Der Meteor

Eine Cthulhu-Rollenspiel Geschichte (Spoiler für das Abenteuer: Das Grauen von den Sternen)

Mittwoch, 31. August 1932

Charles Brant, von seinen Freunden Chuck genannt, saß am Frühstückstisch während sein Kaffee kalt wurde. Seine Aufmerksamkeit wurde von einem großen Artikel auf der Titelseite des Arkham Advertiser verschlungen: Feuerball über Arkham!             
Was zunächst nach viel Effekt klang, was der Zeitung des doch eher kleinen Universitätsstädtchens zu höheren Verkaufszahlen verhelfen sollte, entpuppte sich als Anzeige eines Dozenten der Miscatonic University höchstselbst. Der Astronom Dr. Morris Billings schilderte die Sichtung eines großen Meteors, der über die Stadt hinweggezogen war. Es war von wunderschönen Grün- und Goldtönen in den Flammen die Rede, wobei Dr. Billings noch diverse Augenzeugenberichte miteinbezog, die er in einer scheinbar schlaflosen Nacht gesammelt hatte. Die Aufregung des Akademikers über mögliche Entdeckungen über das Weltall und seine Geschichte übertrug sich durch die Zeilen auf den jungen Gerichtsmediziner. Schließlich las er: Hilfe bei der Meteoritensuche erbeten. Möglichst viele Personen wurden benötigt, um eine planmäßige Suchaktion durchführen zu können – Kraftfahrzeuge waren dabei von besonderem Nutzen, um das von Arkham aus weit in nördlicher Richtung entfernte Gebiet schnell erreichen zu können.

Chuck legte die Zeitung zur Seite und lief hinüber zu seinem Telefon. Rasch wählte er die Nummer einer ihm bekannten Werkstatt und hatte sogleich den richtigen Mann am Apparat: „Jerry Duke bei Figgs Mechanics, was gibt’s?“
„Hi Jerry, Chuck hier. Hast du heute Morgen die Zeitung gelesen?“      
„Sicher.“             
„Auch den Artikel zum Meteoriten?“   
„Ja.“     
„Ich habe mir gedacht, dass das einigermaßen interessant werden dürfte, sich diese Sache anzuschauen – und dann natürlich auch an dich und dein wunderschönes Automobil …“               
„Habe ich gerade gestern fertig repariert. Aber gut, dass du anrufst, ich hatte ebenfalls vor, mir mal anzuhören, was dieser Dr. Billings noch zu erzählen hat.“          
„Ausgezeichnet.“

Nach dem Telefonat machte sich Chuck eilig auf den Weg ins Leichenschauhaus – es galt noch einige Laboranten zu koordinieren, die Haar- und Hautteile analysieren mussten, und sich mit den Kollegen über die Fehlzeit in den nächsten Tagen abzusprechen. Urlaub indes musste nicht beantragt werden – wenn die Miscatonic rief, war der Weg für Arkhams Bürger frei.       
Sobald die entsprechenden Angelegenheiten geklärt waren, was bis zum Mittag dauerte, traf sich Chuck mit Jerry, den er als Ersthelfer kennengelernt hatte, als es zu Jerrys Leidwesen ein anderer Verkehrsteilnehmer nicht so genau mit den Regeln genommen hatte. Der Mechaniker, Ende dreißig, holte den Gerichtsmediziner in seinem Automobil ab und sie fuhren direkt zum Institut für Astronomie der Miscatonic University. Das Büro von Dr. Billings war schnell gefunden, aber ein Aushang verwies auf ein allgemeines Treffen um 15 Uhr im Hörsaal S 111.

Zur Verblüffung der beiden Neugierigen war die Luft im Hörsaal bei ihrer Ankunft stickig und der Raum bereits gut gefüllt. Rund neunzig Menschen aus Arkham hatten sich zusammengefunden und wuselten durch den zum Sprecherpult abfallenden Hörsaal. Darunter waren auch einige bekannte Gesichter. Jerry winkte einem Mann mit südländischem Teint zu, den auch Chuck von einigen Abenden in Bars kannte, wo man unter der Hand Alkohol ausschenkte. Es handelte sich um Jacob Rodriguez, der als Pilot im Zivilbereich bereits einigen Reichtum gesammelt hatte und entsprechend geschmackvoll auftrat. Mit einem festen Händeschütteln begrüßten sich die drei Männer und gingen gleich weiter zu zwei weiteren Bekannten, die es sich bereits auf den Klappsitzen gemütlich gemacht hatte. Es handelte sich um Lara Davidson, eine junge Feldforscherin, die im Auftrag der Miscatonic University durch die Welt reiste und erst neulich aus Guatemala von der Erforschung alter Maya-Stätten zurückgekehrt war. Der Mann, der neben ihr saß, teilte in gewisser Weise ihre Berufung. Es war Charles Collins, der allerdings eher ein freigeistiger Abenteurer war und sich vor allem in Afrika aufhielt.
Lara und Charles kannten sich natürlich von diversen Veranstaltungen und Galen der verschiedenen Societies, die sich mit „primitiveren“ Kulturen auseinandersetzten – Chuck und Lara sich indes aus diversen Vorlesungen über den Tod aus medizinischer und kultureller Sicht. Die junge Frau forschte vor allem zu den Vorstellungen der Maya über das Jenseits, während Chuck sich natürlich beruflich interessierte, aber noch eine allgemeine und tiefergehende Faszination für den Tod und das Tote mit sich trug.

Um sich herum hörten die fünf allerlei Spekulationen über den Meteor. Die meisten hatten ihn nicht gesehen, da er nachts um 1.30 über Arkham hinweggeschossen war, aber diejenigen, die etwas gesehen hatten, berichteten umso mehr. Der schillernde Schweif des Kometen wurde in höchstpoetischen Tönen beschrieben, was sich noch mit Dr. Billings Anzeige deckte – darüber hinaus gab es jedoch allerlei Spekulationen, insbesondere in Anbetracht möglicher Passagiere, die auf dem Steinbrocken mitgereist sein konnten. Auf Nachfrage beteuerte ein Biologe natürlich, dass er damit nur kleinste Bakterien meinte. Natürlich.

Es dauerte nicht mehr lange und durch eine Tür am Ende des Hörsaals trat ein kleiner, junger Mann ein. In einem schicken, aber etwas zu weiten Anzug schob er sich ans Pult und rief mit hoher Stimme: „Ich bitte – ich bitte um Ruhe!“             
In den ersten Reihen schoben sich die Menschen in die engen Sitzreihen und setzten sich auf die Klappsitze, für die letzteren brauchte es noch ein, zwei weitere Zurufe des jungen Doktors. Schließlich hatte er es geschafft, dass die Gespräche im Saal verstummt waren und schob sich mit einem erleichterten Seufzer die vor Aufregung herabgerutschte Brille wieder nach oben.             
„Ich freue mich“, begann er in seiner Fistelstimme. „Dass Sie es alle einrichten konnten! Ich bin Dr. Morris Billings und nehmen an, ähm, hoffe, dass Sie auch alle wegen des Meteors gekommen sind?“
Stille. Ein Hüsteln.          
„Äh, ja, das werte ich als ‚Ja‘. Ausgezeichnet. Nun, Sie müssen zunächst wissen, dass ein solcher Gesteinsbrocken, ein so genannter Bolide …“

Der werte Doktor ließ es sich nicht nehmen, einige Klassifikationstypen und ihre Spezifika darzulegen, ehe er vom Allgemeinen zum Speziellen überging, schließlich präsentierte er auch einige ältere Fundstücke, die allesamt höchstens faustgroß waren. Er erklärte, dass man bei einem Meteoriten nicht zwangsläufig hoffen konnte, ein Stück zu finden, das nicht vollkommen verglüht oder in unerkenntlich kleine Splitter zersprungen war – als Brocken wiederum sei er an sich nicht auf Anhieb von einem gewöhnlichen Stein zu unterscheiden, was wiederum durch die Schmelzschicht ermöglicht werde, die dem Meteoriten signifikant nach seinem Eintritt in die Atmosphäre zu eigen sei. Sollte es gelingen einen solchen zu finden, so würde der Fels aus dem All der Wissenschaft enorm weiterhelfen und Ruhm für seine Finder bedeuten. Im Saal beugten sich die Menschen nun wieder vermehrte nach vorn und musterten den kleinen Doktor.                
„So also wollen wir nun vorgehen! Wir haben, also, Sie sehen das hier“, erklärte er und hielt eine viel zu kleine Karte hoch, als dass jemand etwas erkennen konnte. „Das Suchgebiet, welches nördlich von Arkham liegt, in Quadranten eingeteilt. Denn die Absturzstelle kann sich in einem Bereich von potenziell zwanzig auf zwanzig Quadratmeilen befinden, das wäre für ein einziges Team ein viel zu großer Bereich. Daher also die Aufteilung … äh – ich würde Sie nun alle bitten, sich in Gruppen zusammenzufinden, damit meine Kollegen und ich Ihnen einen Quadranten zuteilen können. Suchen sie sich bitte jeweils eine Person dazu, die über ein Kfz verfügt, um den Quadranten möglichst rasch zu erreichen. Selbst mit einem Automobil mag es noch drei Tage dauern, bis sie in diesen entlegenen Teil Massachusetts kommen, zu Fuß also gänzlich undenkbar! Jede Stunde kann verheerende Verluste für die potenziellen wissenschaftlichen Fundergebnisse bedeuten!“

Sofort waren die Bürgerinnen und Bürger Arkhams auf den Beinen und suchten sich bekannte Gesichter oder Personen, die nützlich erschienen – im besten Falle beides vereint – um eine Gruppe zu bilden. Dr. Billings ging kurz darauf durch die Menge und teilte einer jeden Versammlung einen festen Suchquadranten im Gebiet nördlich von Arkahm zu, wo der Meteorit den Berechnungen der Astronomen nach, eingeschlagen sein mochte.         
So kam er auch zu der fünfköpfigen Truppe bestehend aus Chuck, Jerry, Jacob, Lara und Charles. Der Doktor übergab ihnen eine Karte, auf der der Quadrant markiert war, den sie absuchen sollten. Genau kartographiert im eigentlichen Sinne war das Gebiet jedoch kaum. Man konnte allenfalls an dem Papier ablesen, dass es dort keinerlei Siedlungen gab, höchstens ein paar Bauernhöfe und selbst das war Schätzung. Die Landschaft musste zudem, mochte man die verwaschenen und ungenauen Grünschattierungen so interpretieren, dicht bewaldet und zum Teil von unzugänglichen Mooren durchzogen sein. Zudem mahnte Dr. Billings noch einmal ausdrücklich: „Die Straßen in diesem Landstrich sind leider nicht ansatzweise mit denen Arkhams oder des direkten Umlands zu vergleichen. Es sind nun … ähm, eher …“   
„Feldwege. Acker, über die ein paar Ochsenkarren drübergefahren sind und die deswegen Straßen heißen“, gab Jerry eine recht präzise Beschreibung und Dr. Billings nickte geflissentlich, ehe er sich noch versichern ließ, dass wir ein Automobil zur Verfügung hatten. Dann huschte er zur nächsten Gruppe.

Die fünf verließen gemeinsam den Hörsaal und berieten sich, was es auf dieser kleinen Expedition mitzunehmen galt. Für Chuck war es zunächst sogar notwendig, sich angemessenere Kleidung zu besorgen, darüber hinaus wollte er seinen Arztkoffer noch einmal etwas auffrischen. Jerry überlegte, welche Werkzeuge er alles brauchte und wie er sie geschickt in sein Automobil einräumen konnte. Indes war es vor allem an Charles und Lara, sich Überlegungen über eine möglichst punktgenaue Kartographierung des Fundorts zu machen und zugleich Handwerkszeug mitzudenken, das einem den Weg dorthin erleichterte: Schaufel, Axt, Säge, sogar eine Machete für den Fall der Fälle. Auch an Waffen sollte es nicht mangeln. Nahm der Gerichtsmediziner Chuck noch nur eine Pistole mit, so war Jerry gleich mit einem ganzen Arsenal zur Stelle – und Jacob sollte es lange nicht erwähnen, aber doch schließlich im Geheimen, eine kleine, runde Kugel im Automobil platzieren.         
Neben dem Speziellen gab es auch Allgemeinposten wie Verpflegung, die sie abdeckten. So verging der Rest des ohnehin nur noch kurzen Tages mit Einkäufen und dem Bepacken von Jerrys Wagen.

Donnerstag, 1. September 1932

Am nächsten Morgen sammelte Jerry Duke seine vier Passagiere ein und bog auf die noch große Straße in Richtung Norden ein. Auf der asphaltierten Strecke lief sein Automobil sauber und rund und brachte die Gruppe gut voran. Lara nahm vorne neben Jerry Platz, während sich Charles, Chuck und Jacob hinten ballten, was insbesondere dem größten von ihnen, dem Gerichtsmediziner, etwas Unannehmlichkeiten bereitete.              
Alle Platzproblematik war jedoch vergessen, als sie nach bald von Asphalt auf festgefahrene Erde und von festgefahrener Erde auf lockeren Boden fuhren. Aus dem auf und nieder hüpfenden Wagen konnten sie, bei zunehmenden Rücken- und Nackenschmerzen, beobachten, wie Arkham hinter ihnen kleiner und die Umgebung ländlicher wurde. Das Land rund um die Universitätsstadt war dünn besiedelt, es roch nach Acker und Kuhmist und die vereinzelt eingestreuten Häuser waren mit einfachen Holzschindeln gedeckt.

Den dichten Geruch spätsommerlicher Feldluft vertrieb der gen Mittag einsetzende Regen – damit jedoch auch sämtliche Hoffnung auf annehmbare Straßenverhältnisse. Jerry kannte sein Auto glücklicherweise gut und lenkte es sicher durch den Matsch.              
Neben den bewohnten Häusern gab es jedoch auch lang verlassene. Noch aus Bürgerkriegszeiten standen hier Ruinen von Bauernhöfen, die dereinst aus mangelnder Wirtschaftlichkeit aufgegeben wurden – oder, allzu oft, da die Söhne aus dem Krieg mit dem Süden nicht mehr heimgekommen waren, um die Alten zu pflegen und die Höfe zu übernehmen.

Trotz der Straßenverhältnisse kamen sie gut voran, sodass Jerry am frühen Abend halt an einem beleuchteten Bauernhof machte. Er fuhr das Automobil vor die große beistehende Scheune, hupte einmal und stieg aus. Die anderen vier folgten ihm sogleich und blickten zu dem Haus hinüber, auf dessen Veranda jedoch niemand saß und keiner auf das Hupen reagierte.          
Chuck ging voran und klopfte an die Eingangstür, die anderen folgten ihm. Es dauerte nicht lange, da öffnete eine etwas ältere Frau die Tür vorsichtig und lugte heraus.               
„Hallo?“              
„Guten Abend, wir sind Durchreisende aus Arkham. Wir wollten fragen, da es doch ordentlich gießt, ob wir nicht kurz hereinkommen könnten, um uns zu wärmen. Zudem, falls möglich, würden wir gerne Quartier in der Scheune machen, falls möglich. Wir können auch gerne ein bisschen was für den Aufwand dalassen.“    
Die Frau sah Chuck mit großen Augen an, der just in diesem Moment merkte, wie seine Bostoner Direktheit durchgeschlagen war. Verlegen räusperte er sich und hielt der Anwohnerin seine große Hand entgegen. „Ich bin Charles Brant!“                
„Agnes“, sagte die Frau leise und schüttelte sacht die Hand des Gerichtsmediziners. „Ähm, kommt doch rein und werdet erstmal trocken. Ich rufe meinen Mann. Ach, und seid so lieb und zieht die Schuhe aus.“         
„Agnes?“, fragte Chuck. „Habt ihr deutsche Ahnen?“  
„Ja“, antwortete sie verblüfft. „Woher wissen Sie das?“            
„Ach, nur so eine Eingebung.“
Die fünf Gäste traten ein und zogen brav die Schuhe aus, während Agnes nach ihrem Mann rief: „Sydney!“  
„Kein Deutscher“, murmelte ich leise, was Lara dennoch hörte und trocken kommentierte: „Australier.“

Agnes bat das kleine „Expeditionsteam“ der Miscatonic University in die Küche und machte ihnen etwas Kaffee zu dem es Milch, aber zu Jacobs Leidwesen leider keinen Zucker gab. Charles Collins übernahm es indes, die Frau nach der Meteoritennacht vom 30. auf den 31. August zu befragen. Mitbekommen hatte sie jedoch nichts, auch der Arkham Advertiser war noch nicht bis hierhin ausgetragen worden. Umso neugieriger blickte sie auf den Zeitungsartikel, den wir mitgenommen hatten – zog sich jedoch zurück als der Herr des Hauses eintrat.            
„Sydney Cooper“, stellte er sich vor. „Was treibt euch her? Seht wie Städter aus.“       
„Wir kommen aus Arkham und sind für die Miscatonic University in der Gegend unterwegs“, erklärte Charles.             
„Akademiker? So, so.“
„Wir wollten auch fragen, ob noch Platz in der Scheune für eine Übernachtung frei wäre?“     
„Da müsstet ihr Camilla fragen“, meinte der Bauer und verschränkte die Arme. Verdutzt sahen sich die fünf an, ehe Sydney grinste. „Ist die Kuh, die wohnt im Stall. Aber Platz ist für euch sicher auch noch, wenn euch der Geruch nix ausmacht.“                
 „Das passt schon“, wiegelte Jacob ab, die anderen nickten zustimmend. „Was können wir Ihnen als Gegenleistung anbieten?“        
Der Mann dachte einen Moment lang nach, dann fiel ihm etwas ein: „Mein Ochsenkarren hat einen Schaden. Ich weiß nicht, ob ihr was davon versteht, aber da könnte ich Hilfe gebrauchen.“            
„Ich kann mir das mal anschauen“, erklärte Jerry, was Sydney mit einem erfreuten, zahnlückigen Lächeln zur Kenntnis nahm.  
„Haben Sie etwas von dem Meteoriten mitbekommen, vorletzte Nacht?“, fragte Charles nach.           
„Von dem was?“            
„Ein großer Feuerball, ist mitten in der Nacht durch die Luft geflogen“, erklärte der Abenteurer und schob Sydney den Artikel hin. Der blickte schräg drauf und nickte übertrieben mit dem Kopf. „Achso, so ein Sternendings. Ne, da haben wir nix mitbekommen. Fest geschlafen haben wir da.“       
„Schade“, sagte Charles und packte den Artikel wieder ein.     
„Aber von so Sternengeschichten, so Astro-… astro-…“              
„Astrologie?“, meinte Chuck scherzhaft – und bereute es sogleich.      
„Ja, genau! Von so Astrologie hat meine Frau viel Ahnung! Also wie die Planeten und Sterne stehen und was das für uns hier bedeutet. Die hat früher immer mal Karten gelegt. Agnes!“           
Die Frau, die sich bis zu diesem Moment eine Beschäftigung im Hintergrund gesucht hatte, kam herbei und blickte ihren Mann an: „Ja, Schatz?“                
„Früher, da hast du doch so Karten gelegt, nicht wahr?“            
„Ach das …“      
„Machen Sie das immer noch?“, fragte Lara und lehnte sich neugierig vor.       
„Nein, nein“, wiegelte sie ab, erklärte aber: „Wem sollte ich sie auch legen? Meinem Mann, jeden Tag aufs Neue?“  
„Sie könnten mir die Karten legen“, bot sich die Feldforscherin an, was ihre männlichen Begleiter zur Herausforderung trieb, ein belustigtes Glucksen zu unterdrücken.           
Agnes überlegte, dann wackelte sie mit dem Kopf und antwortete: „Nicht mehr heute Abend. Die Karten habe ich ewig nicht mehr in der Hand gehabt, ich muss sie erst einmal suchen. Aber morgen früh kann ich sie Ihnen gerne legen.“  
„Das klingt doch gut“, stimmte Lara mit einem Lächeln zu.         

Damit kamen die fünf zunächst ans Ende des beiläufigen Gesprächs und zogen sich auch angesichts ihrer schmerzenden Rücken in die Scheune zurück. Sydney zeigte ihnen ein paar Plätze, wo sie Schlafsäcke hinlegen oder Feldbetten aufstellen konnten, ohne die Tiere zu stören. Danach wünschten sich alle gegenseitig eine gute Nacht – die zwar tiefschlafend vergehen sollte, in der jedoch zumindest die Städter lernten, dass einen großen Unterschied machte, ob man in einer Scheune oder im heimischen Bett schlief.

Freitag, 2. September 1932

Am Morgen des nächsten Tages besah sich der Mechaniker Jerry Duke den Ochsenwagen der Coopers, verzog jedoch angesichts des Schadens missgelaunt das Gesicht. Wenig später am Frühstückstisch redete er nicht lange drumherum, mit dem Werkzeug, das er dabei hatte, ließ sich nichts machen – immerhin konnte er ihm in Aussicht stellen, dass er den Auftrag nach der Rückkehr nach Arkham in Angriff nehmen könnte. Als Entschädigung für die Bauern ließen die fünf etwas Geld da. Doch bevor sie aufbrechen konnten, wurde es für Lara Zeit, die Karten gelegt zu bekommen.

Agnes Cooper bat sie an einen kleinen Tisch, an den sie zwei speckige Ledersessel geschoben hatte, und mischte zunächst das Kartendeck.             
„Bedenke, Lara Davidson, dass der Blick auf die Zukunft trügerisch sein kann! Die Karten sagen viel und gleichzeitig wenig!“, sagte die schon etwas ältere Bauersfrau mit allem Pathos, das sie aufzubringen vermochte. Dann legte sie den Stapel auf Tisch, nahe an den Rand und nahm die obersten sieben Karten ab. Sie hielt sie fest und führte sie, die Bilder nach unten, in kreisenden Bewegungen über den Tisch. Ein unverständliches Gemurmel lag auf ihren Lippen – dann setzte sie die sieben etwas rechts der Mitte der Holzplatte ab und fächerte sie in einer Halbkreisbewegung auf. Sie blickte Lara nun fest in die Augen, die den Blick ihrerseits erwiderte, nachdem sie bis gerade eben auf die Handbewegungen geachtet hatte. Während dieses intensiven Kontakts schwebte Agnes‘ Hand über die Tarotkarten hinweg – bis Lara blinzelte. Die Bauersfrau griff zu und drehte die Karte, die zu diesem Zeitpunkt unter ihrer Hand lag, um.    
Das Bild zeigte Justitia mit Waage und Schwert sowie verbundenen Augen. Aber auch mit entblößter Brust und vor rotem Hintergrund mit Rosen in den Ecken. Lara biss sich auf die Lippen.        
„Die Gerechtigkeit!“, sagte Agnes. „Eine Karte, die für die Liebe und die Sinnlichkeit steht!“   
Chuck entkam ein leises Hüsteln, das die Kartenlegerin glücklicherweise in ihrem Sinne interpretierte: „Ja, die Karten sind trügerisch und nicht direkt verständlich. Die Gerechtigkeit steht für die Liebe und … nun, was so dazu gehört. Eine gute Karte, auch wenn man sie auch als Mahnung gegenüber allzu unzüchtigen Umtrieben deuten kann. Ich wünsche Ihnen ein glückliches Leben, Frau Davidson.“
„Ich danke Ihnen, Frau Cooper“, sagte Lara und schüttelte Agnes zum Abschied die Hand. Dann verabschiedeten sich auch die anderen vier und der kleine Suchtrupp brach wieder auf.

Gen Mittag, als bereits die halbe Strecke zum Suchquadranten geschafft war, beschlossen die fünf, immer mal wieder bei den ohnehin nur noch in stündlichen Abständen auftauchenden Bauernhöfen anzuhalten und wegen dem Meteoriten nachzufragen. Je mehr die Anwohner mitbekommen hatten, desto heißer wurde die Spur – und umso größer die Hoffnung, dass sie den entscheidenden Quadranten erwischt hatten.

Bald kam der erste Bauernhof in Sicht. Sie fuhren vor und Jerry hupte zur Begrüßung. Auf der Veranda vor dem Haus saß ein junger Mann, der sogleich aufsprang und durch die Tür verschwand. Weniger später kam ein älterer Herr heraus und blickte schief in die Runde der fünf mittlerweile ausgestiegenen Städter.         
„Was wollt ihr?“              
„Wir wollten fragen, ob Sie etwas von dem Meteoriten mitbekommen haben, der in der Nacht auf vorgestern über Massachusetts geflogen ist.“   
„Der gefallene Stern? Hm, nachts haben wir ein bisschen Licht gesehen, aber nichts weiter. Aber mein Nachbar, vom nächsten Hof, der hat bisschen mehr erzählt. War wohl noch nachts wach gewesen.“                
„Wie weit ist es bis zu dem Hof?“           
„Eine halbe Meile.“       

Sie verabschiedeten sich wieder und fuhren die kurze Strecke, um bei besagtem Nachbarn anzuhalten. Der wusste in der Tat mehr, er glaubte sogar, den Meteoriten niedergehen gesehen zu haben. Das solle in nordwestlicher Richtung passiert sein, wobei Lara das wilde Gefuchtel des Mannes in die Himmelsrichtung mittels eines Kompasses tatsächlich als Nordwesten bestätigen konnte. Die fünf nahmen noch eine kurze auf einem kleinen Gaskocher erwärmte Mahlzeit ein, dann fuhren sie weiter – erst am Abend tauchte wieder ein bewohnter Bauernhof vor ihnen auf.      
Jerry fuhr den Wagen wie gewohnt auf das Gelände, hupte und die Reisegruppe stieg aus. Dieses Mal kam niemand an die Tür und Jacob übernahm es, vorzugehen und anzuklopfen. Es verging eine Minute, dann klopfte Jacob erneut und schließlich wurde die Tür geöffnet. Im Hausflur stand ein breitschultriger Mann mit dunklem Haar und Bart, das nicht in sonderlicher Ordnung gehalten war. Aus zusammengekniffenen Augen blickte er den Nachfahren kolumbianischer Einwanderer an.             
„Was wollt ihr?“              
„Wir sind Durchreisende aus Arkham, unterwegs für die Miscatonic-University“, begann Jacob.           
„Und was interessiert mich das? Warum steht euer Wagen da?“           
„Wir wollten Sie fragen, ob wir bei Ihnen für die Nacht unterkommen könnten. Dieses Regenwetter lädt nicht gerade zum Camping im Freien ein.“             
„Ne, wir haben keinen Platz.“  
„Sicher? Da ist doch noch eine Scheune und davor war noch eine kleinere Hütte …“    
„Nein“, wiederholte der Mann barsch. Chuck legte Jacob die Hand auf die Schulter und wollte schon den Rückzug signalisieren, da holte der Pilot – ohne den Blickkontakt mit dem Bauern abreißen zu lassen – sein Portemonnaie hervor und daraus einen zehn Dollarschein. Eine gute Menge Geld.
„Und?“, fragte Jacob.   
Der Bauer blickte grimmig auf den Geldschein, dann trat er aus der Tür. „Kommt rein.“             
Jacob schob ihm im Vorbeigehen die zehn Dollar zu, danach führte der Hausherr seine Gäste in ein Nebenzimmer der Küche. Dort brachte ihnen die scheinbare Hausherrin etwas Suppe und Brot, das die fünf rasch verzehrt hatten. Zu dem Meteoriten konnten oder wollten weder Frau noch Mann viel sagen. Schließlich übernahm es der Hausherr kurz nach dem Essen, die fünf zu der verfallenen Hütte zu führen, die Jacob bereits ins Auge gefallen war. Die Familie nutzte sie nur noch als Brennholzlager, was immerhin bedeutete, dass sie trocken war. Doch bald nachdem es dunkel wurde und die geduldeten Gäste zu schlafen versuchten, machte sich der Wind bemerkbar, der durch die Löcher und Ritzen pfiff. Zu dem Heulen des Windes gesellte sich eine ungewöhnliche Kühle dieser Spätsommernacht, sodass der Schlaf, den man fand, ein unruhiger bleiben musste.

Während Chuck und auch Charles unruhig auf ihren Schlafstätten lagen, nicht wach, aber auch nicht wirklich schlafend, geriet ein Knarren ans Ohr der übrigen drei. Jacob hob den Kopf, Lara sah auf die Uhr: Es war ein Uhr in der Nacht. Jerry griff nach der Schrotflinte, die er neben seinen Schlafsack gelegt hatte. Ein weiteres Geräusch folgte. Es klang wie ein Wehklagen, doch war kaum zu sagen, ob es das Schreien eines Kindes oder das Ächzen eines Alten war. Oder ob es menschlich war.             
Die drei standen, noch schweigend, auf und schlüpften in ihre Stiefel. „Es kommt von der Scheune“, stellte Jacob fest. Jerry lud seine Schrotflinte. „Lasst uns nachsehen.“     
Die drei traten aus der zerfallenen Hütte und schlichen auf die Scheune zu – die Tür stand einen Spalt breit offen und zeigte, dass der Innenraum erhellt war. Die drei näherten sich und erhielten einen Einblick in das Geschehen in der Scheune. Der Bauer stand dort, mit einem Gewehr in der Hand, vor ihm saß seine Frau bei einem jungen Kuhkalb – das Tier wimmerte und stöhnte, wobei es verdrehte Geräusche ausstieß, denn es winselte nicht aus einem, sondern aus zwei Mündern. Die Kreatur war mit zwei Köpfen geboren.  
Jacob entwich ein Schrei – der Bauer war sofort alarmiert und wirbelte herum. Mit der Flinte im Anschlag lief er aus der Scheune und rief: „Wer ist da?“              
Jerry erhob sich, gleichermaßen die Schrotflinte erhoben. „Wir sind es.“           
„Was treibt ihr hier im Dunkeln?“           
„Wir wollten wissen, was vor sich geht – wir haben Geräusche gehört. Dachten, vielleicht treibt sich hier jemand rum, der hier nichts zu suchen hat. Oder, dass Sie vielleicht Hilfe brauchen.“      
Die Augen des Bauern verengten sich zu schmalen Schlitzen und er musterte die drei. Er senkte allerdings die Flinte, was ihm der Arkhamer Mechaniker gleichtat.           
„Ich brauche keine Hilfe. Geht jetzt wieder schlafen.“ 
„Was ist mit dem Kalb?“, wollte Jacob noch wissen.      
„Es … geht ihm nicht gut. Ist erst vorgestern  geboren worden. Ich kümmere mich jetzt darum, geht schlafen.“

Jetzt diskutieren die drei nicht mehr lange und zogen sich zurück. Wenig später endete das Wehklagen, dann knarrte noch ein letztes Mal in dieser Nacht das Scheunentor und es wurde still.

Samstag, 3. September 1932

Das Frühstück bestand aus etwas Beef Jerky und Schweigen, dann brachen die fünf auf. Jerry lenkte das Automobil auf den längsgezogenen, unbestellten Acker, der hier als Straße bezeichnet wurde und Lara klärte die Namensvettern Chuck und Charles über die Sichtung der letzten Nacht auf. Dabei führte sie das eine mit dem anderen zusammen: „Das Tier ist in der Nacht geboren worden, in der der Meteorit über Massachusetts gezogen ist.“     
Doch Chuck winkte sofort ab. „Dizephalie; das kann häufiger vorkommen, als man denken würde. Wahrscheinlich hierorts noch begünstigt durch eine isolierte Züchtung.“             
„Das kommt öfter vor?“, fragte Lara verdutzt.
„Relativ gesehen, ja. Wir hatten einmal ein Exemplar, da habe ich noch in Boston studiert, bevor ich an die Miscatonic gewechselt bin. Ein Kalb, früh gestorben. Aber es war immer noch ein schönerer Anblick als die Kuh, die man als Moorfund herangekarrt hat, damit wir die Folgen einer solchen ‚Lagerung‘ begutachten konnten …“       
„Danke, Chuck, ich glaube das war alles, was wir wissen wollten“, wiegelte Jerry von vorne ab.             
„Ich bin neugierig geworden“, widersprach Charles. „Wie sah das Tier aus?“    
„Nun, es war schrecklich aufgebläht und seine Haut dunkel verfärbt. Wir haben es aufgeschnitten und die Lunge entnommen. Sie war mit Moorwasser gefüllt und dazu hatte eine ganz eigene Gas- und Geruchsentwicklung stattgefunden …“          
„In Ordnung, ich denke dann doch auch, das reicht“, beeilte sich der Abenteurer den Redefluss des begeisterten Gerichtsmediziners zu unterbrechen.

Kurz nach dem Bauernhof führte die „Straße“ weiter in einen großen, dichten Wald. Die Bäume hier waren alt, ihr Bestand wurde von keinem Förster kontrolliert – die einzige Spur der Zivilisation war die Schneise, der die fünf gerade folgten. Damit schienen sie seit einiger Zeit die ersten zu sein und stießen auf einen großen, umgestürzten Stamm, der den Weg blockierte. Jerry hatte für solche Fälle jedoch bereits vorgesorgt und eine Winde mitgenommen. In Windeseile setzte er die Seile an der Krone an und bald war der Baum soweit zur Seite gezogen, dass das Automobil vorbeifahren konnte.

Der Weg führte noch Stunden weiter durch den urwüchsigen Wald. Links und rechts der Straße konnte man immer wieder sumpfige Stellen ausmachen, auf deren wässrigen Oberflächen grüne, zuweilen tote Pflanzen schwammen – manche Stellen wirkten beinah wie Mangroven. Zudem kroch ein miefiger Gestank von Verfall in den Wagen. Auf einmal hielt Jerry den Wagen an. Verdutzt fragte Chuck von der Rückbank: „Was ist los?“            
„Seht mal nach rechts, da zweigt ein Weg ab.“                
Nachdem der Mechaniker sie aufmerksam gemacht hatte, erkannten auch sie den sich unauffällig tiefer in den Wald hineinschlängelnden Pfad. Der Wagen würde gerade so dort entlangfahren können, ohne beständig an Ästen zu schrammen. Nichtsdestotrotz waren im Schlamm tiefe Rillen zu sehen, die auf eine Nutzung hinwiesen.         
„Wer fährt denn hier entlang? Wer kommt da überhaupt entlang?“, fragte Charles verdutzt.
„Mit einem Auto wird es schwierig“, schätzte Jerry den Weg ab. „Das würde ein Kampf werden. Wahrscheinlich ein Ochsenkarren, da sind auch ein paar tiefere Abdrücke.“            
„Wollen wir uns den Weg mal ansehen?“, fragte Jacob.             
„Nicht, wenn es sich nicht irgendwie vermeiden lässt“, brummte Jerry.

So fuhren sie zunächst weiter, bis sie die Straße einen Hügel hinaufführte. Die dichte Bewaldung ließ hier nach, sodass die kleine Expeditionsgruppe die Chance nutzte, um sich einen Überblick zu verschaffen. Hoffnungsvoll suchten sie den Wald mit den Augen ab, doch falls der Meteorit hier eingeschlagen war, so hatte er nicht die Wucht gehabt, einen merklichen Krater zu reißen.            
Es war Chuck, dem dennoch eine seltsame Lücke auffiel, wo er vermeinte eigentümliche Verfärbungen an den Wipfeln der umstehenden Bäume ausmachen zu können. Er wies die anderen darauf hin und gemeinsam wogen sie unsicher ab, ob das tatsächlich mit dem Meteoriten zusammenhängen konnte. Es schien alles andere als sicher zu sein, allerdings bewies ein Blick auf die Karte, dass sie ihren Quadranten bereits erreicht hatten – sogar kurz davor waren, ihn zu verlassen, wenn sie der Straße weiter folgten.  
„Der Weg, den wir vorhin gesehen haben, er könnte dorthin führen“, überlegte Jerry.                             
„Wollen wir das versuchen? Schafft dein Wagen das?“, fragte Chuck.
„Uns bleibt ja nicht viel, einen direkteren Weg scheint es nicht zu geben“, meinte Jacob mit Blick auf den sich nahezu endlos vor ihnen erstreckenden, sumpfigen Wald.       
„Muss gehen“, sagte Jerry und seufzte. Damit stiegen die fünf wieder in den Wagen und fuhren die Strecke zurück, bis sie die Abzweigung erreichten. Ihr Fahrer verzog noch einmal das Gesicht, dann lenkte er das Automobil in die Schlammstrecke und fuhr so langsam wie möglich, aber so schnell wie nötig hindurch. Er blieb dabei in den Rillen, die ein Ochsenkarren nach einigen Fahrten hinterlassen hatte, was angesichts des rutschigen Untergrunds eine Geschicklichkeitsprobe darstellte. Beständig musste er dabei zwischen ersten und zweiten Gang wechseln, wobei die Kupplung jedes Mal stärker aufbegehrte. Nach den ersten hundert Metern kamen sie immer wieder zum kurzen Stillstand im Schlamm, aus dem sich der Wagen nur mit großem Aufheulen befreien konnte.

Schließlich ruckelte und röhrte er noch ein letztes Mal, dann ging das Motorengeräusch in ein trauriges Gluckern über. Mit dem letzten Schwung rollte der Wagen aus dem schlammigen Feld auf ein ebenes, trockenes Stück kleiner Wiese zwischen den Bäumen. Fünfzig Meter entfernt stand ein kleines Häuschen.

„Kriegst du den Wagen wieder hin?“, fragte Chuck besorgt. Jerry winkte ab: „Das werde ich schon noch schaffen, kümmere ich mich aber drum, wenn es soweit ist.“           
Dann stiegen die fünf aus und näherten sich dem Einsiedlerhaus. Die Tür ging bereits auf und ein junger Mann, Anfang bis Mitte zwanzig, näherte sich ihnen. Obwohl er noch abgelegener wohnte als die letzten Bauern, die sie getroffen hatten, machte er einen ordentlichen Eindruck und kam den Arkhamer Durchreisenden mit einem freundlichen Lächeln entgegen.                
„Guten Tag! Was treibt Sie hier in den Wald?“, rief er.
„Guten Tag, wir kommen aus Arkham. Wir suchen den Meteoriten, der hier in der Nähe heruntergekommen sein könnte“, erklärte Jacob.
„Den Meteoriten?“       
„Vielleicht haben sie vor ein paar Nächten diesen hellen Schein gesehen?“     
„Oh ja! Und es hat einen großen Knall gegeben“, erinnerte der junge Mann sich. „Levi Stone, übrigens.“        
Die fünf stellten sich dem Mann der Reihe nach vor und drückten ihm die Hand, dann winkte er sie schon in die Hütte mit der Aussicht auf eine gemeinsame Mahlzeit. Seine Aussage ließ die Hoffnung in dem Suchtrupp aufflackern. Es schien, als könnten sie mit ihrem Quadranten Glück haben.           
„Haben Sie schon nach dem Meteoriten gesucht?“, fragte Jacob nach.              
„Nein, nein. Das war zwar schon spektakulär, aber bis ich alleine das gesamte Gebiet durchkämmt hätte …“  
„Könnten Sie sich vorstellen, uns zu führen? Das Gelände ist ja einigermaßen schwierig“, hakte Lara nach. „Wir würden Sie natürlich für den Aufwand entschädigen.“        
Der junge Mann dachte einen Moment nach, dann nickte. „Das klingt nach einer spannenden Geschichte. Ich helfe gerne.“                

Im Haus trafen die fünf, nun um einen ortskundigen Führer reicher, auf Levi‘ Frau Hannah, ungefähr in seinem Alter und den gemeinsamen Sohn Ezekiel. Der war bereits zehn, musste also schon sehr früh in der Ehe der beiden geboren worden sein. Chuck überlegte, nachzufragen, hielt es aber für taktlos, den ländlichen Bewohnern ihre gegenüber den Städtern gebundenere Lebensweise vorzuhalten.           
Wie Charles bemerkte, schaute der Junge nicht schlecht, als die fünf Fremden eintraten – insbesondere hatte er einen Blick für die Waffen, die bei dem einen oder der anderen doch deutlich sichtbar am Gürtel hingen, wie Laras Silber schimmernder Revolver.

Levi bat seine Frau, etwas mehr für das Abendessen zu kochen, was sie mit einem eifrigen Nicken bestätigte und sich sogleich an die Arbeit für einen großen Eintopf machte. Während Jerry, Charles und Lara sich mit Mr. Stone über das Gelände austauschten, vor allem über die zum Teil absolut unzugänglichen Moore, kam Jacob mit dem jungen Ezekiel ins Gespräch.          
„Hallo, was machst du denn da?“                           
Der Junge hielt zur Antwort ein Stück Holz hoch, an dem er gerade herumgeschnitzt hatte. Es konnte noch ein Pferd werden oder ein Ochse.             
„Schön! Bringt dein Vater dir das Schnitzen bei?“           
Ezekiel nickte und wie zur Untermalung setzte er einen besonders groben Schnitzer an.          
„Habt ihr ab und an Besuch, so ganz allein im Wald?“   
Der Junge schüttelte den Kopf.              
„Das ist gut. Gibt ja auch böse Menschen. Kriminelle.“                
„Hier nicht“, stellte Ezekiel fest.              
„Gibt ja auch nicht viel zu holen hier“, warf Levi lachend ein.    
„Naja, Ihren Sohn gibt es“, meinte Jacob. Lara verschluckte sich prompt an einem Schluck Tee, der ihr von Levi gereicht worden war,  und die Augenbrauen der anderen gingen nach oben. Jacob schob hastig hinterher: „Nicht, dass ich an sowas denken würde, aber es gibt ja Leute, die …“     
„Lass gut sein, Jacob“, meinte Jerry mit einem schiefen Grinsen.

Nach dem Abendessen beschlossen die fünf früh schlafen zu gehen. Insbesondere der letzte Teil der Anfahrt war eine Qual für sämtliche Wirbeln gewesen und da sie planten, den gesamten nächsten Tag die morastige Umgebung abzusuchen, mussten sie sich erholen. Chuck, Charles und Lara suchten sich Schlafplätze im Keller, Jerry und Jacob fanden noch etwas Raum für sich im Erdgeschoss. Erwartungsgemäß schliefen sie alle fünf rasch ein.

Sonntag, 4. September 1932

Am nächsten Morgen standen sie früh auf und packten nach einem kleinen Frühstück ihr Gepäck. Es galt auf einiges vorbereitet zu sein, insbesondere auf unwegsames Gelände. Sobald Klappschaufeln und Handbeile, Erste-Hilfe-Ausstattung und Waffen, Orientierungshilfen und Nahrung verstaut waren, brachen sie auf. Levi Stone setzte sich verständlicherweise an die Spitze und empfahl zunächst eine nördliche Richtung einzuschlagen – von seinem Haus aus schätzten die Meteoritensucher, dass er Fremdkörper aus dem All insgesamt in nordwestlicher Richtung liegen musste.                
Dank Levi‘ Route konnten sie bei ihrer Suche die unzugänglichsten Moorgebiete umgehen. Ziel war es, sich zunächst einen Überblick über den Suchquadranten zu verschaffen.

Obgleich die Reisegruppe die tiefen Moore umgingen, deren Wasser bis zu den Hüften reichen würden, kamen sie alles andere als schnell vorwärts. Dieses Land kannte keine Wege, nicht einmal Wildwechsel. Die Bäume ragten hoch auf und zwischen ihren Stämmen vermengten sich Büsche, Sträucher und Dornengestrüppe zu einer dichten Masse, die fast an die Berichte von tropischen Urwäldern gemahnte. Als einziges Begleitgeräusch zu dem Kampf, den das Wandern durch dieses Gelände bedeutete, lieferten die Moore ein Glucksen und Ächzen. Von Tieren war nichts zu sehen, nur der eine oder andere Flügelschlag in den Baumwipfeln ließ die Anwesenheit von Vögeln erahnen. Doch jedes Mal, wenn man nach oben blickte, lagen die Äste ruhig und unbewohnt da.            
Jerry hielt nach zwei Stunden plötzlich an, als sie einen Hügel erklommen hatten, und wies in die Ferne. „Seht ihr? Da ist irgendeine Gestalt. Ein Mensch vielleicht?“      
Die anderen folgten seinem Blick und konnten tatsächlich in etwa einer Meile Entfernung einen dunklen Fleck ausmachen, der sich zu bewegen schien.     
„Könnte ein Tier sein“, mutmaßte Levi. „Menschen gibt es hier draußen nicht viele.“
Die anderen konnten nur die Achseln zucken, denn sicher zu erkennen war auf die Entfernung nichts. Lara ärgerte sich, ihr Fernglas vergessen zu haben, während Jacob versuchte, mit Charles‘ Kamera ein Foto zu machen. Unwahrscheinlich, dass man auf dem Bild überhaupt noch etwas von der weit entfernten Gestalt würde ausmachen können.

Ihr Weg führte sie weiter bergauf, das Gelände wurde lichter aber dafür auch deutlich steiniger. Die letzte Steigung, die sie zu bekämpfen hatten, um einmal einen Überblick über den Quadranten gewinnen zu können, führte einen Geröllhang hinauf. Die vielen kleineren und größeren Steine lagen trügerisch verteilt, sodass es Levi übernahm, an der Spitze voranzugehen, um einen sicheren Aufstieg zu finden. Das Gehen über unsichere Felsen verlangte einiges Geschick von den Wanderern ab. Nur behutsam setzten sie Fuß vor Fuß voran.        
Doch alle Vorsicht war vergebens. Chuck, der als dritter der Reihe hinter Jerry lief, sah kleinere Steinchen an sich vorbeirollen, wie es bei quasi jedem Schritt seiner Vorderleute geschah. Doch diesmal verebbte das Klackern der aufeinanderschlagenden Brocken nicht, es wurde lauter. Angestrengt sah er von seinen eigenen Füßen auf und nach vorne – und ihm schien als würde der Hang höchstselbst sich aufbäumen und die lästigen Läuse auf seinem Leib abschütteln wollen. Eine Lawine aus Steinbrocken rollte ihnen allen entgegen. Das waren keine Kiesel, das waren faust- bis kopfgroße Felsen, die aufeinanderschlugen, als wollten sie ihre Kanten schärfen, wobei sie eine mörderische Geschwindigkeit aufnahmen.  
Chuck sah noch, wie Jerry zur Seite sprang und sich so aus der unmittelbaren Gefahrensituation warf. Der Gerichtsmediziner versuchte, es ihm gleich zu tun, doch gab der Boden unter seinem Fuß nach und er rutschte der Länge nach hin – dann prasselten die Felsen auf ihn ein. Steine schlugen über seinem Kopf aufeinander, schrammten am Körper entlang, rissen Haut von ungeschützten Stellen. Er fühlte sich an Boxkämpfe aus seiner Jugend erinnert, nur war es diesmal, als würden einhundert Schläge gleichzeitig auf ihn eindreschen. Und er hatte die Deckung nicht oben.

Dann endete der Steinschlag und der Mediziner wühlte sich aus den Brocken frei, die ihn begraben hatten. Er besah sich seine Schrammen nur flüchtig, hatte aber den Eindruck, dass er einiges Glück gehabt haben musste. Weniger gut schien es seinen Begleitern weiter den Berghang hinab ergangen zu sein. Zuerst erblickte er Charles, der halb unter Felsen verschwunden war und manövrierte sich vorsichtig zu ihm hin. Der Abenteurer war bei Bewusstsein, hatte aber eine große Platzwunde am Kopf und einige weitere blutige Stellen an den Armen. Vorsichtig half ihm Chuck dabei, die Steine von sich zu schieben, ohne gleich den nächsten Steinschlag zu verursachen und gemeinsam stiegen sie zur nicht mehr weit entfernten Spitze auf. Lara und Jacob hatten sich indes gegenseitig geholfen und waren ebenfalls nach oben gehumpelt – der Knöchel der Feldforscherin hatte bei ihrem Sturz und den weiter auf sie einprasselnden Felsen einen Knacks abbekommen. Nicht so schlimm, dass sie nicht mehr laufen konnte, aber alles andere als erfreulich.
Chuck desinfizierte die offenen Stellen seiner Begleiter und legte ihnen Verbände an, anschließend machten sie eine Mittagspause, um sich von dem Schock zu erholen. Ein unerwartet gefährlicher Aufstieg, bedachte man, dass sie sich nicht in exotischen Ländern befanden. So mochte man sich über das „zivilisierte“ Land der Vereinigten Staaten täuschen, dachte Chuck bei sich.

Nun konnten sie sich jedoch einen Überblick verschaffen. Der Felshang, den sie erklommen hatten, setzte sich in südwestliche Richtung fort und schnitt damit den Nordwesten von der unmittelbaren Gegend rund um das Haus der Stones ab. Direkt von der Hütte westlich lag ein unzugängliches Moor, das alles andere als das Interesse der Suchgruppe erregte. Levi und seine Familie hätten es sicherlich mitbekommen, wenn der Meteorit so nah eingeschlagen wäre. Den Beschreibungen der Menschen in der Gegend nach müsste das Himmelsgestein am ehesten nordwestlich eingeschlagen sein. Dort wurde der Wald besonders dicht und von dem Hügel aus ließ sich kaum etwas Genaueres ausmachen. Im Norden wurde das Gelände etwas lichter. Ein Blick auf die Karte und die Einschätzung der geübten Erkunder zeigte, dass man sich nahezu am östlichen Rand des Suchquadranten befand, also mussten sie sich um diese Richtung nicht kümmern.                
Für den Rest des Tages schritten sie den Hügelkamm in westliche Richtung ab, in der Hoffnung, von einer anderen Stelle den Einschlagspunkt ausmachen zu können. Im dichten Wald zeigten sich jedoch keine auffälligen Lücken und schließlich wurde es zu spät, um die Suche an diesem Tag weiter fortzusetzen. Eine ruhige Nacht in der Hütte zogen alle Beteiligten noch immer der Wildnis vor.

Die Dämmerung brach gerade herein, als sie das Haus der Stones erreichten. Insbesondere Chuck und Lara waren froh, für diesen Tag keinen Meter mehr laufen zu müssen – die Feldforscherin laborierte an ihrer Knöchelverletzung und der Gerichtsmediziner war es trotz seiner körperlichen Fitness schlicht nicht gewohnt, einen ganzen Tag lang zu marschieren.

Nach dem Abendessen zogen es alle vor, bald zu Bett zu gehen. Levi bat Charles noch, etwas Feuerzholz aus der Kammer zu holen, damit man den Ofen für Nacht beheizen konnte. Ihm machte das natürlich nichts aus, er ging hinüber – und kam, neben ein paar Holzscheiten, mit einer aufgeschnitten Hand zurück in die Wohnung. Während er das Holz in einen Korb fallen ließ, besah er sich den tiefen Schnitt, der sich einmal quer über die Handfläche zog und begann weit auseinanderzuklaffen.                
„Levi, ich glaube, du hast da eine Axt in deinem Feuerholz liegen“, merkte Charles an, während sein Namensvetter bereits zur Stelle war, um die Wunde zu desinfizieren und einen Verband anzulegen.
Der Familienvater griff sich bestürzt an den Kopf. „Oh je, das tut mir schrecklich leid!“               
„Wie kommt man denn auf die Idee, seine Axt direkt beim Feuerholz zu lagern?“, fragte Jerry lakonisch nach, was Levi noch etwas mehr Schamesröte ins Gesicht trieb. Er nuschelte etwas von seiner Zerstreutheit.

Nach diesem Zwischenfall konnten die Familie Stone und ihre Gäste endlich zu Bett gehen. Nach wenigen Minuten senkte sich tiefe Stille über das Haus.  
Um 1 Uhr gellte jedoch ein Schrei durch das Haus, gefolgt von dem ersten Schuss aus einer Flinte, dem rasch ein zweiter folgte. „Schlange! Schlange im Haus!“  
Jerry Duke stand auf seiner Pritsche, die Flinte in der Hand und hatte das schuppige Tier erwischt – als die anderen kamen, entdeckten sie mehr zerquetschte und aufgeplatzte Reste als ganze Stücke. Das reichte Chuck Brant jedoch aus, den Eindringling als eine Klapperschlange zu identifizieren. „Jerry, bist du gebissen worden?“         
„Was meinst du, warum ich so geschrien habe? Weil sie mich gekitzelt hat?“, gab der Mechaniker zurück und hielt seinen linken Arm vor. Um die Stelle, an der sich die Schlangenzähne durch die Haut gegraben hatten, verfärbte sich die Haut bereits.               
Chuck fluchte, dann wandte er sich an den mittlerweile ebenfalls anwesenden Levi: „Habt ihr Gegengift im Haus?“   
„So etwas können wir uns nicht leisten“, erklärte der Mann und hob entschuldigend die Hände.
„Großartig“, brummte Chuck und erklärte Jerry seine Lage. „Wir können nicht viel machen, die meisten Amateurideen verschlimmern deine Lage nur. Leg dich ruhig hin, ich säubere die Wunde und werde die Nacht bei dir wachen. Ein Klapperschlangenbiss ist nicht tödlich – du könntest und wirst wahrscheinlich aber Krämpfe erleiden.“             
Jerry nahm es mit seiner stoischen Gelassenheit hin. Immerhin hatte er die Genugtuung, das Biest direkt erledigt zu haben.                
„Wie kam die Schlange überhaupt hier rein?“, fragte Lara in die Runde.             
„Es gibt eine Luke draußen, die in den Keller führt“, mutmaßte Charles.            
„Und da klettert sie erst die Leiter hoch?“, gab Jacob zu Bedenken. „Aber die Türen sind auch zu.“
„Jetzt“, meinte Chuck und sein Blick streifte Levi, der die ganze Aufregung unruhig betrachtete – eine Idee zum Eindringen der Schlange wollte er wohl nicht liefern.

Lara, Jacob und Charles gingen wieder schlafen und hofften auf Ruhe. Jerry ergab sich seinem Schicksal und legte sich auf sein Feldbett. Ein Eimer stand neben ihm, wenn ihm übel werden sollte, ebenso eine Flasche Schnaps, die er wohlweislich eingepackt hatte und ihm in der Nacht ein guter Helfer gegen die Schmerzen werden sollte. Chuck setzte sich auf einen Stuhl neben ihn und lehnte sich nach hinten. Halb vor sich hin dämmernd wachte er so über den Mechaniker, der die womöglich schlechteste Nacht seines Lebens erlebte. Krampfend warf es ihn immer wieder hin und her, mal wachte er dabei, mal verfiel er in unklare Ohnmacht.

Während Chuck sich um Jerry gekümmert hatte, war Levi hinaus in die Nacht verschwunden und tauchte erst wieder später, etwa um 3 Uhr wieder in der Hütte auf. Der Gerichtsmediziner schreckte auf, als der Alleinversorger der Stones eintrat.               
„Wo warst du denn gewesen?“, fragte er.        
Levis Augen gingen weit auf, dann lieferte er eine Erklärung: „Ich habe die Fallen gecheckt.“  
„Jetzt? Es ist mitten in der Nacht!“        
„Ja … ich musste eh raus. Notdurft. Da habe ich nochmal geschaut.“    
„Aha“, machte Chuck Brant und versuchte zu überspielen, dass er Levi nicht ein Wort glaubte.

Montag, 5. September 1932

Am nächsten Morgen folgte auf ein Frühstück der rasche Aufbruch. Die Suchgruppe mit ihrem ortskundigen Führer wollte zunächst den zentralen Punkt des Quadranten erreichen – oberhalb des Geröllhanges, der ihnen tags zuvor beinah zum Verhängnis geworden war. Sie überlegten, von dort aus in zwei Gruppen das Gebiet abzusuchen um den Krater, sollte der Meteorit hier eingeschlagen sein, schneller zu finden. Falls tatsächlich noch einige Bakterien aus dem All am Leben waren, zählte jede Stunde.                      
Zu Beginn ihres Marsches zog Chuck seine Begleiter zu sich, während Levi vornewegstapfte. Er berichtete von dem nächtlichen Ausflug der vorigen Nacht: „Ich halte es für ausgeschlossen, dass er um die Uhrzeit sicher geht, ob etwas gefangen wurde. Das macht nicht ansatzweise Sinn. Zudem: Wie kam diese Schlange ins Haus? Durch eine geschlossene Tür?“    
„Das ist aber auch nicht gerade ein Bunker, den die Stones bewohnen“, meinte Jerry selbst.
„Nicht nur das. Wer lief ganz vorne, als die Gerölllawine ausgelöst wurde? Levi. Er kennt die Landschaft, er weiß sicher, welchen Stein man wegtreten muss, damit die Hölle losbricht.“             
„Jetzt klingst du paranoid“, warf Jacob ein. „Warum sollte er das tun?“              
„Das ‚Warum‘ ist noch ungeklärt – aber wir sollten definitiv auf unseren Rücken aufpassen.“
„Deswegen läuft Levi ja auch vorne“, sagte Charles und grinste.

Sie erreichten die Hügelkuppe und teilten sich auf. Die Wissbegierde, den Meteoriten zu finden, überwog die Zweifel, die Chuck, aber auch Charles und unterschwellig auch den anderen innewohnten: wie sicher war es, eine kleinere Gruppe mit diesem Einsiedler loszuschicken?           
Der Abenteurer und der Pilot übernahmen es, mit Levi den Nordwesten abzusuchen, während sich Chuck, Jerry und Lara in direkter nördlicher Richtung hielten.

Die letzteren drei kamen in lichteres Waldgebiet, das aber auch immer wieder durch steinige Hänge unterbrochen wurde, die es vorsichtig zu überqueren galt. Ein Moor mussten sie umgehen, dann suchten sie noch etwas weiter nördlich, bis Lara ihrem Suchen ein Ende machte: „Wir haben den Rand des Quadranten erreicht.“ Sie hielt dabei eine eigene grobe, aber maßstabsgetreue Karte in der Hand und blickte auf ihren Kompass. Die drei gingen also noch etwas westlich, dann östlich und mussten schließlich feststellen, dass es hier nicht das geringste Anzeichen für einen Meteoriteneinschlag gab. So machten sie sich auf den Rückweg zum ausgemachten Treffpunkt: die Hügelkuppe, an der sie sich aufgeteilt hatten. Sie waren die ersten.

Etwas später, es war nun ungefähr 17 Uhr, trotteten Levi, Charles und Jacob auf sie zu. Herabhängende Schultern ließen bereits erahnen, dass ihnen ähnlich viel Erfolg beschieden war wie der anderen Suchgruppe. Jerry informierte sie knapp, dass es im Norden nichts gab, das sich anzusehen lohnte. Daraufhin erklärte Charles: „Wo wir waren, gab es auch nichts.“                
„Gar nichts?“, hakte Chuck bestürzt nach. Sie hatten mittlerweile so gut wie alles abgegrast.  
„Nein, gar nichts“, wiederholte Jacob. Seine Stimme klang seltsam monoton und der Mediziner, hob die Brauen. Er taxierte daraufhin Levi, doch der war bereits an ihnen vorbei und bedeutete ihnen nun, sich bald auf den Rückweg zu machen, wollten sie vor Einbruch der Dunkelheit ankommen.

Sie folgten ihm, blieben aber wieder näher beieinander als an ihm dran. Da offenbarte Charles, warum sie so verschwiegen getan hatten: „Wir haben etwas Auffälliges gefunden. In einem Sumpf gab es eine dichtbewachsene Insel. Es könnte passen, dass der Meteorit dort eingeschlagen ist, auch wenn sich aufgrund der dichten Vegetation kein eindeutiges Urteil aus der Ferne fällen lässt.“        
„Allerdings hat sich Levi vehement geweigert, einen Weg hinüber zu suchen. Er behauptete, dort gäbe es nichts, aber im gleichen Zug mit einer seltsamen Bestimmtheit, dass dort auch nichts Interessantes sein könne“, erklärte Jacob.        
„Er will uns also nicht dort haben“, führte Charles den Gedanken weiter. „Wenn das nicht ein Grund ist, die Insel aufzusuchen.“
Die anderen waren sofort einverstanden. Dieser Ort schien ihnen als letzte, mögliche Stelle für den Meteoriteneinschlag in ihrem Quadranten. Andere Bereiche hatten sie von Aussichtspunkten erspähen können oder waren sie abgegangen. Nun galt es – und gleichzeitig mochte sich in diesem Zuge aufklären, welche Rolle Levi in diesem Stück spielte.

Zurück in der Hütte, schlug Chuck vor, den Schlafplatz der Gruppe in die Scheune zu verlegen, wo noch Platz unter dem Dach war. Gegenüber Levi rechtfertigte er den Vorschlag mit der Schlangengefahr, was insbesondere eine Gefährdung darstellte, da bereits einige der Arkhamer angeschlagen waren. Seinen Freunden untermalte er indes noch einmal seine Theorie zu Levis Widerstreben, was nun auch Charles und Jacob zumindest in Ansätzen unterstrichen.            
Levi drängte darauf, in der Scheune erst noch „aufzuräumen“, was die fünf abstritten und sich noch vor dem Familienvater in die Scheune begaben. Diese barg natürlich das wenige Vieh der Stones und etwas Heu, über eine Leiter ging hoch zu einer Halbebene unter dem Dach, wo sich zunächst Lara, Charles, Chuck und Jerry ihr Lager bereiteten. Jacob ruhte sich indes noch einen Moment unten aus – und bekam so mit, wie Levi kurz nach ihnen in die Scheune kam und eine herumliegende Kette griff und diese ins Heu legte. Er wühlte noch etwas herum und warf noch etwas Stroh darüber, dann blickte er sich um und erschrak kurz, als er Jacob erblickte. Der starrte jedoch gerade Löcher in die Luft, wie es schien, und hastig verschwand der Eigentümer aus der Scheune.  
Der Pilot informierte sofort seine Begleiter und sie suchten die Kette aus dem Stroh hervor. Der Gerichtsmediziner erwartete beinah Blutflecken oder Hautfetzen zu finden, doch scheinbar war die Kette für keine gröberen Dinge genutzt worden. Es mochte ein Arm, eine Wade oder vielleicht auch ein Hals, je nach Physiognomie, zu dem Verschluss passen, der sich am letzten Eisenglied befand. Da sie nicht schlau daraus wurden, warum Levi ausgerechnet diese Kette versteckt hatte – eine Stolperfalle konnte sie an der Stelle nicht darstellen – legten sie sie auf Jacobs Initiative wieder dorthin zurück und beschlossen Nachtwachen. Womöglich würde sich ihr Gastgeber noch in der Nacht zeigen und damit offenlegen, wofür er die Kette nutzen wollte.             
Während Jerry nach der durch den Schlangenbiss verursachten, unruhigen Nacht sofort einschlief und Chuck ihm bald nachfolgte, übernahmen Jacob, Lara und Charles nacheinander die Beobachterposition. Doch in dieser Nacht machte Levi keine Anstalten mehr, die Scheune zu betreten.

Dienstag, 6. September 1932

Am nächsten Morgen machten sich die fünf Suchenden noch sorgfältiger als die Tage zuvor bereit. Insbesondere die Waffen wurden noch einmal überprüft, während die damit beschäftigten Geister mit unangenehmen Vorahnungen behangen waren. Den Schilderungen Jacobs und Charles‘ nach, dürfte es kaum möglich sein, einfach zu der Insel im Sumpf hinüberzuwaten. Daher ergänzten sie ihre Ausrüstung an diesem Tag erst Recht um Axt, Säge und Seile – sollte es hart auf hart kommen, würden sie vielleicht sogar ein Floß bauen müssen.       
Sie frühstückten anschließend gemeinsam im Haus der Stones mit Levi und Familie. Von ihrem Plan verrieten sie noch nichts, aber da sie bereits nach Aufbruch die Richtung zu dirigieren begannen, musste eine Vorahnung den jungen Levi Stone befallen – auch wollten ihn die fünf nicht zurücklassen. Halte deine Freunde nah bei dir, aber deine Feinde näher. Er verhielt sich jedoch gänzlich ruhig, bis sich die Gruppe bis zum Mittag zur besagten Insel im Sumpf durchgekämpft hatte.

Zu sechst standen sie zwischen den dichten, moosbehangenen Bäumen auf einem feuchten Untergrund, der die Schuhe nur für kurze Augenblicke an der Oberfläche beließ. Doch das wahre Moor erstreckte sich vor ihnen. Die Stämme standen weiter auseinander, doch noch nah genug, dass sich ihre Kronen zu einem dichten Dach vereinigten – durch die dunklen Blätter fiel selbst zur Mittagszeit nur Zwielicht.               
Der Boden selbst lag unter dem dickflüssigen See verborgen, dessen zähes Wasser bis zur Hüfte reichen würde, wie die Erkunder mit einem Stock ermittelten. Durch dieses kalte und schlammige Nass würde man kaum hundert Meter gehen können, ohne rasant auszukühlen – bis zur Insel, zu der keine Landzunge führte, war es eine mehr als doppelt so große Strecke. Dort, jenseits des blubbernden Moors und der sonstigen, unheimlichen Stille, als wären sämtliche Tiere verschwunden; dort lag eine Insel, zumindest umrahmt von dicken Stämmen, die aus der Ferne wie ein titanischer Palisadenwall wirkten, der sich bis zu den Baumkronen erstreckte – der Himmelsdecke in diesem Sumpf.

Es gab keine andere Möglichkeit, die fünf mussten ein Floß improvisieren, um es sicher auf zur Insel zu schaffen. Selbst wenn sie nicht auskühlen würden, so bestand weiterhin die Gefahr von Sumpflöchern, die einen mitten im See in die Tiefe zerren würden. Levi begutachtete die Arbeit der Arkhamer ausdruckslos, bot schließlich sogar seine Hilfe ab, die allerdings gleichsam mit den freundlichsten Verweisen abgelehnt wurde.            
Nach zwei Stunden waren sie soweit und hatten aus kleineren Stämmen zusammen mit ihren Seilen ein Floß konstruiert, das zwei Personen soweit tragen konnte, dass sie zwar nicht gänzlich trocken, aber doch sicher zur Insel kommen mussten. Ausgestattet mit langen Stöcken übernahmen es die Experten für Erkundung, zuerst überzusetzen. Charles und Lara brauchten nur kurz, um sich an die schwierige Umgebung zu gewöhnen, dann staksten sie das Floß durch das Moor, als wäre es ein seichtes Gewässer. Chuck, Jerry, Jacob blieben indes mit Levi zurück – neugierige Blicke über das dunkle Wasser richtend.

Was Lara und Charles zuerst auffiel, war die sonderliche Kälte, die über dem Gewässer lag. Natürlich hatten sie keine tropische Wärme erwartet, doch während es gleichsam stiller und stiller um sie herum wurde, nahmen auch die körperlichen Empfindungen für Wärme ab. Müdigkeit hätte sie beinah befallen, doch sie hielten sich entschlossen an ihrer Aufgabe und brachten sich durch kräftige Stöße mit den improvisierten Rudern und einer Stange voran. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie die zweihundert Meter überquert hatten, dann zogen sie das Floß etwas das Ufer hinauf.          
Da es zu lange dauern würde, zuerst alle Verbliebenen hinüber zu fahren, wollten Charles und Lara erst einmal herausfinden, ob die Insel den Aufwand gelohnt hatte – sie machten sich auf den Weg durch die dichtstehenden Bäume, die nicht nur in einer, sondern in einem Dutzend Reihen standen.

Sie gingen nebeneinander her, achteten vorsichtig auf den matschigen Boden. Durch den hier wieder dichten Bewuchs durch allerlei Büsche, Flechten und Farne ließ sich Schritt für Schritt schwer sagen, wo der Fuß als nächstes festen Boden fand und nicht in einem Loch verschwand, wie sie solche Sumpfgegenden gerne bereithielten.           
Bei Charles‘ nächstem Schritt spürte er plötzlich einen seltsamen Druck an seinem Knöchel und fragte sich einen Moment lang, worauf er denn getreten sei. Ein plötzlicher Ruck, der seine Sicht der Welt auf den Kopf stellte, riss ihn von den Füßen und schüttelte ihn vollständig durch. Vollständig überrascht sah Lara zu ihrem Begleiter auf, der plötzlich von einem Baum neben ihr baumelte – und spürte unter dem linken Fuß einen glatten, harten Untergrund. Dem Absetzen folgte ein metallisches Klicken.

Ein weiblicher Schrei hallte über das dunkle Moorwasser zu Chuck, Jerry und Jacob, die erschrocken zusammenzuckten.                
„Verdammt, was ist da passiert?“, fluchte der Gerichtsmediziner los. Er sah auf das Wasser vor sich und überlegte einen Moment, dann blickte er zu den Bäumen. Es war aussichtslos. Sie hatten keine Möglichkeit, ihren Freunden schnell zur Hilfe zu eilen – sie konnten nur hinüber starren, zu dem verwaisten Floß und dem dahinterliegenden, dichten Wald.

Charles zögerte keinen Moment und zog seine Machete vom Gürte. Mit einem Ruck schwang er seinen Oberkörper auf und durchschlug die Seilschlinge mit einem Hieb. Der Sturz auf den Boden wurde vom dichten Pflanzenbewuchs abgefedert, zudem rollte der Abenteurer sich so gut ab, wie es aus seiner Haltung möglich war. Dann sprang er auf und sah nach seiner Begleiterin. Diese war in sich zusammengesunken, während unter ihr Blut auf den weichen Boden plätscherte. Als Charles sich neben ihr hinkniete, flackerten ihre Lider und sie schien Stück für Stück den Schock zu verarbeiten. Doch der war ihr geringstes Problem. Charles blickte auf ihre linke Wade, in die sich die langen, metallischen Zähne einer Bärenfalle eingegraben hatten. Er packte die Falle und versuchte die beiden Teller auseinanderzuziehen. Diese hatten sich jedoch mit einer Gewalt in das Bein der jungen Lara Davidson gegraben, dass für Charles ohne Hilfsmittel keine Möglichkeit bestand, sie zu befreien. Er entschloss sich also zur nächstbesten Variante: er löste die Halterung der Falle im Boden und trug seine verletzte Begleiterin behutsam zurück zum Floß. Alleine, aber entschlossen, ruderte und stakste er das Gefährt hinüber über den Moorsee, ohne sich vorerst weitere Gedanken über diese Insel, die ihre Gefährlichkeit binnen weniger Minuten zum Ausdruck gebracht hatte.

Die anderen erkannten natürlich bald, dass Lara weitgehend regungslos auf dem Floß lag und Charles rief sobald er in Reichweite kam: „Lara ist verletzt! Eine Bärenfalle hat sie erwischt!“   
Chuck schlug sofort seinen Medizinkoffer auf, Jerry holte eine Brechstange hervor, um die Teller der Falle auseinanderzubekommen, und Jacob musterte Levi. Der blickte ausdruckslos zum Floß hinüber. „Vergessen Sie hier öfter Fallen?“, fragte der Pilot.           
Levi schüttelte energisch den Kopf. „Ich war nie drüben auf der Insel!“              
Dann war Charles endlich bei Ihnen und half dabei, Lara vorsichtig auf den Boden zu legen. In Windeseile begann Jerry, die Falle zu lösen, was ihm mit der eisernen Unterstützung auch gut gelang. Anschließend säuberte Chuck die Wunden und legte einen dicken Verband an. Jacob und Jerry sahen indes zur Insel hinüber.              
„Konntet ihr was entdecken?“, fragte der Mechaniker Charles.             
„Wir kamen nicht sehr weit. Da war eine Seilfalle, die mich erwischt hat und die Bärenfalle, die Lara fast das Bein abgerissen hätte. Da habe ich noch Glück gehabt.“              
„Aber es hilft ja nichts“, brummte Jerry. „Jacob, fahren wir rüber?“     
„Verdammt, ja“, erklärte der Pilot und fuhr versichernd über seine Pistole.

Während die Namensvettern Charles bei der bewegungsunfähigen aber langsam wieder zu Bewusstsein kommenden Lara zurückblieben, stakten sich Jerry und Jacob über das Moorwasser hinüber zur Insel. Gasblasen, die aus dem sie umgebenden, schlammigen Brackwasser aufstiegen, trieben ihnen betäubende Dämpfe um die Nase, welche drohten die Sinne benommen und den Geist unklar werden zu lassen. Doch ihre Entschlossenheit hielt an und sie erreichten die Insel. Jerry zögerte nicht und nahm sofort seine Flinte zur Hand, während Jacob eine Taschenlampe hervorholte, um den Untergrund, den sie begingen, sorgsam auszuleuchten.            
Mit Eintritt zwischen die Bäume war es beinah, als träten sie in eine dunkle Höhle, und nur vorsichtig gingen sie Schritt für Schritt voran. Zunächst orientierten sie sich an den Schleifspuren; den umgeknickten Büschen und verteilten Blutflecken, die Lara hinterlassen hatte. Dann gingen sie weiter und Schritt für Schritt vorsichtig zwischen den dichtstehenden Baumstämmen hindurch, ehe sich der Wald zu einer großen Lichtung vor ihnen öffnete.

Die vielleicht zwanzig oder dreißig Meter durchmessende freie Fläche offenbarte sich als sumpfig und schlammig. Doch war es nicht vornehmlich das Wasser, welches hier die Erde tränkte, bis sie es nicht mehr aufnehmen konnte, nicht mehr aufnehmen wollte. Ein rötlicher Schein fiel auf die blasser und blasser werdenden Gesichter von Jacob Rodriguez und Jerry Duke. Flackernd rollten ihre Augen in den Höhlen und versuchten des Anblicks gewahr zu werden, der sich vor ihnen erstreckte, wenngleich ihre Lider versuchten gnädige Dunkelheit über diesen suchenden Blick zu werfen.     
Der Boden der gesamten Lichtung war blutdurchtränkt. Das Rote schimmerte mal noch frisch und hell, doch zumeist dunkel und verkrustet; warf Formen, die an dunkle Kreaturen erinnerten, festgebunden an diese Erinnerung fleischlicher Körper. Ebendiese hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. Arme, Beine, gespaltene Schädel, weitere Körperteile waren auf der Lichtung verteilt, an Holzpfähle genagelt oder einfach nur achtlos auf den Boden geworfen, der so erschien wie eine Masse aus versunkenen und verlorenen Körpern über die eine blutige Lawine gerollt war.

In der Mitte der Lichtung kauerte eine Gestalt – erst auf einen zweiten Blick war zu erkennen, dass unter der rötlichen Kruste aus Menschenblut eine hölzerne Statue steckte. Jacob erstarrte angstvoll, doch Jerry legte ihm die Hand auf die Schulter und gemeinsam traten sie auf diese Lichtung, um sich dem Götzen zu nähern.            
Vorsichtig näherten sie sich Schritt für Schritt, die Augen wechselweise auf die hölzerne Statue und auf die alptraumhafte Umgebung gerichtet. Fast befürchteten sie, die Toten würden sich regen, aufbäumen und sie schreiend für die Ungerechtigkeit verantwortlich machen, die ihnen widerfahren war. Doch nichts geschah bis sie den Götzen erreichten und zwei Meter vor ihm stehenblieben.
Es war die Gestalt eines kauernden Menschen, der dabei jedoch immer noch seine verzerrten Ausmaße preisgab. Überlange Gliedmaßen, die sich verrenkend um den Leib schlossen, als wären sie Ketten des eigenen Körpers. Insgesamt ein Ausmaß, das einen gewöhnlichen Menschen überragen würde. Spätestens im Gesicht endeten die Ähnlichkeiten, die man noch zu einem Menschen ziehen mochte. Eine weite Fratze, die von einem Ohr zum anderen reichte mit einer Darstellung messerlanger, spitz zulaufender Zähne, von denen das allgegenwärtige Blut tropfte, als hätte die Bestie gerade gespeist. Die Nase war breit und flach, einem Raubtier gleich. Doch am schrecklichsten waren die aufgerissenen Augen mit schräg geschlitzten Pupillen, die gerade aus starrten – direkt auf die beiden Arkhamer, die es gewagt hatten, so nah an das Götzenbild heranzutreten.

Jacob spürte, wie der Blick lebendig wurde und tief durch seine eigenen Augen hindurchstach. Als würden sich glühende Messer in seinen Kopf bohren, erfüllte ihn der Schmerz und er wich zurück. Fahrig blickte er um sich, vermeinte Bewegungen überall und nirgends zugleich auszumachen, starrte schließlich gen Himmel und erkannte hinter dem Blätterdach nur dunkles, sattes Rot – Blut war überall. Der Pilot wandte sich um und rannte davon. Jerry stand noch etwas länger vor der Statue, hielt ihrem Blick stand, starrte seinerseits in diese Augen. Dann drehte er sich in die Richtung, in die Jacob geflohen war und trottete ihm vorsichtig hinterher, die Flinte dabei fest in der Hand.

Ein Schrei hallte von der Insel hinüber zur restlichen Suchgemeinschaft. Chuck wirbelte auf und starrte entsetzt hinüber zu den Stämmen, zwischen denen ein weiterer Freund verletzt wurde, und wohin er nicht konnte, um zu helfen.           
„Verdammt“, fluchte er. Charles stand neben ihm und versuchte ebenfalls etwas zu erkennen, doch vergebens.       
„Was ist auf dieser Insel, Levi?“, blaffte der Gerichtsmediziner ihren Begleiter nun an.              
„Ich weiß es nicht“, beteuerte der erneut.        
„Du weißt es nicht? Aber du willst auch nicht auf die Insel. Willst dort nie gewesen sein.“         
„Dort gibt es auch nichts …“      
„Woher weißt du das? Was für Geschichten kennst du?“          
„Es gibt keine Geschichten. Die Insel war schon immer da und sie wurde schon immer gemieden.“
„Aber warum, Levi? Warum?“
Der Mann zitterte und Chuck vermeinte zu erkennen, dass ihrem Begleiter eine eigenartige Emotion beschlich, die er nicht erwartet hatte: Levi hatte Angst.           
„Sieh, dort!“, rief Charles aus und zeigte zur Insel. Der Abenteurer hatte ihre Begleiter entdeckt: Jerry stützte den humpelnden Jacob und half ihm, auf das Floß zu kommen. Eilig nahm er dann die improvisierte Stange zur Hand und begann, sich über das Wasser zu ihnen hinüberzuschaffen.     
Chuck erkannte mit geübten Blick auf die Entfernung, dass Jacobs Verletzung weitaus mehr als ein umgeknickter Knöchel. Womöglich eine weitere Falle. Mit dünner Stimme und mühsam unterdrückten Zorn wandte er sich wieder an Levi: „Was weißt du von der Insel? Wenn dort nie jemand war, woher kommen dann all die Fallen?“       
„Was willst du von mir?“, blaffte der Mann zurück. „Ich weiß nichts.“  
Damit wurde es Chuck Zuviel. Er sah auf die vor sich liegende und verletzte Lara, hinüber zu dem sich mühsam nähernden Jerry und dem ebenfalls verletzten Jacob. Dann wieder auf den ihnen gegenüber so gleichgültigen Levi, der sie seiner Meinung nach bereits mehrfach an der Nase herumgeführt und in gefährliche Fallen gelockt hatte. Chuck Brant zog seine Luger P08 Parabellum Pistole. „Jetzt hör mir mal gut zu, du verkommener Einsiedler. Du verrätst uns jetzt, was meinen Freunden auflauert, oder es endet hier.“          
Doch mit diesem Zug verwandelte der Gerichtsmediziner die vormals womöglich vorhandene Angst und Unsicherheit in Entschlossenheit. Levi Stone zückte von seinem Rucksack gleich zwei Holzfälleräxte und brachte sich so beidhändig bewaffnet in Stellung.
„Levi, ich warne dich …“, betonte Chuck und lud die Pistole durch – doch angesichts der berserkerartigen Bewaffnung seines Gegenübers erschien ihm das kleine Stück Metall in seinen Händen plötzlich wie ein Spielzeug. Levi stürzte auf ihn zu und Chuck schoss. Blitzschnell wich sein Angreifer aus und hieb seinerseits mit beiden Äxten nach ihm, dass er Kopf und Beine gleichzeitig vom Rumpf getrennt hätte, wäre der Gerichtsmediziner nicht gerade noch nach hinten weggehechtet.                
Charles nahm indes sein Gewehr in die Hand und zielte auf Levi Stone, der keine menschlichen Laute mehr von sich gab, sondern nur ein tiefes Knurren aus einer weitaufgerissenen Fratze. Die Adern an seinen Armen traten bei jedem Axtschwung mehr hervor und er begann nun gleichzeitig auf Chuck und Charles einzudreschen. Ersterer schoss und schoss, doch der flinke Gegner war ihm im Nahkampf überlegen, sodass sich Kugel für Kugel wirkungslos an ihm vorbei in den Moorboden schob. Schließlich segelte die Axtklinge direkt auf sein Gesicht zu und Brants Instinkte übernahmen. Er packte den Griff der ihm entgegenfliegenden Axt und warf sich mit all seiner Bostoner Straßenjugend gegen den Angriff. Selbst die Bestie Levi sah das nicht kommen und die Rückseite seiner Axt traf ihm mitten im Gesicht und zertrümmerte seine Nase zu einem breiigen Matsch. Er schrie wie ein verletztes Tier auf, dann riss er seine Waffe aus der Hand von Chuck Brant frei, der nun direkt vor ihm stand.         
Der erste Schlag surrte knapp am Kopf des Gerichtsmediziners vorbei, der spürte, wie es an seiner linken Schädelhälfte glühend warm wurde. Eisen schabte sich am Knochen vorbei, trennte sein Ohr ab und grub sich weiter bis ins Schlüsselbein. Getroffen sackte er in die Knie – dann traf der zweite Schlag. Diesmal mitten in den Schädel.

Levis Äxte steckten beide im toten Leib von Chuck Brant, was Charles Collins zu nutzen wusste. Wie auf seinen Großwildjagden legte er an, zielte und schoss. Der Treffer warf den Irren Mr. Stone einen Meter zurück und von den Füßen – ein tiefer Einschusskrater klaffte in seiner Brust. Doch noch im Fallen griff er einen seltsamen, silbrig schimmernden Stein aus seiner Brusttasche und schleuderte ihn Charles Collins ins Gesicht. Dessen rechtes Gesichtsfeld verzog sich, warf dunkle Schatten über sein Sehen und wellenartig pumpte sich der Schmerz durch seinen Schädel. Er stürzte zu Boden.

Jerry und Jacob sahen entsetzt hinüber zu den Ereignissen. Gerade war mit Charles der letzte zu Boden gegangen, noch bevor sie in Schussreichweite herangekommen waren. Was mochte dort vorgefallen sein, welcher Wahnsinn hatte diesen Levi Stone befallen, der auf ihre Begleiter wie ein Berserker aus alten Zeiten eingedroschen hatte?   
Er erhob sich wieder. Dem blutverschmierten Gesicht und der klaffenden Wunde in der Brust ungeachtet – er stand wieder auf. Keinen unnötigen Blick verschwendete er an das sich nähernde Floß, sondern entnahm Charles‘ bewusstlosen Händen dessen Gewehr, lud durch und legte an. Die erste Kugel schlug vor ihnen im Wasser ein.        
„Jacob, nimm das Ruder. Bring uns noch etwas näher ran“, sagte Jerry bestimmt und nahm seine Flinte zur Hand. Er kniete sich hin und visierte den Wahnsinnigen an, der seinerseits erneut schoss, die Kugel aber in die Baumkronen schickte. Jacob ruderte im Liegen, das Bein von einer weiteren Bärenfalle auf der Insel zerfleddert, und brachte das Floß näher und näher dran. Bis sie nah genug dran waren.

Mit traumwandelnder Sicherheit drückte Jerry den Abzug und die Schrotladung aus der Flinte entlud sich mit einem Knall. Ein halbes Dutzend eiserner Kugeln befreiten sich aus dem Lauf und strömten über das Wasser hinweg auf den Wahnsinnigen zu, der gerade die erbeutete Waffe nachladen wollte. Eine Kugel traf ihm ins Gesicht, eine weitere durchschlug den Hals, eine andere den Bauch. Es schlug Levi Stone auf den Rücken.   
Doch wie von einer dämonischen, boshaften Macht beseelt suchten sich auch die anderen Kugeln der Schrotladung ihr Ziel. Eine Kugel traf die Pulsschlagader in Laras Bein, aus der sich ihr Blut binnen eines Moments in den Sumpf befreite; eine andere fand das Herz in Charles‘ Brust. Mit einem Schlag hauchten sie damit ihr Leben aus und sogar der wahnsinnige Levi Stone folgte ihnen – sie waren alle tot.

„Oh Gott“, hauchte Jacob fassungslos. „Oh nein.“ Tränen schimmerten auf seinen Wangen, als er zu Jerry aufsah, der ihn seinerseits mit einem Blick bedachte. Ein rötliches Flackern zog sich über das Weiß seiner Augen. Jacob Rodriguez vermochte nur noch schwach den Kopf schütteln, dann trat ihn sein einstiger Freund mit aller Wucht vom Floß. Der durch die Falle verkrüppelte Pilot strampelte noch ein wenig, doch schließlich musste er gegen das erbarmungslose Moor aufgeben und versank in der ewigen Kälte.      
Jerry Duke ließ den strampelnden und schreienden Mann hinter sich, wendete das Floß und stakte sich zurück zur Insel. Ohne zu zögern gelangte er an Land, schritt zwischen den Bäumen hindurch und über die freie, blutdurchtränkte Lichtung. Erst vor dem großen Götzen kam er zum Stillstand und blickte tief in die Augen der hölzernen Kreatur. Dieser Fratze, dieses Dämons.            

Dann legte er sich den Lauf der Flinte an den Kopf.

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