets friedlicher Natur und hat die Harmonie angestrebt. Dass wir uns damals getrennt haben, hat ihn sehr getroffen. Zurzeit können wir jedoch Nichts über ihn sagen“, erklärte Eleanoa die Goldene. „Habt ihr noch weitere Fragen? Ich glaube, ich habe euch alles gesagt, an das ich mich noch erinnern kann…“
Wir sahen einander an, keiner schien noch eine weitere Idee zu haben. Der Plan stand mehr oder weniger fest: an Bord eines Schiffes und mit Cirdor als Kompass nach Norden. Das war zwar nicht sehr konkret, doch genauer bekamen wir es hier bei den alten Meistern nicht mehr. Auch Feanor machte keinerlei Anstalten mehr, mit den Magiern eines vergangenen Zeitalters zu sprechen – und so verabschiedeten wir uns vorerst.
„Es war uns eine Ehre, mit euch gesprochen zu haben“, sprach Feanor, ehe er eine ausladende Geste mit der Hand machte – und es sich erneut anfühlte, als würde ich einschlafen wollen.
Nur um einen Moment später wieder in einem kleinen Garten der Gilde zu erwachen. Auch die anderen schlugen die Augen auf. Feanor erhob sich bereits wieder und nahm ein Kästchen an sich. Wir taten es ihm gleich und brachten die Rosen der Macht zurück in den Geheimraum unter Feanors Büro, wo sie der Magier wieder sorgfältig versteckte und versiegelte.
Anschließend setzten wir uns wieder zu fünft an den großen Schreibtisch und ein jeder sammelte zunächst seine Gedanken – wobei Feanor so aussah, als hätte er bereits alles bedacht, was wichtig werden könnte.
„Die Aufgabe liegt klar vor uns. Allerdings müssen wir bedenken, dass der Winter die nordlichen Länder fest in seinem Griff hat“, begann schließlich Miyako. „Und die Meere werden teilweise durch Eis nahezu unpassierbar.“
„Also sollten wir abwarten?“, schlug ich vor.
„Daran habe ich bereits auch gedacht“, stimmte Feanor zu. „Es wird das Beste sein, wenn ihr noch etwa einen Mond hier auf den valianischen Inseln verbringt. Dann werde ich mich mit einigen mir bekannten Kapitänen auseinandersetzen und wir finden sicherlich jemanden, der euch wieder nach Norden bringen kann. Soweit ich weiß, seid ihr erst kürzlich von dort zurückgekehrt?“
Zähneknirschend nickten wir, denn auch wenn es eine erkenntnisreiche Reise gewesen war, so hatten wir doch kaum mehr als Sicherheit gewonnen – und die Finger von einem goldenen Käfig gelassen. Die Vöglein in seinem Inneren vermochten nicht mehr zu fliegen und so hatten wir es für das Beste erachtet untätig zu bleiben.
Wir verabschiedeten uns für den Abend und gingen zurück auf unsere Zimmer. Ein Mond der Ruhe war uns noch vergönnt, dann würden wir erneut aufbrechen.
Am nächsten Tag übergab ich Nicola eine Spruchrolle, welche ich auf einer Reise gefunden hatte. Mit dem Lehrstubenwissen der Magier konnte ich wenig anfangen, und so hatte dieser Gegenstand keinen Wert für mich. Bei unserer Rückkehr nach Valian hatte ich bereits drei dieser Papiere an Ricardo gegeben – der bei dem Versuch, von ihnen zu lernen, zwei zerstört hatte. Immerhin den dritten, den bereits demonstrierten Illusionszauber, hatte er verinnerlicht.
Nicola stellte sich bei seinem Lernversuch offensichtlich geschickt genug an, denn einige Tage später kam er freudestrahlend zu mir und dankte mir noch einmal für mein Geschenk. Er gab mir noch einen Kieselstein, der mir im „Kampf nützlich“ sein werde. Etwas… irritiert packte ich das kleine Steinchen ein.
Wir nutzten die restlichen Tage, um unsere innere Ruhe wiederzufinden. Die Erinnerungen an jüngste Verluste steckten mir noch tief in den Knochen und auch Miyako war sicherlich durch ihre kurze Begegnung mit der geliebten Schwester emotional aufgewühlt, womöglich sogar erschüttert worden. Ricardo setzte sich indes bei Feanor dafür ein, dass wir einen Vorschuss für unsere Reise erhalten sollten. Der alte Magier schickte ihn ein, zwei Mal weg, aber schließlich gab er uns einen großzügigen Geldbeutel mit. Damit konnten wir zunächst einen weiteren Heiltrunk für Notfälle erwerben – und später sollte sich herausstellen, dass wir ohne den übrigen Goldbetrag von etwa 500 Münzen nicht weit gekommen wären.
Dann war es so weit: Feanor vermittelte uns an Kapitän Helpland von der „Pierbrecher“ und arrangierte die Bezahlung für unsere erste Fahrt. Das Handelsschiff hatte sich als Endziel Isgard gesetzt und würde dabei einige andere Häfen im Norden anlaufen, so auch das uns bereits bekannte Usegorm. Wir waren mit Feanors Wahl sehr zufrieden, da wir so zunächst rasch voran kommen würden – und Cirdor hoffentlich eine genauere Fährte aufnahm.
Am 5. Tag der zweiten Trideade des Wolfsmondes legte die Pierbrecher ab. An Bord war es diesmal nicht für uns notwendig, irgendwelche Tätigkeiten zu übernehmen, sodass wir uns selbst beschäftigen konnten und mussten… woraufhin Ricardo ein Übungsduell mit Miyako vorschlug. Der junge Küstenstaatler wirkte heiß auf einen Sieg und schien darauf zu brennen, sich als bester Kämpfer in unserer Gruppe zu etablieren. Dabei war ihm die KanThai in hohem Maße an Erfahrung voraus und ich ahnte, dass das für Ricardo nur mit einer Menge blauer Flecken enden konnte.
Selbst einige der Matrosen ließen interessiert ihre Arbeit schleifen, als sich Miyako und Ricardo aufstellten – die KanThai mit einem umwickelten Langschwert, der Küstenstaatler mit einer Abdeckung auf der Florettspitze. Dann ging es schnell los, nach der kurzen Duellverbeugung schoss Miyako vor und führte das Schwert blitzschnell von unten diagonal gegen Ricardos Körper. Der gelehrsame Student huschte einem Fechter nicht unähnlich einen Schritt zurück, fiel aber direkt wieder nach vorne aus. Die KanThai parierte mit einem abwärts gewandten Schlag ihres Langschwerts, wobei sie eine Drehung beschrieb. Ricardo folgte mit der Spitze des Floretts der Bewegung, setzte aus dem Ausfallschritt noch einmal nach und stach der KanThai die Spitze seiner Waffe knapp neben die linke Achselhöhle. Miyako zischte zwischen zusammengebissenen Zähnen, während sich Ricardo bereits ein freudiges Lächeln gönnte – er hatte den ersten Treffer gelandet!
Doch die Freude kam zu früh und Miyako zeigte, das zum Zweikampf mehr als die Klinge gehörte. Sie ruckte vor, trat mit einem Fuß auf den vorangestreckten Ricardos und hinderte den Küstenstaatler so am schnellen Zurückziehen. Ein Ellbogen traf ihn daraufhin vor der Brust, was ihn zurücktaumeln ließ. Noch während er sein Gleichgewicht suchte, traf ihn das glücklicherweise umwickelte Langschwert am Knie und ließ ihn beinah einknicken. Dann fand er sich jedoch wieder und hob das Florett wieder angemessen. Er schnaufte bereits und obwohl sein Treffer an Miyako ordentlich gewesen war, sah es nicht allzu gut für ihn aus.
Dies schien Nicola, der neben mir stand und ebenfalls genauestens den Kampf beobachtete, zum Anlass für ein wenig Manipulation zu nehmen. Er blickte konzentriert auf den Fechtenden und wisperte leise eine Zauberformel… doch es geschah Nichts. Außer, dass Miyako das nicht entgangen war. Anstatt sich jedoch frühzeitig und sinnlos zu ereifern, preschte sie einem Tsunami gleich nach vorn und schlug Ricardo das Langschwert von oben entgegen. Der Küstenstaatler machte einen Schritt zurück und wollte sogleich wieder einen Ausfall proben – aber diesmal hatte er sich verschätzt. Die Spitze des Langschwerts war noch in Reichweite, Miyako war unglaublich schnell sehr nah herangekommen und der umwickelte Stahl traf Ricardo mit voller Wucht gegen das Schlüsselbein.
Den Küstenstaatler warf es vornüber auf die Planken und ihm glitt das Florett aus der Hand. Doch obwohl das ein äußerst schmerzhafter Treffer gewesen sein musste, stieß er keinen Schrei aus und rappelte sich dank Miyakos ausgestreckter Hand auch wieder rasch auf die Beine. Die KanThai nickte ihm anerkennend zu, denn prinzipiell hatte ihr Kontrahent einen guten Stil gezeigt. Dann marschierte sie jedoch – und diesmal mit zornblitzenden Augen – auf Nicola zu.
„Halte dich in Zukunft mit deiner verfluchten Zauberei aus Zweikämpfen heraus!“, blaffte sie ihn an, dass der ältere Gildenmagier zusammenzuckte. Beschwichtigend hob er die Hände und gelobte Verzicht. Damit hatte er sehr schnell herausgefunden, was Miyako hasste: Magie. Auch wenn sie natürlich zunftgemäß lieber über ihren Schatten sprang, als schön zu sterben.
Am nächsten Tag forderte Ricardo Miyako erneut zum Duell. Der Küstenstaatler war noch immer eifrig und wollte seinen ersten guten Ansatz aus dem Zweikampf weiter verfolgen. Allerdings dominierte die KanThai diesmal weit deutlicher und schickte ihren Übungspartner bereits nach zwei Hieben zu Boden. Doch Ricardo bewies Durchhaltevermögen und so wurde der tägliche Wettkampf der Beiden zu einem kleinen Höhepunkt der doch eintönigen Schifffahrt. Leider zeichnete sich selten eine größere Spannung ab und Miyako gewann schließlich jeden Zweikampf auf der ersten Reiseetappe.
Am siebten Tag dieser Fahrt erreichten wir die chryseiische Stadt Ikonium. Mein Interesse daran, eine Stadt dieses unheiligen Landes zu betreten, war noch immer äußerst gedämpft – davon abgesehen wüsste ich nicht, was der umtriebige Hafen für mich bereithalten sollte. Hinzukam, dass die Einwohner in schwelender Feindschaft zu den Albai lebten und obwohl ich keiner war, mochte es sicherlich den einen oder anderen geben, der in einem Elfen einen Spion sah. Also ersparte ich mir sämtliche Scherereien vorerst und blieb an Bord der Pierbrecher, während die anderen loszogen, um sich zumindest den Markt anzusehen.
Ich nutzte die Zeit allerdings auch und holte die Bernsteinrose aus einer kleinen Schatulle hervor, wie sie uns Feanor immer mitzugeben gepflegt hatte. Davon besaßen wir derzeit zwei, eine reserviert für die Eisrose, welche wir hoffentlich bald finden und wegschließen könnten.
Ich versuchte mich nun wieder einmal auf die Rose der Macht einzustimmen, auch wenn es lange her war, dass ich das das letzte Mal getan hatte. Allerdings spürte ich lediglich eine schwache Präsenz – etwas war da… doch schien es noch keine Fährte aufgenommen zu haben. Später am Tage versuchte ich es erneut, als Miyako mich darauf hingewiesen hatte, dass Magie, die an Erde gebunden sei, sicherlich besser an Land funktioniere. Das war selbst ohne Kenntnisse der Zauberei offenkundig und kopfschüttelnd über mich selbst ging ich doch kurz in Ikonium an Land, um in einer dunklen und abgeschiedenen Ecke neben dem Unrat eines Gasthauses noch einmal kurz den Kontakt zu Cirdor zu finden. Doch wieder gelang es nicht und etwas ratlos kehrte ich zurück zur Pierbrecher.
Auch Nicola wollte es nun einmal ausprobieren, so gab ich ihm – wenn auch mit kleinem, inneren Widerwillen – die Rose. Der Gildenmagier konzentrierte sich einige Zeit… schien aber ebenfalls keinen Weg zu Cirdor zu finden. So gab er mir den Bernstein zurück und ich verschloss ihn wieder in der kleinen Schatulle.
Am nächsten Morgen reiste die Pierbrecher ab und die Übungszweikämpfe zwischen Miyako und Ricardo gingen wieder los. Tag für Tag schlug die KanThai ihren Kontrahenten nieder, der von blauen Flecken nur übersät war. Doch der eifrige Student bewies stoische Hartnäckigkeit und forderte sie jeden Tag aufs Neue heraus…
Es war ein sehr windiger Tag und selbst die Matrosen waren ungern an Deck, doch die beiden Duellkämpfer ließen sich nicht abhalten. Stürmisch griff Ricardo an, woraufhin Miyako die ersten Schläge parierte und selbst einen guten Treffer landete, der den Küstenstaatler ächzen ließ. Doch er fiel erneut aus, drängte die KanThai nach hinten – und sie rutschte über eine frisch gewischte Planke hinweg aus, dass es ihr etwas den Kopf hochriss und sie dabei direkt in die schrägstehende Sonne blickte. Taumelnd und geblendet schien sie aber gerade noch zu erahnen, was um sie herum geschah – denn sie wich einem herabfallenden Seil aus, das bei dem Wind einem Matrosen in der Takelage entglitten sein musste. Das führte sie jedoch erneut über die nasse Planke, sie trudelte… und Ricardo nutzte seine Chance! Ein Treffer in die Magengegend ließ Miyako ächzen und sie ging zu Boden!
Ricardo reckte seine Waffe empor und rief laut: „Ja! Sieg! Gewonnen!“
Wir klatschten – langsam und gedehnt. Jetzt wussten wir zumindest, wie viele Vorzeichen es für einen Sieg des Küstenstaatlers brauchte…
Einige Tage vergingen und wir kamen wieder an altbekannten Landschaftsbildern und den Hjalta-Inseln vorbei, bis wir schließlich Usegorm erreichten. Wieder blieb ich an Deck und beschäftigte mich lieber mit der Bernsteinrose, wenngleich das immer noch ohne Ergebnis blieb. Ich musste davon ausgehen, dass wir noch nicht weit genug im Norden waren, dass Cirdors Restgeist eine Spur aufgenommen hatte. Dementsprechend mussten wir also noch bis Isgard ausharren und uns dort weiter umhören, so dachte ich.
Als Miyako, Ricardo und Nicola jedoch wieder von ihrem Rundgang zurückkehrten und wir uns trafen, schien zumindest der Gildenmagier einige Informationen zusammengetragen zu haben.
„Es gibt einige Erzählungen von einem Eispalast auf See! Doch er ist nicht leicht zu finden und hier in Usegorm gibt es keinen, der überlebt hat und noch bei Verstand ist“, erklärte Nicola Santoro. „Allerdings bin ich etwas ratlos: der Mann mit dem ich sprach, redete ein ziemlich verwaschenes Comentang und das meine ist ebenfalls nicht fehlerfrei… ich glaube er meinte, wir brauchen einen gewaschenen Seebären?“
„Einen Waschbären?“, fragte Miyako nach.
„Nein, ich bin mir ziemlich sicher, es war ein mit allen Wassern gewaschener Bär aus der See!“
„Vielleicht eine Seebeere? Ist das ein Gewächs hier aus Waeland?“, sinnierte Ricardo.
„Es klang mehr nach einem Tier… oder einem Menschen?!“
„Ein Gestaltwandler?“, grübelte der Küstenstaatler weiter.
„So einen haben wir wohl kaum parat“, wiegelte Nicola ab. „Nein, ein gewaschener Bär muss es sein!“
„Ich könnte das auch mit einer Illusion übernehmen…“
„Ach, Mensch! Du verstehst doch gar nichts von Magie, das kann so nicht funktionieren!“
„Aber, ich… ich bin doch ein guter Zauberer! Das geht doch bestimmt!“, meinte Ricardo etwas verschnupft. „Nein, das ist Quatsch.“
„Aber wenn ich kein guter Magier bin… und auch kein guter Kämpfer!“, schluchzte Ricardo beinah. „Was dann? Von daheim bin ich doch weggelaufen, nur um das zu werden!“
„Kopf hoch, Ricardo, wir kriegen das alles wieder hin“, murmelte ich – unsicher, ob der Küstenstaatler sich tatsächlich aufgrund seiner gescheiterten Karriere als Sohn, Krieger und Magier ereiferte. Immerhin war der Mann nun ein ziemlich eigentümliches Mischmasch aus allen Zutaten. Ricardo fing sich wieder und schwieg vorerst, während ich mich wieder an Nicola wandte: „Was genau wissen wir denn jetzt über den Eispalast?“
„Also in aller Kürze: es gibt wohl einen, aber nicht wenige haben ihn gesehen und überlebt. Und wer überlebt hat, der ist wahnsinnig geworden oder so weit in den Süden geflohen, wie es der Geldbeutel zuließ“, fasste Nicola zusammen. „In Isgard erfahren wir womöglich mehr, das hat zumindest der Wirt empfohlen. Dieser Eispalast soll ungefähr im Jokulsund liegen, also sind wir bei unserem letzten Reiseziel eigentlich recht nahe dran.“
Damit stand unsere weitere Agenda fest und nach einigen weiteren Gesprächen, die sich im Großen und Ganzen um das Mysterium des gewaschenen Bären auf See drehten, gingen wir schließlich in die Kojen. Am nächsten Morgen brach die Pierbrecher wieder auf, es galt noch die letzten fünf Tagesreisen hinter sich zu bringen, ehe wir Isgard erreichten. Auf weitere Übungsduelle verzichteten Ricardo und Miyako allerdings.
Schließlich war es so weit: die Pierbrecher war am Ende ihres Reiseziels angekommen, würde Waren umschlagen und wieder nach Süden aufbrechen. Wir verabschiedeten uns also von der Mannschaft und gingen in Isgard an Land. Zwar war der Winter dem Kalender nach eigentlich vorbei, doch es lag immer noch Schnee hier im Norden Midgards und für jeden Nicht-Waelinger waren die Temperaturen noch tief genug, um die Zähne klappern zu lassen. Zumindest die See würde einigermaßen frei sein, sollten wir noch weiter reisen müssen – wonach es allem Anschein nach aussah.
Zunächst suchten wir uns jedoch ein gutes Gasthaus am großen Platz von Isgard, das in seinem Aufbau den anderen uns bekannten waelischen Städten ähnelte. Der Wirt sprach glücklicherweise Comentang, denn ohne Mara fehlte uns ein Übersetzer; ein Umstand den wir baldmöglichst beheben mussten. Der geforderte Preis für das Gasthaus schien uns recht hoch und Ricardo begann zusammen mit Nicola den Preis herunterzuhandeln. Die beiden schienen derzeit sehr darauf bedacht, jede einzelne Münze zweimal umzudrehen.
Immerhin entpuppten sich die Zimmer als geräumig und gemütlich und wir verstauten zunächst unsere Waffen, um nicht vollgerüstet durch die Stadt laufen zu müssen. Dann begann unsere Suche – nach einem gewaschenen Bären oder einem Überlebenden, der den Eispalast gesehen haben will.
Erste Anlaufstelle war wieder einmal der Gastwirt oder in diesem Fall sein Sohn, da sein Vater sich zurückgezogen hatte.
„Grüße, sprichst du Comentang?“, leitete Nicola ein.
„Ja… etwas“, erwiderte der junge Mann, wobei er sprach, als wäre sein Unterkiefer temporär gelähmt.
„Wir suchen einen Bären! Mit allen gewaschenen Wassern, äh mit allen Wassern gewaschen, wenn’s geht!“
„Waaas?“
„Na, so einen für die See. Einen erfahrenen!“
„Ähm… ihr könnt mal mit dem da sprechen. Bryan heißt er. Der kennt sich mit Schiffen aus!“, erklärte der Wirtssohn daraufhin etwas perplex, während ich mir das Grinsen mühsam verkniff.
Genannter Mann saß derzeit allein an einem Tisch und trank dort in aller Gemütlichkeit aus einem Horn. Mit wettergegerbter Haut und einigen, kleineren Narben wirkte er durchaus so, als habe er bereits einige Erfahrungen gemacht. Im ersten Moment wirkte er jedoch nicht sehr erfreut, als wir vier uns ihm näherten und an seinen Tisch setzten.
„Bryan, richtig? Ein komischer Name für einen Waelinger“, eröffnete Nicola das Gespräch.
„Was?! Ach dieser vermaledeite Wirtssohn, der ist so schlau wie nen‘ Meter Holzplanke. Mein Name ist Bryan von Tok – ‚Bry-an‘. Nicht Bryan.“
„Erscheint mir dennoch ziemlich seltsam, seid Ihr von hier?“, bohrte der Magier weiter.
„Geht euch doch alles Nichts an. Was wollt ihr eigentlich von mir?“
„Also wir brauchen einen gewaschenen Bären für die See. Mit Erfahrung, wenn’s genehm ist.“
„Verdammt nochmal, wo kommst du eigentlich her, Mann? Hol mir erstmal was zu trinken, wenn du was von mir willst“, blaffte Bryan und zugegebenermaßen konnte ich ihn verstehen: Nicola sprach durchaus sehr verworren. Man sagte ja manchen Menschen im Alter eine gewisse Verwirrung nach. War es bei dem Herrn Santoro etwa schon so weit? So alt erschien er mir dann auch wieder nicht…
Nicolas Aufforderung, ich solle Getränke holen, ließ ich im Raum stehen, bis Ricardo die Aufgabe übernahm und Bryan sogleich zwei Humpen hinstellte. Nun konnte das eigentliche Gespräch beginnen.
„Wir benötigen ein Schiff und eine Crew“, machte es Miyako kurz. „Könnt Ihr uns da helfen.“
„Ich bin der 1. Maat unseres Schiffes, natürlich könnte ich da etwas organisieren. Allerdings stellen sich zwei Fragen: wohin soll die Reise gehen und noch wichtiger, was bezahlt ihr?“
„Wir wollen… zum Eispalast.“
„Der Eispalast? Holla, das ist mal eine Ansage. Glaube nicht…“
„Es bestehen unserer Ansicht nach genug Indizien, dass es ihn gibt.“
„Ja, schon, keine Frage. Aber das wird gefährlich. Wenn nur die Hälfte der Geschichten stimmen, dann hat es schon dutzende Schiffe zerlegt, die nur in der Nähe waren“, brummte Bryan. „Allerdings… wenn ihr genügend zahlt…“
„Wir werden angemessen des Risikos bezahlen.“
„Nun, dann werde ich zunächst einmal mit meinem Kapitän sprechen und wenn er einverstanden ist, dann verhandeln wir über den Preis“, erklärte Bryan und erhob sich.
„Habt Ihr von einem Überlebenden gehört?“, hakte Miyako nach. „Jemand, der den Eispalast gesehen und überlebt hat – und noch hier in Isgard ist?“
Einen Moment schien Bryan zu überlegen, dann meinte er: „Es gibt da einen, Grimbel heißt er. Weiß aber nicht, wo er wohnt.“
Nach diesen Worten stürzte der Waelinger seine restlichen Getränke binnen weniger Sekunden hinab und ging ohne auch nur ein bisschen zu schwanken davon, um seinen Kapitän zu suchen.
Wir fragten kurz beim Wirtssohn nach, der uns tatsächlich den Weg zum Haus jenes Matrosen namens Grimbel beschreiben konnte. Anschließend wurde nicht lange gezögert und wir machten uns auf den Weg zu der kleinen Hütte.
Die Tür wurde nach kräftigem Anklopfen rasch geöffnet und wir erblickten einen kleinen, stämmigen Mann, der sich einen prächtigen Bart hatte stehen lassen… es handelte sich um einen Zwerg!
„Grimbel?“, fragte ich nach.
Der Zwerg nickte, sprach dann auf Waelska einige Worte, die keiner von uns verstand. Wir versuchten es auf Comentang, Albisch, auch auf Neu-Vallinga und aus Jux setzte Ricardo etwas Maralinga hinzu – eine Verständigung war nicht möglich. Der Zwerg wirkte bereits recht genervt, woraufhin wir ihm mit Händen und Füßen zu verstehen gaben, dass wir wiederkommen würden. Nun, Nicola Santoro blieb noch da, überzeugt, sich mit dem Mann irgendwie verständigen zu können.
„Im Gasthaus wird sich schon jemand finden, der uns übersetzt, wenn wir ihm zehn Goldstücke geben“, schlug ich kurzer Hand vor. Prompt quollen Ricardo die Augen aus dem Kopf und er protestierte energisch: „Zehn Goldstücke?! Ha, der Elf schmeißt mit dem Geld um sich, ich fasse es nicht!“
„Wir sollten erstmal so fragen, vielleicht hilft uns jemand kurz kostenlos“, stimmte Miyako mit ein. Schulterzuckend schloss ich mich meinen Gefährten an und wir gingen zurück in unser Gasthaus. Meine Freunde wandten sich an den Wirtssohn, der uns wiederum an seine Kumpane verwies. Die Jungspunde saßen in einer Ecke des Gasthauses und tranken gemütlich ihren Met.
„Seid gegrüßt“, eröffnete Miyako. „Könnte uns einer von euch kurz behilflich sein und von Comentang in Waelska übersetzen?“
„Beheffelich?“, grunzte der erste.
„Die wollen, dass wir reden“, erkannte der zweite.
„Und dafür gibt’s Gold?“, fragte der erste wiederum verdutzt.
„Wir sollen zwei Sprachen sprechen“, ergänzte der dritte und letzte im Bunde.
„Gleichzeitig?“, wieder der erste.
„Ne, hintereinander. Damit se uns ach verstehen tun“, erklärte der zweite mit intelligentem Gesicht.
„Das kann ich!“, rief der erste aus und stand auf.
Das hatte ich befürchtet und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Der Dienst des jungen Mannes, der seine dümmlich-lüsternen Blicke auf Miyako nicht einmal verbarg, war zwar kostenlos, aber mir graute bereits vor dem langwierigen Gespräch mit Grimbel.
Mit dem Waelinger im Schlepptau kehrten wir zurück zum Haus des ungewöhnlichen Matrosen, der sich dort immer noch nicht mit Nicola hatte verständigen können. Der ältere Magier schien zwar noch nicht alle seine „glorreichen“ Ideen zur Sprachübersetzung eingesetzt zu haben, machte allerdings Platz, als wir mit unserer „glorreichen“ Schützenhilfe hinzukamen. Zunächst bat uns Grimbel nun hinein ins Warme. Bei einem prasselnden Feuer sitzend begann dann ein langwieriges Gespräch, in dem wir uns der einfachsten Konstruktionen und Worte der ohnehin simplifizierten Handelssprache bedienen mussten, damit unser Übersetzer verstand, was wir von dem Zwerg wollten.
Es stellte sich heraus, dass „Grimbel Rotbart“ tatsächlich ein zur See fahrender Zwerg war, sogar ein Steuermann. Den Eispalast hatte er bereits ein einziges Mal gesehen und meinte, die grobe Richtung zu kennen, in die man von hier aus zwischen zehn und fünfzehn Tage fahren müsse – er legte jedoch dar, dass er glaubte, man könne den Palast nicht gezielt anfahren. Man könne sich gar nur dorthin verirren. Es war von Glück für uns, dass Grimbel das typisch-stoische Gemüt seines Volkes hatte. Er sprach nüchtern von der Gefahr und als wir ihn schließlich fragten, ob er noch einmal mitreisen würde… nun, da entpuppte sich dies lediglich als eine Frage des Geldes. Einen Obolus für die Arbeit mit einem Risikozuschlag, insgesamt allerdings recht günstig, bedachten wir unsere aktuelle Finanzlage. Erfreut verabschiedeten wir uns vorerst, ehe das eher leistungsschwache Gemüt unseres Übersetzers zusammenbrach, und gingen zurück ins Gasthaus.
Es wurde bald Abend und zum Essen kam Bryan von Tok zurück und setzte sich zu uns. Wir speisten gemeinsam und der Waelinger berichtete uns von seinem Treffen mit seinem Kapitän: „Wir werden es machen! Wir werden mit euch zum Eispalast fahren – vorausgesetzt natürlich ihr habt einen Steuermann auftreiben können, der den Weg kennt?“
„Haben wir“, bestätigte Miyako knapp.
„Dann habt ihr nun auch ein Schiff und eine Mannschaft. Allerdings… das wird nicht billig. Wir sind gute Männer mit einem guten Schiff und das ist eine gefährliche Reise!“
„Wie viele seid ihr denn?“
„Also, wir sind sieben Matrosen und ein Kapitän. Wie lange wird die Reise dauern?“
„Etwa dreißig Tag hin und zurück.“
Bryan rechnete einen Moment lang, bis er schließlich die Goldsumme ausgerechnet hatte, kaute dann einige Zeit auf den Worten herum und sagte schließlich: „Sodann… für Hin- und Rückfahrt. Die Kosten für die Mannschaft und das Schiff, unsere Verpflegung miteinbegriffen sowie einem Risikozuschlag. Das werden eintausendzweihundert Goldstücke.“
„Wie viel?“, fragte Ricardo mit nahezu quiekender Stimme nach.
„1200 Goldstücke. Es wird eine gefährliche Fahrt.“
Daran gab es Nichts zu rütteln. Im Folgenden dröselte Bryan kurz auf, wie er zu dem Ergebnis gekommen war und es gab für uns wenig, woran wir hätten ansetzen können, um den Preis zu drücken. Hinzukam noch, dass wir noch die Verpflegung für uns bezahlen mussten. Auch Grimbel musste bezahlt werden.
Wir entschuldigten uns also zunächst und gingen auf unser Schlafgemach. Kommentarlos warf ich dort meinen Geldbeutel in die Mitte und die anderen schlossen sich an. Rasch wurde durchgezählt und geschätzt, die Kosten abgezogen und schließlich stand fest: wir konnten diese Expedition gerade so finanzieren. Ohne Feanors Startgeld hätte dies nicht funktioniert und selbst jetzt reichte es gerade noch so, dass wir auch noch hinterher ein Schiff zurück nach Candranor nehmen könnten.
„Ach, wir werden doch sicher auch ein paar Schätze in diesem Eispalast finden!“, merkte Nicola optimistisch an.
„Nun… wir haben noch nie einen Schatz bei einer Rose gefunden“, kommentierte Miyako nüchtern woraufhin der Magier schwer schluckte.
„Es ist nicht so, als hätten wir eine große Wahl. Diese Artefakte besitzen die Macht, ganze Dörfer in Schutt und Asche zu legen“, erinnerte ich.
Es folgten noch einige Überlegungen hinsichtlich der Kostenverteilung und jemand notierte sich, wer wie viel Gold hinzugegeben hatte, dann kehrten wir zu Bryan zurück und erklärten, dass wir einverstanden waren. Anschließend heuerten wir auch noch Grimbel endgültig an. Am nächsten Tag folgten letzte Einkäufe, insbesondere unsere eigene Verpflegung. Dann schliefen wir noch ein letztes Mal in den Betten des Gasthauses, ehe wir uns an einem kalten Morgen am Isgarder Pier mit Bryan von Tok, Grimbel Rotbart und einigen Matrosen trafen. Neben dem ersten Maat stand ein uns noch fremder Mann, den man seiner Gestalt nach durchaus als „bärig“ bezeichnen könnte. Breit gebaut und größer als jeder von uns vier, dazu mit langem Haar und Bart.
„Arno Deorson“, stellte er sich uns vor. „Ihr seid also die Südländer, die zum Eispalast wollen. Das wird eine Fahrt von der die Skalden singen können!“
Dann ließ der Mann ein Lachen los, das man leicht mit einem Brüllen verwechseln konnte – eben ein mit allen Wassern gewaschener Seebär.
Das Schiff war bereit und wir gingen an Bord. Bereits wenig später legten wir ab und verließen den Isgarder Hafen an einem kalten, aber klaren Morgen. Es blieb allerdings nicht viel Zeit, um den Fjord zu bewundern, aus dem wir hervorfuhren oder den stahlblauen Himmel zu bestaunen. Es gab auch für uns reichlich an Bord zu tun und es war nicht die leichteste Arbeit, die man für uns übrig hatte. Bedachte man, dass wir diese Waelinger eigentlich bezahlten wirkte es wie eine verkehrte Welt – doch andererseits hatten wir weder Lust uns mit dem Kapitän zu streiten, noch etwas Besseres zu tun.
Am Abend beschäftigte ich mich in unserer Kajüte erneut mit der Bernsteinrose, die bislang erschreckend still geblieben war. Zwar glaubten wir uns nun ohnehin auf dem richtigen Kurs, aber womöglich könnte uns Cirdor den letzten Schritt weisen. Ich nahm mir viel Zeit und versank in einen tranceartigen Zustand der Meditation…
Düstere Schatten wechselten sich mit grauem Nebel. Meine Sicht war verschwommen und unklar, verworren in einer undurchsichtigen Umgebung. Hinabgeworfen in einen Traum, aus dem sich mein Blick hervorkämpfte, bis ich schließlich etwas erspähte, das Konturen besaß. Es war ein helles Licht im Durcheinander und wirkte in der Ferne beinah wie ein großes Gemälde. Einzelheiten konnte ich nicht ausmachen.
Als ich die Augen aufschlug saß ich immer noch mit übereinander geschlagenen Beinen in der Kajüte des schwankenden Schiffs. Die anderen blickten neugierig aus ihren Kojen herab und ich berichtete ihnen von den seltsamen Eingebungen, die ich hatte.
„Das ist zumindest mehr als bisher“, schloss ich. „Wir nähern uns also.“
„Dann solltest du das jetzt jeden Abend probieren“, merkte Miyako an und ich nickte.
So vergingen die ersten Tage unserer Reise recht gleichförmig. Bald hatten wir die Fjorde außer Sicht gelassen und fuhren auf offener See nordwärts, dem Jokulsund entgegen. Tagsüber arbeiteten wir und abends versuchte ich der Bernsteinrose immer mehr zu entlocken. Zunächst tat sich jedoch nicht mehr, als dass ich seltsame Eindrücke eines fernen Gebildes erhielt.
Am fünften Tag gerieten wir in dichten Nebel. Man konnte noch einigermaßen die Umgebung überblicken, aber es wurde äußerst kühl – der waelingische Frühling konnte noch ohne Probleme jeden Winter Albas in die Tasche stecken. Es breitete sich ein allgemeines Unwohlsein aus. Wir hatten bereits bis jetzt wenig mit der Mannschaft gesprochen, da keiner von ihnen Comentang beherrschte. Nun aber waren auch die Gespräche zwischen den Waelingern seltener und kürzer.
Auch am folgenden Tag ließ der Nebel nicht nach. Er wurde eher dicker und ohne die erfahrene Schiffsbesatzung hätten wir bald nicht mehr gewusst, ob wir die richtige Richtung ansteuerten. Am siebten Tag setzte sich das noch fort und als wir geweckt wurden konnten wir kaum erkennen, ob die Sonne bereits hoch am Himmel stand oder nur knapp über dem Horizont. Das Licht drang nur noch schwach und äußerst diffus durch die immer dichtere Nebelbank um uns herum. Es schien dann auch bereits schnell wieder Abend zu werden, so rasch wie die Dunkelheit kam. An Deck wurden nur noch die nötigsten Arbeiten schnell erledigt und dann verzog die Mannschaft sich in die Kombüse.
Als ich an diesem Abend meditierte, schien mir, als befände sich der ferne, helle Fleck etwa westwärts von mir. Mit dieser groben Vorahnung trat ich an Bryan von Tok heran, der das für Grimbel übersetzte. Zwar wirkte der erste Maat ebenso wie der Steuermann etwas verdutzt, dass ich eine Idee für die Richtung hatte, aber sie fragten nicht weiter nach. Wenngleich ich in dem Nebel auch nicht wirklich hätte sagen können, ob der Kurs in westliche Richtung korrigiert worden wäre. Sämtliche Orientierungspunkte des Himmels waren durch den Nebel dahin – nur langjährige Erfahrung oder vielleicht auch blindes Vertrauen ermöglichten Grimbel es, uns weiter voran zu bringen.
Der achte Tag brachte weiter Unruhe in die Mannschaft. An Deck konnte man kaum noch vom Heck zum Bug sehen, man fühlte sich selbst auf den Planken kaum noch sicher. Anfallende Arbeiten wurden hektisch erledigt, Fehler geschahen und entzündeten sich in kurzen, heftigen Streitereien. Es brauchte keine Waelska-Kenntnisse um zu verstehen, dass die Männer immer und immer wieder abwechselnd fluchten und Stoßgebete losließen. Die Stimmung war auf einem Tiefpunkt. Der Nebel war mittlerweile ein handfestes Problem. In einer derart aufgewühlten Stimmung könnte ein Zwischenfall zu ernsten Konsequenzen führen.
„Es sollte jemand mit der Mannschaft sprechen. Eine Art Ansprache halten, die Bryan übersetzt“, schlug ich vor.
„Am besten wir fragen zunächst Arno Deorson. Es ist seine Mannschaft, er weiß mit Sicherheit, wie er sie anzupacken hat“, schlug Miyako vor.
Ich nickte, ergänzte aber noch: „Jemand von uns sollte auch zumindest ein paar Worte verlieren. Damit sie verstehen, dass wir nicht nur wörtlich im selben Boot sitzen. Ricardo?“
Der junge Student wirkte selbst blass und gestand auch offen seine Furcht: „Ich habe auch Angst… was mag in diesem Nebel lauern?“
„Ricardo, denk daran! Wir haben Schlimmeres durchgestanden. Wir sind in verfluchten Katakomben gewesen und sind selbst einem Seemeister entkommen!“ Bei den letzten Worten runzelte Nicola die Stirn, fragte aber nicht weiter – er musste sicherlich überzeugt sein, sich verhört zu haben.
„Aber die Toten… Leif… was ist, wenn wir wieder jemanden verlieren?“, fragte Ricardo nach, noch nicht überzeugt.
„Es ist wichtig, dass wir das tun. Dutzende Menschen werden länger leben, wenn wir diese Aufgabe erfüllen und das Chaos beseitigen, das die Schüler der alten Meister entfesselt haben. Dafür müssen wir mit allem einstehen, was wir haben.“
Ricardo überlegte etwas, dann huschte ein Schein inneren Grimms und Entschlossenheit über sein Gesicht. „Ja, ich werde eine Ansprache halten!“, sagte er dann mit fester Stimme.
Am nächsten Morgen appellierten wir also zunächst an Arno Deorson, welcher die Mannschaft zusammentrommelte und zunächst im harschen Ton einige Worte auf Waelska verlor. Die Männer blickten sich einander an, nickten grimmig – doch wer den Blick jenseits der Reling auf den farblosen Nebel schweifen ließ, der erschauderte wieder.
Dann war Ricardo an der Reihe und stellte sich auf eine Kiste. Er räusperte und begann seine kurze Ansprache: „Männer! Wir sind auf dem Weg zum Eispalast! Mythos und Grauen erwarten uns, doch lassen wir uns davon schrecken? Nein! Ihr seid Waelinger, die bärtigsten Seefahrer des Nordens… ähm, also euch kann Nichts etwas anhaben! Wir stehen an eurer Seite! Gemeinsam schaffen wir das!“
Und der Küstenstaatler huschte wieder von der Kiste. Bryan von Tok übersetzte, wenngleich nicht sonderlich frenetisch und die Männer gingen wieder an die Arbeit. Die Angst war ihnen mit den Ansprachen wohl nicht genommen, doch zumindest war Entschlossenheit demonstriert worden.
Als ich am Abend wieder mit der Bernsteinrose meditierte, wallte innere Unruhe auf und meine Glieder versteiften sich unangenehm, während ich gleichzeitig ein Bild in meinem Kopf sah, das klarer war, als alle vorherigen. Der Lichtfleck war näher gerückt und beschrieb grob ein Dreieck mit der Spitze nach unten – doch ehe ich erkannte, was darin lag, erwachte ich wieder mit schmerzenden Armen und Beinen.
Ich musste mich einen Tag erholen, bis meine Gliedmaßen wieder entspannt und geschmeidig waren. Die Stimmung an Bord des Schiffes war weiterhin angespannt, doch arrangierte man sich mehr oder weniger und es wurden schlichtweg kaum noch Worte gewechselt. Der Nebel blieb unverändert dicht – ein Zeichen, dass wir wohl richtig lagen.
Am elften Tag der Reise, es war irgendwann zu der diffus-hellen Tageszeit, fuhren wir knapp an einem riesigen Objekt vorbei – es war eine Eisstele, die im Nebel verborgen gewesen war, sonst hätten wir sie schon von weitem sehen müssen. Ohne sich zu verjüngen ragte sie empor und ging sicher noch viel weiter, als uns die durch den Nebel beschränkte Sicht erkennen ließ. Die Oberfläche war wie glatt poliert, was ebenso für einen unnatürlichen Hintergrund sprach wie das Fehlen sonstiger Eisschollen auf den Wellen.
Geraune ging durch die Mannschaft, das auch von Erleichterung geprägt war: immerhin hatten wir diese hohe Säule nicht gerammt!
Auf jeden Fall war dies ein weiterer Fingerzeig, dass wir die richtige Richtung ansteuerten. Schließlich nahm das diffuse Licht hinter dem Nebel wieder ab und dort, wo sich nicht die farblosen Schwaden wie ein Leichentuch über die Welt geworfen hatten, sah man wohl bereits die Sterne. Wir wurden stattdessen mit einer weiteren Eissäule konfrontiert! Auf unserer rechten Seite geriet sie in unser Blickfeld und ich wollte gerade den nahestehenden Ricardo darauf aufmerksam machen, da zupfte er bereits an meinem Arm und sagte, dass er eine Stele links von uns gesehen hatte. Ich blickte hinüber, sah aber keine, dann doch und jene auf der rechten Seite war verschwunden – oder?
Verdutzt schüttelte ich den Kopf und rieb meine Augen. Doch auch Miyako und Nicola schienen sich unsicher, auf welcher Seite sie denn nun die Stele gesehen hatten. Es mochten schlicht zwei gewesen sein, doch dann hätte der Nebel sich ungewöhnlich rasch hin und her bewegen müssen, damit man sie auf den einen Blick sah und auf den nächsten nicht.
Schließlich ging ich zurück in unsere Kajüte und holte die Bernsteinrose hervor, um ein weiteres Mal zu meditieren… hinabgeglitten in eine tiefe, endlose Welt verlor ich jegliches Gefühl für den Raum. Wo auch immer ich war, es war kein Ort im eigentlichen Sinn. Es gab keinen Bezugspunkt, ich wirbelte herum, doch Nichts war da… bis ich schließlich einen kleinen Lichtpunkt sah. Er wurde größer, musste also näher zu mir kommen – oder ich zu ihm. Ohne Entfernungen einschätzen zu können schleuderte es mich über und durch Nebel sowie schwarze Schlieren, die hinter ihm zu liegen schienen. Ich atmete nicht, aus Angst, dieses Miasma in mich aufzunehmen.
Dann war es vor mir, das Licht. Es lag hinter einem riesigen Torbogen…
Als ich die Augen aufschlug waren meine Beine eingeschlafen… und die Rose fehlte! Entsetzt blickte ich auf und hektisch um mich. Da sah ich Nicola Santoro neben mir sitzend, mit dem Bernstein in den Händen. Er hatte sich ebenfalls zur Meditation bereit gemacht und schien ebenso Probleme damit zu haben, wie ich. Die uns umgebende Atmosphäre der Anspannung und Erwartung machte es uns wohl unmöglich, einen Moment der tieferen Ruhe zu finden. Mit wackligen Beinen stand ich auf und weckte Nicola, der sich daraufhin ebenso unsicher erhob.
„Was hast du gesehen?“, fragte ich, während ich die Hand offenhielt. Nicola gab mir die Rose zurück, dann versuchte er zu erklären: „Da war eine Art Torbogen und dahinter ein weißes Licht. Es lag vor mir.“
„Ja, das habe ich auch gesehen“, bekundete ich.
„Wahrscheinlich sind diese Eisstelen die Rahmen des Tors“, überlegte Nicola und ich nickte langsam; ja, das musste es wohl sein.
Am nächsten Tag erblickten wir bereits recht früh zwei Säulen – eine links, die andere rechts von unserem Schiff, diesmal bestand daran kein Zweifel. Doch wir fuhren so dicht an der rechten vorbei, dass das Schiff leicht am Eis vorbeischrammte. Ricardo versuchte noch neugierig nach der Stele zu greifen, doch die Erschütterung warf ihn, wie uns alle, etwas aus dem Gleichgeweicht, sodass es missglückte. Skeptisch über unseren Kurs gab Nicola einige Vorschläge zur Korrektur über Bryan von Tok an Grimbel weiter. In seinen Bart mauschelnd und wahrscheinlich Landratten verfluchend, schien der Zwerg die Anweisungen aufzunehmen.
Und tatsächlich: wir passierten später am Tag zwei weitere Säulen und diesmal mittig – trotz der fortschreitenden Dunkelheit konnten wir jetzt mehr ausmachen, als noch am Morgen. Die Eissäulen neigten sich einander zu und in schwindelerregender Höhe trafen sie aufeinander. Es war tatsächlich eine Art Pforte, von zyklopischem Ausmaß. Erstaunt blickten wir empor und ergriffen schauderte es uns. Es brauchte schiere Zauberkraft, um so etwas zu erschaffen… und für den Eispalast war dies wohl wenig mehr als ein Türvorleger.
In der Nacht wurden wohl alle an Bord von Träumen und Vorahnungen heimgesucht, was uns bald erwarten mochte. Die Geschichten vom Wahnsinn der Seefahrer drängten sich wieder ins Bewusstsein und man konnte nur hoffen, dass sich einfachere Gemüter schlicht den Ereignissen gegenüber verschließen würden. Furcht und Faszination lagen wieder einmal beieinander, untrennbar miteinander verwoben.
Am nächsten Tag kroch die Kälte in unsere Kajüten. Selbst in eine Decke eingewickelt ließ es sich kaum aushalten. Nur zähneknirschend wagten wir uns kurz an Deck, wo wir lediglich Grimbel in Pelze eingehüllt vorfanden. Die restlichen Seefahrer huschten nur für kurze Augenblicke über Deck, um notwendigste Handgriffe zu machen. Auch wir hielten es nicht lange aus und suchten uns irgendein warmes Plätzchen an Bord des Schiffes, was nahezu vergeblich war.
Am Vormittag hallte jedoch der laute, aber auch vor Frost klirrende Ruf des Zwergs über das Deck und alle Mann lief herauf, ebenso wir vier. Wir näherten uns einem weiteren Tor, das sich langsam aus dem hell gewordenen, fast weißen Nebel hervorschälte. Nicolas Eingebungen schienen genau richtig gewesen zu sein, denn wieder fuhren wir genau mittig darauf zu.
Wir passierten die Pforte aus Eis, in deren Oberfläche sich matt das diffuse Licht spiegelte. Es war ein wahrhaft magischer Anblick, der mich einmal mehr die gefährliche Faszination für Zauberei spüren ließ. Es hatte etwas Künstlerisches, die Elemente umzuformen… doch riss es Dinge aus ihren angestammten Rahmen mit Folgen, die nicht abzusehen waren.
Das Schiff wurde langsamer. Irritiert blickten wir zum Segel, das noch immer gleichförmig den Wind auffing. Dann, abrupt, blieben wir stehen – ein Ruck ging durch das Schiff; der ältere Nicola Santoro wurde beinah umgeworfen.
Verdutzt blickten wir auf und sahen… der Nebel war dahin. Wir hatten freie Sicht und so traf uns der Anblick wie ein Hammer: wir waren nicht mehr auf Wasser, das Schiff hatte sich über eine große Eisfläche geschoben, die so weit und breit wir blicken konnten den Grund darstellte. Ein gewaltiges Gebiet, das an seinen Rändern wie aufgeworfen wirkte – als hätte man eine Welle eingefroren. Doch was einst Gischt gewesen sein mochte, ragte daraus wie Zacken empor. Ein undurchdringlicher Wall, der, wie wir erkennen konnten, bereits einem Dutzend Schiffen zum Verhängnis geworden war. Wie Treibholz hingen sie am Rand der Eisfläche, teilweise bereist selbst eingefroren und für alle Ewigkeit festgehalten. Erleichtertes Raunen ging durch die Mannschaft, im Angesicht des Schicksals anderer Seefahrer: wir hatten den einzigen Pfad hierher gefunden.
Doch die Augen von Miyako, Nicola, Ricardo und mir glitten über die leere Eisfläche hinweg zum Zentrum dieser kleinen Welt des Frosts: ein Gebilde erhob sich dort und er war von seltsamer Form. Die Basis wirkte wie eine Kuppel, auf der sich ein turmartiger Aufsatz befand. Verjüngend zog er sich gen Himmel hin, mit einer Verbreiterung kurz vor der Spitze, einem Kragen nicht unähnlich.
Wir zögerten nicht lange, machten unser nötigstes Gepäck bereit und gingen von Bord. Maglos blieb bei der Mannschaft zurück, welche sich bereits daran machte, einen Ausweg für das Schiff zu erkunden und wenn sie das Eis weghauen müssten, das sich derzeit unterhalb des Rumpfes befand.
Doch für uns gab es vorerst nur ein Ziel: den Turm in nicht ganz einer Meile Entfernung. Und darin… die Rose des Eises.