Der goldene Schatten

Als wir am nächsten Morgen aufbrachen, folgte uns der Wolfshund weiter. „Sieht so aus, als hätten wir einen neuen Begleiter“, frohlockte Jenn. „Wie er wohl heißt?“          
„Ich denke eher, er folgt uns, bis er den Mörder seines Herrn gefunden hat“, brummte ich.
„Hm … bis wir es erfahren, müssen wir wohl improvisieren“, sagte Jenn weiter, meinen pessimistischen Einwand ignorierend. „Da war doch dieser Zettel. ‚Utz‘! Ist doch genauso gut wie jeder andere Name. Komm näher, Utz!“   
Der Wolfshund reagierte nicht.

Wir trotteten auf unseren Pferden weiter den ansteigenden Pfad zum Drachenkessel hoch. Die Bäume um uns standen immer lichter, bis sie schließlich von kleineren Gebüschen und anderen hartnäckigen Gewächsen abgelöst wurden. Vereinzelt stellten Findlinge Markierungen in der Landschaft dar, doch beabsichtigte keiner von uns, diesen uralten Steinen einen Sinn zuzuweisen. Das Ziel war ausgemacht, der Wind, der uns umwehte, dabei angenehm warm. Ich fing fast ein wenig an zu schwitzen unter den noch etwas ungewohnten Metallschienen an Armen und Beinen.  
Der Pfad führte gerade über eine kleine Ebene, die im Schatten der Berge lag, als wir ein kleines Haus entdeckten, etwa 300 bis 400 Meter von uns entfernt liegend.     
„Vorsicht“, gemahnte Zedd. „Wir sollten uns langsam nähern.“              
Ich konnte nicht behaupten, dass ich seinen Vorschlag ignorierte, allerdings steuerte mein Pferd recht gleichgültig weiter, die der anderen ebenfalls. Als wir näherkamen, ließ sich ausmachen, dass das Haus einen gepflegten und bewohnten Eindruck machte. Ein kleines Mäuerchen war darum gezogen, die Wiese dahinter nicht wild; das Dach noch intakt. Durch ein kleines Holztor ließ sich das Grundstück betreten, wo ein mit Steinen ausgelegter Weg zur Tür führte.      
„Wer wohnt hier?“, fragte ich verdutzt. „Dazu in so einem herausgeputztem Haus?“  
„Finden wir es heraus“, sagte Suena und stieg ab. Die anderen taten es ihr gleich, dann hörten wir ein Krähen aus dem Inneren der Hütte. „Ein Bewohner ist zumindest vor Ort“, fügte Zedd hinzu. Er schien einen Moment mit sich zu ringen, sprach dann kurz mit Suena, die ihn daraufhin ganz verdutzt ansah. Allerdings schüttelte sie den Kopf und erklärte etwas – ich vernahm nur wenige Worte, doch sie klangen allesamt sehr kryptisch. Was war denn ein Reagens?             
Ihren Magierkauderwelsch hielten die beiden jedoch kurz, wahrscheinlich auch, weil Mara bereits zielstrebig das Gartentor geöffnet und den Steinweg schon hinter sich gelassen hatte. Jenn hatte sich natürlich dicht hinter ihr gehalten, dann folgten wir anderen. Die Tür zum Haus selbst war unverschlossen, sodass wir Mara folgend eintreten konnten.

Der Großteil des Gebäudes wurde von dem Raum eingenommen, den wir gerade betreten hatten. Er war zu einem guten Teil mit Teppichen ausgelegt, an der linken Wand standen ein Regal mit mehreren Büchern. In der hinteren linken Ecke gab es eine ausgebaute Kochstelle, rechterhand befand sich mittig in der Wand der Kamin mit einem Sessel davor. Rechts und links von diesem führten Türen zu den beiden anderen Räumen des Hauses. Direkt neben uns links am Fenster saß der Verursacher des Krähens oder vielleicht vielmehr des Krächzens: ein Adler! Mit schräg gelegten Kopf fixierte er uns mit seinen gelben Augen, machte jedoch keine weiteren Anstalten, dass ihm unsere Anwesenheit Unbehagen bereitete.                
„Ein Steinadler!“, rief Zedd begeistert aus, ehe er sich dem Tier vorsichtig näherte. Der Vogel konzentrierte sich nun auf ihn, doch so behutsam wie sich der Araner ihm näherte, sah er sich nicht genötigt, mit seinem Schnabel zuzuhacken. Ich warf indes einen Blick in den Kamin, in dessen Asche noch größere Brocken lagen. Vorsichtig hielt ich die Hand darüber und spürte die Restwärme des kürzlich erloschenen Feuers.            
„Wer auch immer hier wohnt, ist vor kurzem erst gegangen“, teilte ich meinen Begleitern mit, die in der Zwischenzeit das restliche Haus in Augenschein nahmen. Jenn ging derweil das Regal durch: „Ein paar Bücher sind auf Erainnisch. Verschiedene Geschichtsbände.“          
„Seht mal“, rief Suena. Nachdem sie sich den Küchenbereich ohne großen Fund angesehen hatte, war ihr etwas im hinteren dem Herd gegenüberliegenden Teil des Raumes aufgefallen. Auf ihren Fingerzeig fiel uns nun auch auf, dass dort zwar keine Möbel standen, allerdings eine eiserne Kette knöchelhoch einen Bereich von zwei auf einem Meter absperrte.                
„Wozu das?“, fragte ich Suena, doch sie wusste damit zunächst nichts anzufangen. Mara hatte sich indes die beiden Türen angesehen. Die erste war verschlossen, die zweite führte in ein Schlafgemach. Sie rief, dass sie Bücher gefunden hatte, die Jenn sich ansehen sollte. Ich hörte, wie die Ywerddonerin etwas von „Naturmagie“ vorlas, dann kamen die beiden wieder in den Hauptraum und zeigten uns ein kleines Porträt einer jungen, blonden Frau. „Das lag zwischen den Seiten dieses Buches“, erklärte Jenn. „Vielleicht eine Vertraute des Bewohners? Es sieht auch im Schlafzimmer nicht danach aus, als würde hier mehr als ein Mensch leben.“            
„Du hast etwas von Naturmagie gelesen, nicht wahr?“, hakte Suena nach, was Jenn mit einem Nicken noch einmal bestätigte. „Hm, falls der Bewohner hier ein Zauberer sein sollte … dann könnte ihm oder ihr dieser abgesperrte Bereich als Ankunftsraum für eine Teleportation dienen. Es wäre sehr unangenehm, würde er hier auftauchen und stünde plötzlich in einem Holztisch. Vielleicht ist die Kette sogar mit einem Zauber belegt, um das Eintreten Unbefugter zu verhindern.“                
„Ein Zauberer? Dann sollten wir vielleicht nichts mehr anfassen“, murrte ich. „Legt das Bild und das Buch am besten zurück, dann verschwinden wir hier.“ Suena nickte dem bestätigend zu, Mara folgte dem Vorschlag.
„Dann können wir ja jetzt gehen, oder?“, fragte ich, mit nervösem Blick auf den abgesperrten Bereich. Plötzlich flirrte die Luft – dann, ohne großen Knall, stand dort jenseits der eisernen Kette ein Mann um die fünfzig in einer schwarzen Robe.                
„Seid gegrüßt“, sagte er auf Comentag und strich seine Kleidung glatt. „Wie komme ich zu diesem Besuch?“
„Seid auch uns gegrüßt“, antwortete Suena rasch. „Ich bin Suena, das sind meine Begleiter. Wir hatten gehofft, den Bewohner dieses Hauses zu finden.“   
„Dann ergibt sich das ja vortrefflich“, befand der Mann und stieg über die eiserne Kette in den Raum hinein. „Mein Name ist Levin. Wie kann ich euch helfen?“   
„Wir sind auf der Suche nach einer Reisegruppe, die wahrscheinlich vor etwa zwei Tagen hier vorbeigekommen ist. Zwei Männer, eine Frau, ein Zwerg und ein junger Bursche, vielleicht ein Halbling.“               
„Eine bunte Truppe“, stellte Levin fest und lächelte. „Ja, ich habe sie gesehen. Sie haben hier ebenfalls Halt gemacht, um sich über den Drachenkessel zu erkundigen.“  
„Was haben sie gefragt?“          
„Sie erzählten etwas von einem Lindwurm, den sie verfolgten. Er soll sich beim Drachenkessel verkrochen haben. Doch dort oben gibt es mindestens seit Jahrzehnten keine Drachen mehr, auch wenn sie mir das nicht glauben wollten. Was wollt ihr von der Reisegruppe?“             
„Wir haben … eine wichtige Nachricht zu überbringen“, sagte Suena.  
„Wo kommt Ihr eigentlich her?“, fragte ich den Zauberer mit Blick auf das Teleportationsfeld.               
Levin lächelte. „Es gibt viele Ziele, die man über diese Art zu reisen ansteuern kann. Wo würdet Ihr denn gerne hin?“                
„In die Küstenstaaten“, sagte ich unumwunden. „Ich habe gehört, dass es dort komplexe Apparaturen und fortgeschrittene Kampftechniken gibt.“             
„Das ist vielleicht zu viel des guten Rufes. Es gibt dort hauptsächlich billigen Wein“, meinte Levin mit einem schiefen Grinsen.             
„Das ist doch ein Anfang“, gab ich zurück, woraufhin der Zauberer etwas schnaubte und fragte: „Wo kommt Ihr eigentlich her?“ Dabei blickte er einmal in unsere ebenfalls bunt gemischte Runde.         
„Aus Aran“, erklärte Zedd. „Dem Lande Ormuts.“          
„Ich habe schon einiges von diesem fernen Land gehört. Allerdings sind die Küstenstaaten schon zu weit für diesen Reisezauber, da wird es für Aran lange nicht reichen. Aber ich hoffe, das Land vielleicht eines Tages auf herkömmliche Weise besuchen zu können. Ihr seht dagegen eher aus, als kämt ihr aus dem Norden“, wandte er sich wieder mir zu.                
„Aus Fuardain“, bestätigte ich die Einschätzung.             
„Eine große Entfernung. Es soll dort gutes Bier geben.“              
„Hm“, brummte ich. „Bei den wandernden Stämmen gibt es eher selbstgebrannten, magenreißenden Schnaps.“      
„Wie lange wohnt ihr hier schon?“, fragte Suena. „Kennt Ihr Berim, den Dorfwächter von Torren?“
„Ja, er ist mir bekannt, auch wenn ich nicht allzu oft in das Dorf gehe.“               
„Er sagte uns, dass er einen Drachen getötet und in dessen Blut gebadet habe …“       
„Das scheint zu stimmen. Er besitzt zumindest die typische Immunisierung gegenüber Feuer.“             
Ich rümpfte die Nase. „Er sah nicht gerade aus wie ein Drachentöter. Etwas schmächtig vielleicht.“
Levin tippte sich an den Kopf. „Beim Kampf gegen einen Drachen ist nicht nur die Muskelkraft entscheidend.“            
Ich klopfte der Geste entsprechend auf meinen Helm. „Ja, eine entsprechende Rüstung sollte man auch tragen.“     
„Ähm, ich meinte eigentlich, das was unter dem … egal.“          
Es entstand ein Moment der Stille, in dem meine Begleiter und ich uns unsicher Blicke zuwarfen, bis Suena schließlich unseren Abschied erklärte: „Vielen Dank für Eure Hinweise, Levin. Wir werden uns wieder auf die Suche nach den anderen begeben.“         
„Ich wünsche euch viel Erfolg“, erklärte der Zauberer mit einem milden Lächeln.

Nunmehr jenseits der Baumgrenze zogen wir den steiler werdenden Pfad hinauf. Wir erblickten einen Findling, der sich gegenüber den anderen noch einmal an Größe hervortat – da fing der Wolfshund plötzlich zu bellen an. Er blickte dem Menhir entgegen, dann konnten wir neben seinem Bellen eine Stimme vernehmen, die von dort drang. Sie klang plump, von der Wortwahl beinah kindlich. Doch die Stimme selbst war tief und grollend: „Das Rind hat so lecker geschmeckt. Aber das ist jetzt ein paar Tage her. Hm. Oh, hörst du auch das Bellen?“       
Jemand antwortete in derselben Art zustimmend, da gab Mara bereits leise schnelle Anweisungen. Wir saßen von den Pferden ab, bei denen nur Dario und der Wolfshund blieben. Der Elfe folgend gingen Jenn, Suena, Zedd und ich direkt hinter dem Menhir in Deckung. Rasch machten wir die Waffen bereit, dann hörten wir bereits das Stampfen schwerer Füße. Das Wesen trat an dem Fels vorbei, den Blick in Richtung des scheinbar angerichteten Mahls gewandt.               

Es war ein Oger – zumindest dachte ich das auf den ersten Blick. Doch trotz der ähnlich unförmigen Proportionen überlanger Arme und ausladendem Leib, war dieses Wesen noch einmal einen Kopf größer als die mir bekannten Unholde. Doch was noch beunruhigender war: es war auch einen Kopf reicher. Zwei Schädel ragten auf kurzen Hälsen zwischen den Schultern des Geschöpfs heraus und sie unterhielten sich mit ihren plumpen Worten, wie man Hund zubereiten sollte.                               
Gerade wollte Mara das Signal zum Angriff geben, da hörten wir hinter uns weiteres Gebrabbel, gefolgt von mehr Gestampfe. Auch auf der anderen Seite des Menhirs trat ein zweiköpfiger Oger hervor, der seinen hünenhaften Schatten auf Suena und Zedd warf, die ihm am nächsten waren.

Die beiden fluchten und wichen vor dem Unhold zurück. Sie hatten keine Waffen bereit, hatten eigentlich ihre Zaubereien sprechen wollen. Rasch rückte ich vor, den Schild erhoben. Hinter mir stürzten sich Mara und Jenn auf den anderen Zweiköpfigen, der damit ebenbürtig beschäftigt war. Mich sahen zwei sabbernde Mäuler an und raunten: „Mittagessen!“                
Zur Antwort schlug ich mit meiner Streitaxt auf den ausladenden Oberleib der Kreatur ein. Der Hieb kam zu schnell, wenngleich vier Augen ihn entsetzt verfolgten. Ein breiter Blutschwall, verfolgt von einem widerlichen Gestank, ergoss sich aus der Wunde. Die Köpfe brüllten auf, dann schwang der Unhold seine Waffe – einen jungen Baum. Ich blockte mit dem Schild, doch die Wucht des Angriffs schleuderte mich gegen den Menhir. Meine Sicht verschob sich einen Moment ins Doppelte, dann sah ich, wie die Ogerkreatur erneut ausholte. Der Stamm flog wie vom Sturm geschleudert auf mich zu und diesmal duckte ich mich weg. Der Treffer landete mit voller Wucht im Menhir, aus dem einige Steinsplitter heraussprangen.            
„Zedd!“, brüllte ich. „Schaff deinen feingewandeten Arsch hierher!“  
Hinter mir hörte ich Jenn kurz Mara zujubeln, ehe sie vor Schmerzen aufschrie. Ein Schlag beförderte sie einige Meter nach hinten, sodass ich sie fast neben mir luftringend zum Liegen kam. Gerade wollte ich einen Ausfall gegen den Unhold wagen, da erstarrte ich vor Schrecken. Einer der Köpfe murmelte einen seltsamen, kakophonischen Singsang – und die klaffende Wunde am Oberkörper des Unholds begann sich zu schließen. „Bei allen Geistern“, fluchte ich. Im nächsten Moment rief Zedd etwas in einer mir unverständlichen Sprache. Es klang wie ein Befehl … dann dauerte es kaum noch ein paar Sekunden und der Boden rund um die Füße des Ogerartigen war voll mit kleinen, hüpfenden Tieren. Kröten. Hunderte.         
Mit einem breiten Grinsen kam Zedd herangestürmt und attackierte den Zweiköpfigen mit Unterstützung seines Ungeziefers. Während die Köpfe verwirrt brüllten, sich die an ihnen nach oben springenden Tiere wegwischten, war der Araner heran. Sein Kriegshammer traf den Unhold, federte jedoch zurück, als hätte er auf einen Pudding eingeschlagen. Der Zweiköpfige beachtete die Kröten nicht mehr weiter. Zornentbrannt schlug er nach Zedd, der sich mit einem Sprung rückwärts in Sicherheit brachte. Seinen Einsatz nutzte ich für einen Angriff, verpasste dem Ogerartigen noch einen kleineren Schnitt an der Leiste. Dann fegte ein eiserner Schimmer an mir vorbei – Mara trieb ihren Bihänder bis zum Anschlag in den Leib des Zweiköpfigen. Die Spitze der Waffe krachte auf der anderen Seite heraus, zertrümmerte dabei noch Knochen. Mit einer Drehung zurück wirbelte die Elfe um sich selbst und riss eine riesige Wunde in den Unhold. Beide Köpfe verdrehten die Augen ehe der massige Körper zu Boden stürzte.           
„Hat aber ganz schön gedauert bei euch Männern“, kommentierte sie knapp, ein schelmisches Grinsen auf den Lippen. Ächzend richtete ich mich auf, ging hinüber zu dem Zweiköpfigen und schlug ihm beide mit gezielten Hieben ab. „Elendes Drecksvieh. Wie nennt man so etwas?“              
Suena zuckte die Achseln. Auch die anderen wussten keinen raten. Zedd überlegte etwas, dann meinte er: „In der Fachsprache könnte man für zwei Di nehmen …, dio…. Kopf? Zwei Köpfe? Diokefali?“               
„Was?“, brummte ich. „Naja, was auch immer. Wo kamen eigentlich die Kröten her?“               
„Das wüsste ich aber auch gern“, fragte Suena. „Ich habe noch keinen Priester gesehen, der diesen Zauberspruch beherrscht.“     
„Ormuts Hilfe kann viele Formen annehmen“, gemahnte Zedd. „Selbst die Kleinsten können dabei helfen, sein Werk zu vollenden.“       
„Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich ein Wunder …“              
„Ormuts Wege sind unergründlich!“, beharrte der Priester. Ich sah indes rüber zu dem anderen Zweiköpfigen, den Mara und Jenn übel zugerichtet hatten. Die Ywerdonnerin war mittlerweile auch wieder auf den Beinen, auch wenn sie den Bewegungen nach zu urteilen nicht gerade schmerzfrei war. Suena gab ihr etwas Salbe gegen die Prellung, die wahrscheinlich ihren Oberkörper ein paar Tage blau färbte. Sollte ich irgendwann zurück nach Fuardain kommen, müsste ich meinem Stamm erzählen, dass es im Süden größere Oger gab. Und für die Kopfjagd zugleich lohnendere.

Wir sammelten uns, stiegen aber nicht wieder auf die Pferde. Der Weg wurde steiniger und wir mussten uns zwei Stunden über Geröllfelder hinwegkämpfen, die zwar nicht bei jedem Tritt abgingen, doch gefährliches Potenzial abgingen. Dann kamen wir unterhalb der Bergkuppe an. Wir waren dem Drachenkessel nun sehr nah, berührten bereits seinen dunklen Fels. Doch ein direkter Weg war zunächst nicht ersichtlich. Da fiel mein Blick auf einen Spalt im Fels, gerade breit genug, um sich in ihm nach oben zu drücken. Ein 50 Meter hoher Kamin.
„Da geht es wohl nach oben“, meinte ich halblaut.        
„Sehr gut!“, rief Mara aus. „Kaminklettern ist doch leicht.“       
„Das sind fünfzig Meter“, brummte ich. „Ein Fehler und das war es dann.“       
„Ach was“, sagte die Elfe. „Diese Herausforderung nehme ich an.“       
„Ich bin auch eine gute Kletterin“, offenbarte Jenn. „Das war immer eine schöne Abwechslung, wenn ich mal aus Dinas Taran herauskam und mich im Gelände ausprobieren konnte.“              
„Ihr zwei mögt vielleicht gut klettern können, aber diese fünfzig Meter zu überwinden ist gefährlich. Egal wie gut man ist“, versuchte ich ihnen hingegen meine Erfahrung nahezubringen. Doch mit diesen Frauen war keine Vorsicht zu haben. Sie sicherten sich gegenseitig in seiner Seilschaft und nahmen noch ein Seil mit, um uns dann nachholen zu können.        
Jenn legte vor, schob sich die ersten zehn Meter im Kamin souverän nach oben. Mara folgte ihr flink, als wäre sie in den Bergen geboren. Dann ging es weiter nach oben. Der Kamin hatte tatsächlich eine angenehme Breite, in der sich der Rücken schön gegen den Fels pressen ließ, während sich die Füße Stück für Stück nach oben schoben. Doch so leicht es sich klettern ließ – die beiden waren nun auf zwanzig Metern. Ein Sturz würde sie sofort töten. Ich schüttelte nur den Kopf. Jenn nahm die nächste Etappe hoch, Mara wollte nachkommen – da rutschten ihr die Füße weg.        
Als hätte man ihr den Stuhl weggezogen glitt sie mit geradem Rücken den Fels einige Meter nach unten, ehe sie die Füße wieder gegen die gegenüberliegende Wand schlug und Halt fand. Ich spürte den stechenden Schmerz in Waden und Knien, als würde ich selbst dort hängen, doch die Elfe gab keinen Ton von sich. Stoisch schloss sie wieder zu Jenn auf. Diese legte dann wieder vor, kam bis auf fünfunddreißig Meter. Nach oben war es jetzt immerhin weniger als nach unten. Und tödlicher konnte der Sturz ja quasi nicht mehr werden. Nur länger.      
Mara folgte Jenn bis zu dreißig Metern, da hielt sie plötzlich inne. Sie schien kurz mit Jenn zu diskutieren – als ich genau hinsah bemerkte ich, dass der Fels an ihrem Rücken etwas vorstand, was das Hochdrücken erschwerte. Nach der kurzen Absprache versuchte sie, ihren Oberkörper von der Wand wegzudrücken … ihre Hände glitten vom Fels ab, die Füße von der gegenüberliegenden Wand. Wie eine Kerze rauschte sie nach unten, ein Meter, zwei, drei – ein Ruck ging durch ihren Leib, als sich das um sie gelegte Seil spannte, in ihre Haut schnitt. Jenns Keuchen war bis zu uns am Boden natürlich nicht zu hören, doch die plötzliche Belastung fiel ihr selbst bei einer zarten Elfe auf. Dieser gelang es jedoch wieder Halt zu finden. Den restlichen Weg bestritten die beiden schließlich ohne weitere Zwischenfälle. Doch selbst am Boden hatte ich bei den kleinen, aber potenziell verheerenden Fehlern zu schwitzen angefangen. Gerade wollte ich meine Handschuhe ausziehen, um meine nassen Handflächen an der Hose abzuwischen – da fiel mir seltsam der Zügel auf, den ich in der Hand hatte. „Nun“, meinte ich. „Was machen wir eigentlich mit den Pferden?“       
Ich erntete einige verdatterte Blicke. Zedd meinte schließlich: „Wir müssen sie wohl hierlassen. Der Drachenkessel ist so gut wie erreicht.“           
„Was seht ihr denn da oben?“, rief Suena Mara und Jenn zu.  
„Einen Krater“, gab die Ywerdonnerin erwartungsgemäß zurück.          
„Sonst nicht viel“, ergänzte Mara. „Keine Spur von Kuriens oder seinen Begleitern. Drachen gibt es hier gerade auch keine.“                
„Dann müssen wir dort oben vielleicht noch etwas länger suchen“, meinte ich. „Wir sollten einen Weg suchen, der uns diesen Kaminaufstieg erspart.“               
„Gute Idee“, stimmte mir Suena zu. Dario nickte, während Zedd sich am Klettern versuchen wollte und sich das Seil umlegte. Als er das erste Mal strauchelte, sahen Suena und ich uns nur kurz an, schüttelten den Kopf und wandten uns ostwärts. Der Pfad führte dort weiter den Kessel entlang. Er stieg nur sanft an, weswegen dieser Umweg wahrscheinlich einige Stunden dauern konnte, doch diese Zeit schien es mir wert.

Wir kamen in der Zwischenzeit an einer erainnischen Bäuerin vorbei, die hier auf der Suche nach Kräutern war, sich mit uns jedoch nicht verständigen konnte. Also wanderten wir noch etwas weiter, gelangten zu einer Engstelle – als zwei Oger aus einer Höhle heraustraten und auf uns zustürmten.  Die beiden vordersten Pferde bäumten sich wiehernd auf, als sie die weit über zwei Meter großen grauhäutigen Ungetüme erblickten. Dario griff entschlossen ihre Züge und redete beruhigend auf sie ein, während ich mit aufgerissenen Augen zu Suena blickte. „Zwei schaffe ich nicht.“         
„Verschaff mir etwas Zeit!“       
Ich nickte, packte meinen Schild und rannte den Ogern entgegen. Nach links war der Pfad abschüssig, nach rechts zog er sich steil hoch. Die Grauhäute kamen nicht an mir vorbei – zumindest, bis sie mich mit ihren übergroßen Keulen eingestampft hatten. Ich nahm erst gar nicht meine Axt zur Hand, sondern hielt meinen Schild doppelt. Der erste Schlag traf mich, als wäre ein Pferd aus vollem Galopp in mich gerannt. Ich rutschte einen Meter zurück, entging so dem nächsten Hieb. Doch die Oger blieben an mir dran. Sie stießen lautes Gelächter aus, warfen mir wohl auch einige Brocken Erainnisch als Beschimpfung an den Kopf, doch ich hielt stoisch aus. Der nächste Treffer saß erneut und ich konnte nicht genau sagen, ob das Knacken vom Holz meines Schilds oder meiner Gelenke herrührte. Noch ein Treffer, ich wurde weiter zurückgeschoben. Ein weiterer, das Schild entglitt mir beinah und die Keule konnte mich bei der Abprallbewegung noch an der Schulter erwischen. Bereits dieser Streiftreffer riss mir eine Wunde durch das Kettenhemd.          
Dann hielten die Oger plötzlich inne. Ihr Blick wanderte über mich hinweg, fixierte etwas hinter mir. Die Augen weiteten sich, die Lippen begannen zu beben – dann stießen beide gleichzeitig einen hohen Schrei aus, wie ich ihn noch nie von einer dieser Kreaturen vernommen hatte. Einer ließ gar seine Keule fallen, beide wandten sich ab und rannten lauthals schreiend davon. Ich atmete einmal tief aus, wandte mich um und nickte Suena dankbar zu. Was auch immer diejenigen sahen, die Opfer ihrer Flüche wurden, es musste grausam sein. Aber nützlich.

Nachdem Suena mich verarztet und Dario die Pferde endgültig beruhigt hatte, setzten wir unseren Weg fort. Es war Abend, als wir auf diesem Weg die Bergkuppe erreichten und auf den Drachenkessel hinabblicken konnten. Er war ein zweihundert Meter durchmessender Krater, der größtenteils mit grobem Geröll bedeckt war. Von oben sah er wie ein einheitlicher Brei aus Grau aus, es gab nicht eine Pflanze, die einen grünen Klecks in diese triste Szenerie warf. Im Zentrum des ganzen lag eine wieder etwa siebzig Meter durchmessende Fläche, die nicht weiter nach innen einsank.                
Die anderen hatten bereits etwas Holz gesucht für ein Lagerfeuer gesucht. Da nun auch die Zelte da waren, konnten wir ein Lager aufschlagen. „Warum habt ihr eigentlich so lange gebraucht?“, fragte Zedd.                
„Wir mussten noch zwei Oger in die Flucht schlagen“, brummte ich.    
„Naja, also wir haben hier ja bequem gelagert.“                            
Ich sah den Priester kurz an. „Kannst du mir gerade mal meinen Ogerhammer holen? Ich muss diesen … Zeltnagel einschlagen.“   
„Schon verstanden“, meinte der Priester, grinste und kümmerte sich dann wieder um seine eigene Schlafunterbringung.                

Den nächsten Morgen nutzten wir, um auf dem Kamm rund um den Krater nach Spuren Kuriens‘ oder seiner Begleiter zu suchen. Doch der karge Boden gab nicht viel her, worin sich ein kurzer Aufenthalt widerspiegeln konnte und mit dem übrigen schienen die Reisenden wohl sparsam. Es gab nur zwei Wege von dem Drachenkessel herunter, über den Kamin und den langen Weg außen herum. So blieb nur, dass dieser gealterte Abenteurer und seine Begleiter in den Krater gestiegen sein mussten.            
Wir ließen die Pferde oben angebunden während wir den Geröllhang hinabstiegen, bis wir den ebenen Grund erreichten, umgeben von grauem Fels. Zwischen den Steinen gab es mehr und mehr Steine, nirgendwo war auch nur ein Unkraut, das sich seinen Weg zur Sonne erkämpft hatte. Auch hier war keinerlei Spuren auszumachen.      
„He, seht!“, rief da plötzlich Zedd aus. „Dieser Fels … er sieht fast aus, als würde er auf etwas zeigen.“ Ich blickte zum Priester, der bei einem dreieckigen, recht hohen Stein stand. Nahm man die Spitze als Richtungsanzeige, so zielte er auf einen weiteren Felsen – an der gegenüberliegenden Seite des Kraters. Es war ein riesiger Brocken am Rande der Ebene und wir suchten um ihn herum, ob sich hinter ihm vielleicht eine Höhle befand – Fehlanzeige.              
„Und was, wenn das vielleicht nur ein etwas ungewöhnlicherer Fels ist?“, fragte ich.  
„Wartet! Erinnert euch an das Rätsel oder Anweisung, wie man es nimmt“, fiel es Mara ein. „Am Tag der Sonnenwende, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht, wird Euch der Weg gewiesen, erstrahlt das Tor in seinem magischen Licht – wenn die Sonne ihren nächsten Stand erreicht! Wir müssen nur bis zum Mittag warten, dann wird sich zeigen, was wir finden müssen.“            
„Nur ist die Sommersonnenwende bereits einige Tage zurück“, warf Zedd ein.             
„Verlieren können wir durch das Warten allerdings auch nichts“, meinte Jenn und versuchte es sich demonstrativ auf dem Boden bequem zu machen. Dem Wolfshund winkte sie zu, rief ihn bei seinem neuen Namen „Utz“, doch es wollte nichts so recht geschehen. Auch den diversen Befehlen wollte er nicht gehorchen.  
Wir anderen setzten uns auch, schwiegen in die Sonne hinein, deren Strahlen allmählich in den Kessel hineinkrochen. Suena begann sogar, eine ruhige Melodie auf Neu-Vallinga zu singen. Ein paar Wörter erkannte ich aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu Handelssprache, den Rest füllte ich mit eigenen Gedanken und dem Gefühl, das die Lidralierin in das Lied legte.   

Es wurde Mittag – und es geschah nichts. Mit verzogenem Mund blickten wir zu dem angezeigten Felsen. „Ob wir ihn wegschieben müssen?“, überlegte ich. „Er sieht allerdings äußerst massiv aus.“
„Vielleicht zu zweit oder dritt?“, meinte Jenn.
„Würde der Boden dort nicht deutlich aufgewühlter aussehen, wenn man diesen Fels weggestoßen hätte?“, warf Mara ein.       
Während wir überlegten, war Zedd bereits zu dem Felsen hingegangen und stieß testweise gegen ihn – seine Hand versank im Stein. Ich blinzelte, traute meinen Augen nicht. Dann verlor der graue Fels plötzlich seine Konturen, wurde durchlässiger … und verschwand. „Eine Illusion“, sagte Suena. „Eine einfache Illusion.“              
„Scheiß Zauberei“, brummte ich, was mir einen vorwurfsvollen Blick unserer Hexe einbrachte. Entschuldigend hob ich die Hände. „Ist ja gut, es ist nicht alles schlecht.“   
Nachdem sich die Illusion des Steins aufgelöst hatte, war hinter ihm ein Höhleneingang zu erkennen, der natürlich aussah. Jedoch war in den Fels über ihn eine Inschrift eingemeißelt, die uns Jenn mit einiger Skepsis vorlas: „Gib Acht, Wanderer, wenn du diesen Pfad gehst. Du wirst deine Welt verlassen und nie wieder betreten … und weiter: Wo rohe Gewalt zum Ziele dich nicht führt, wird durch eine sanfte Hand der Weg erspürt. Das klingt nicht sehr einladend und seltsam.“  
„Aber uns bleibt keine Wahl. Oder zumindest mir bleibt keine“, meinte Suena.             
„Solche Dinge sind selten so verbindlich, wie es klingen mag“, versuchte des Zedd mit etwas mehr Zuversicht. „Oder zumindest vermag ein geschickter Geist die Hindernisse zu umgehen. Nur der Weg in diese Höhle ist zu schmal für unsere Pferde.“             
„Wir können sie aber schlecht unbewacht hier lassen. Es gibt hier Oger und andere Unholde“, merkte Dario an.          
„Vielleicht müssen sie den Weg alles Irdischen gehen …“, überlegte Zedd weiter.        
„Oder ich bleibe hier und bewache sie“, schlug der Ordenskrieger plötzlich vor.            
„Deine Kampfkraft könnten wir da drin aber gebrauchen“, entgegnete ich dem Plan.
„Es macht durchaus Sinn. Dario verfügt über die Fähigkeiten, sich hier auch alleine mit einem oder zwei Ogern auseinanderzusetzen“, merkte Suena an, woraufhin sich Mara auffällig räusperte. Ihre Freundin wandte sich an sie: „Willst du etwa bei den Pferden warten?“       
„Ähm … eher nicht“, gab Mara zu.         
„Dann soll es so sein. So verbleibt im Zweifelsfall auch mindestens ein Streiter Ormuts mehr auf Midgard. Ich wünsche euch viel Erfolg!“, schloss Dario das Gespräch.

Wir gingen zunächst noch einmal zu unseren Pferden, um das Gepäck mitzunehmen, welches wir jenseits des kryptischen Höhleneingangs gebrauchen mochten. Nachdem wir uns auf das Nötigste beschränkt und einiges umsortiert hatten, waren wir bereit. Der Abschied von Dario fiel knapp aus – die Hoffnung war groß, dass der warnende Vers nur zufällige Wanderer abschrecken sollte. Wir hatten dem Dämonenfürsten Sharku gegenübergestanden.            
Die Höhle führte lange gerade aus in den Berg hinein. Ich entzündete das Licht meiner neu erworbenen Laterne, sodass wir vorankamen, bis sich der Gang in eine große Grotte weitete. Ein Windhauch umspielte meinen Kopf, ich spürte, dass meine Haare leicht nach vorne geweht wurden. Das hatte ich den ganzen Gang hier entlang nicht gespürt. Vor uns lag unwägbare Dunkelheit – die sich nicht dafür zu interessieren schien, dass ich eine Laterne entzündet hatte. Stoisch blieb sie finster, als wäre sie ein dicker Stoff. Doch mit der Hand war kein Widerstand zu spüren. Ein leichtes Zupfen an den Fingerspitzen jedoch. Mara grinste abenteuerlustig und lief uns voraus. Gerade erhaschten wir noch ihre Konturen, dann schien sie sich gegen etwas zu stemmen. „Ich spüre einen Sog … wir sehen uns gleich!“           
Dann verschwand sie, wie davongeweht. Zedd zuckte die Achseln und folgte ihr in die Dunkelheit, dann kamen auch Suena, Jenn und ich nach. Nach einigen Metern auf dem Fels nahm ich kaum noch etwas um mich herum wahr – dann war da dieser Sog, um ein vielfaches stärker als ein Windhauch. Das kleine, unwirksame Licht meiner Laterne erlosch, dann machte ich noch einen Schritt … und wurde nach vorne weggerissen.

Im nächsten Moment stolperte ich über felsigen Boden, als wäre ich aus einem Sprint gekommen. Die anderen waren bei mir, wir standen in einer kleinen Höhle, in die durch einen Ausgang direkt vor uns Licht fiel. Hinter uns war eine undurchdringliche Felswand.   
Jenn tastete den Stein ab, doch dieser war wirklich (und nicht feucht). Somit gab es für uns nur einen Weg, aus der kleinen Höhle hinaus an die frische Luft …

Wir waren in einem grünen Tal angekommen. Weite Wiese erstreckte sich vor uns, in der Ferne waren kleinere Wälder auszumachen. Im Westen lag ein Felsplateau, die anderen Richtungen wurden gen Horizont von noch steileren Abhängen begrenzt. Direkt einige Meter vor uns stand die Statue eines kleinen Mannes in Waffenrock und mit einem Kurzschwert am Gürtel. Er wirkte zielstrebig, war so behauen, dass er mitten in Bewegung schien – mit Blick in Richtung des Felsplateaus.    
„Wo könnten wir hier sein?“, fragte Suena. „Es gibt keine Ähnlichkeiten zur Umgebung von Torren oder gar dem Drachenkessel.“             
„Den Pflanzen nach zu urteilen, würde ich aber von Vesternesse ausgehen“, meinte Zedd.    
„Vielleicht Alba“, überlegte Mara. „Allerdings kein Teil, den ich selbst bereist habe.“   
Ich suchte derweil den Boden ab, ob es hier vielleicht auffällige Spuren gab – doch falls Kuriens‘ Gruppe hier vorbeigekommen war, so hatten sie hier kein Lager aufgeschlagen.    
„Das ist ja gar kein Mensch“, stellte Zedd fest, als er sich die Statue des kleinen Mannes näher ansah. „Das ist ein Halbling aus dem Halfdal!“          
Suena trat neben den Priester und nickte. Plötzlich weiteten sich ihre Augen, sie tastete den Fels ab, dann sagte sie: „Das ist auch keine Statue. Dieser Halbling wurde versteinert!“        
Ich schluckte, als ich mir den kleinen, steinernen Mann ansah. „Wer kann so etwas?“                
„Vielleicht derjenige, der aussieht wie Gembal …? Aber das ist nur eine Vermutung, wer weiß, wie das mit Zeit und Raum hier funktioniert – vielleicht war es sogar der richtige Gembal bei ihnen und der richtige bei uns“, überlegte Suena laut. Kopfschmerzend versuchte ich ihre arkanen Überlegungen zu verfolgen, verwarf es dann aber und fragte stattdessen Zedd: „Kannst du den Halbling wieder zurückverwandeln?“     
„Leider nicht, diese Weisheit muss ich mir noch durch tüchtigen Dienst in Ormuts Auftrag erarbeiten.“             
Ich versuchte den Halbling anzuheben – es war möglich, er war steinern ungefähr so schwer, wie ein ganzer Mann. Aber schnell kämen wir mit ihm nicht vorwärts. „Wo wollen wir jetzt hin?“  
„Der Halbling wollte zum Steinplateau. Und falls er derjenige ist, der Kuriens zu dieser ganzen Sache überredet hat, dann sollten wir es doch dort versuchen“, schlug Suena vor.               
„Nehmen wir ihn mit?“, fragte Jenn, die meine Bemühung belustigt verfolgt hatte.    
„Es sind drei oder vier Meilen. Vielleicht doch etwas weit“, brummte ich verhalten. „Zudem wir ihn da hochhieven müssten.“         
„Und wenn er zerbricht, ist er tot“, meinte Suena knapp. „Lassen wir ihn hier, bis wir einen Zauberer gefunden haben, der den Bann lösen kann.“

Damit brachen wir westwärts auf. Es war ein angenehmer Weg durch die weite Wiese des Tals. Hie und da lagen einige Felsbrocken herum, ein paar Säulen oder Mauernreste ließen erahnen, dass hier vor einigen Jahrzehnten auch jemand gelebt hatte. Aber das war so lange her, dass sich nichts mehr darüber sagen ließ, wer das gewesen sein mochte.                     
Wir hatten gerade eine Meile zurückgelegt, als ein stürmischer Wind aufzog. Meine Haare wehten wild hin und her, als könnten sie sich nicht entscheiden, aus welcher Richtung sie fortgeschleudert wurden. Das Brausen des Windes verstärkte sich, doch von dunklen Wolken hatten wir nicht viel gesehen. Sollte so schnell ein Sturm aufziehen? Dann legte sich ein Schatten über uns und wir blickten nach oben.

Gegen den blauen Himmel zeichnete sich eine große Gestalt ab, die mit einem gewaltigen Tosen auf uns zuschoss. Die Strahlen der Sonne trafen auf einen massigen, geschuppten Leib – ein goldener Leib, bereits fünf Meter lang und dazu kam ein langer Schweif, vier Beine, die in schwertartigen Krallen endeten, lange fledermausartige Flügel und ein langer Hals mit einem gehörnten Schädel. Und aus tiefem Quell erklang die Stimme des goldenen Drachen: „Was macht ihr in meinem Reich?“
Wie eine Erschütterung zogen seine Worte durch unsere Körper und einen Moment erstarrten wir alle. Dann fiel der Bann und wir stoben auseinander – Mara und Suena rannten hinter eine nahestehende Ruinenmauer, Jenn, ihr Wolfshund und ich hinter eine kleine Felsgruppe. Zedd rannte in eine andere Richtung hinter einen besonders großen Monolith. Denn der Drache bremste nicht ab, erwartete keine wirkliche Antwort – und gab einen Feuerstoß in Richtung der alten Mauer ab.                
Wir sahen die beiden links und rechts des Infernos wegspringen und so gerade noch der bis zu uns spürbaren Hitze entkommen.    
„Scheiße, ich hab meinen Bogen nicht mitgenommen, ich dachte, wir gehen in eine enge Höhle“, fluchte ich.               
„Nimm den hier“, sagte Jenn hastig und drückte mir die Waffe des verstorbenen Elfen in die Hand. „Ich kann damit eh nicht schießen.“         
Dankbar nahm ich Bogen und Pfeile, nockte an und zielte auf den massigen Leib des Drachen. Er flog gerade eine Kurve, drehte sich zu uns – und ich schoss. Der Pfeil glitt knapp am Halsansatz zwischen die Schuppen. Etwas Blut tropfte dem absplitternden Geschoss nach, doch der Drache schien es kaum zu beachten.               
„Ich habe einen Drachen verwundet!“, brüllte ich nichtsdestotrotz. Und der nahm nun Kurs auf uns.

Den Bogen ließ ich ihn den Schutz der Felsen fallen, dann griff ich meinen Ogerhammer. „Komm doch her, du Biest!“                
Ich spürte die Erschütterung, sah das von der Sonne beschienene Gold – plötzlich war der Drache vor uns. Ein Atem von Fäulnis und verbranntem Fleisch quoll Jenn und mir entgegen, als die geflügelte Echse vor uns landete. „Ob ihr so lecker schmecken werdet wie meine letzte Beute?“, fauchte der Drache und schlug mit seiner Kralle zu. Ich entging dem Angriff gerade so, Jenn sprang über die Felsen, dem Biest entgegen. Ich begann mit meinem Ogerhammer auszuholen – pinnte mich selbst damit an Ort und Stelle fest, ein leichtes Ziel für den Drachen.        
Doch gerade als er genüsslich die gespaltene Zunge im Rachen schnalzen ließ, traf ihn ein blankes Eisen in der Flanke. Marathaeintir Vènthiel war auf den Drachen losgegangen und hatte den ersten Wirkungstreffer gelandet.    
Der Goldgeschuppte stieß einen Schrei aus, ehe er mit dem Schweif nach Mara ausschlug. Wie von einer riesigen Keule erwischt, warf es die Elfe einige Meter zurück – gleichzeitig biss der Drache zu. Seine Kiefer schlangen sich um meine Brust, rissen Teile des Kettenhemds durch und drangen mir bis aufs Fleisch. Doch für einen einzigen Happen war ich ein zu zäher Brocken für das Ungetüm, es ließ los, Blut floss mir den Leib entlang. Aber ich stand noch, während das Ungetüm abheben wollte, und warf mich in den Schwung meines Ogerhammers. Die vollen zwanzig Pfund Eisen trafen den Drachen direkt am Schädel. Einige Schuppen schienen direkt zu Goldstaub pulverisiert, Blut stob in einer Wolke hervor. Doch womit ich einen Menschen getötet hätte, schüttelte der goldene Drache ab und schwang sich in die Luft.

Er nahm Kurs auf Suena. Die Hexe reckte ihm ihre Hände entgegen, doch ihren Flüchen schien er zu widerstehen, die Frostbälle nahm er hin – er schoss auf sie zu und streckte die Krallen nach ihr aus. Sie stieß einen Schrei aus, dann hatte der Drache sie gepackt. Hinter seinen Klauen sah sie aus wie in einem Käfig, der sich jedoch daran machte, in die Luft zu steigen – und sie dann fallen zu lassen.
Doch mit tänzerischer Gewandtheit schlüpfte die dünne Lidralierin durch die dolchartigen Fänge hindurch und rollte sich am Boden ab.

Der goldene Drache stieß einen erzürnten Schrei aus, brach seinen Aufstieg ab und landete direkt vor Suena. Die Zauberin stand nun Auge in Auge mit der Bestie, die das Maul weitete, um sie zu verschlingen.               
Jenn war als erste zur Stelle. Sie sprang auf den ersten, dann den zweiten Stein, war dann auf der eingestürzten Ruine – und hüpfte in den Drachen hinein, den Rapier nach vorne gereckt. Doch der Goldene wischte sie mit einem Flügelschlag bei Seite. Mara kam als nächste, schwang ihren Bihänder und lenkte den Drachen damit weiter von Suena ab, die versuchte, etwas Abstand zwischen sich und die felszermalmenden Kiefer zu bringen. Und Zedd tauchte auf. Begleitet von einem mannsgroßen Schwarm aus Heuschrecken, Mücken und weiterem Ungeziefer, das direkt auf die Augen des Drachen zuhielt, stürmte er in einer Geschwindigkeit, die ihm nur sein Gott verleihen konnte, heran. Mit einem Fauchen stieß sich das geflügelte Monster vom Boden ab, ehe er von uns umzingelt werden konnte und setzte zu einem weiteren Atemstoß an, der einen Flächenbrand auf diese Ebene legen würde. Ich versuchte ihn mit einem Pfeil abzulenken, doch der Panzer des Drachen war zu hart – doch Zedds Fliegen suchten sich einen Weg an die Augen, in die Ohren, in den Mund des Monsters, kitzelten dort womöglich seinen Gaumen.         
Der Drache stieß ein Fauchen aus … es klang beinah genervt. Und dann drehte er in der Luft ab und schoss in Richtung des Felsplateaus davon.

„Wir haben überlebt!“, rief ich erleichtert, den Blick dabei fest auf den Drachen geheftet, der uns nicht nur täuschte, sondern binnen einer Minute mehrere hundert Meter zwischen sich und uns brachte.             
„Ihm nach!“, forderte Mara.     
„Was?“, ächzte ich. „Das ist ein verdammter Drache.“
„Und wir haben ihm gut zugesetzt. Wenn nicht jetzt, wann dann?“      
„Wir sollten erst nach unseren eigenen Wunden sehen“, ächzte Suena, die sich wohl bereits selbst auf der Erde aufplatzen gesehen hatte. Mara verzog das Gesicht, stimmte aber zu. Ich nahm derweil meinen Ogerhammer zur Hand. An seinem Kopf klebte eine gehörige Ladung Drachenblut – genug, um mir zur Rüstung zu werden? Neugierig strich ich etwas der kochend warmen Flüssigkeit auf meinen linken Unterarm.

Es fühlte sich an, als hätte ich in siedendes Öl gegriffen. Ich schrie laut auf, packte meinen Wasserschlauch und wusch das Drachenblut so schnell ich konnte wieder ab. Was blieb war keine feuergeschützte Haut sondern dicke Brandblasen. Suena kam zu mir und verstrich etwas Salbe auf der Stelle, ehe sich noch Zedd dazu gesellte und auf meine Wunde, die mir dir der Drache selbst zugefügt hatte, die Hände legte. Unter seinen murmelnden Worten begann sich die Wunde langsam zu schließen.          
„Danke.“            
„Dank Ormut“, erwiderte der Priester. „Und was das Drachenblut angeht – ich glaube, man muss wirklich vollständig darin baden, damit es seine Wirkung zeigt.“
Ich blickte auf meinen bandagierten Unterarm und schüttelte den Kopf. „Wer überlebt das?“
„Wahrscheinlich die wenigsten“, schätzte der Araner lakonisch.

Nachdem wir uns wieder gesammelt hatten, machten wir uns tatsächlich auf den Weg zum Steinplateau. Zumindest konnten wir von dort aus einen Überblick über das Tal gewinnen.        
Das Felsplateau ragte steil aus dem umliegenden Grasland hervor, das zwar in diese Richtung etwas hügeliger wurde, aber dann abrupt an einer Felswand stoppte. Im Stein boten sich viele Griffmöglichkeiten, was den Aufstieg erleichtern sollte. Wir bildeten eine Seilschaft an deren Ende der Wolfshund in einem Geschirr hing, um von uns hochgezogen zu werden und begannen, das Plateau zu erklimmen. Der Fels war verlässlich und gut zu besteigen, sodass wir nach wenigen Minuten die Oberfläche des Plateaus erreichten.

Es war ein sehr zerklüftetes Terrain, welches zuweilen geschwärzt war, als hätte ein großer Brand getobt. Die Anwesenheit von Drachen in diesem Tal erklärte das wohl von selbst. Das Plateau bot wenig Raum, sich zu verstecken, wollte man nicht nur in eine der bodenlosen Spalten springen und verschwinden. Doch in nördlicher Richtung stiegen die Berge rund um das Tal noch einmal deutlich gegenüber dieser zerklüfteten Ebene an. In diese Richtung, vielleicht zwei-, dreihundert Meter entfernt lag eine Höhle. Sie war belegt und aus dem unergründlichen Inneren ragte der meterlange Schwanz eines Drachen hervor – bereits an sich länger, als der goldene Drache selbst. Dieser hier war blau geschuppt.           
„Ein noch größerer Drache“, ächzte ich.              
„Noch größerer Ruhm“, folgerte Mara. „Und sicher auch ein größerer Hort.“  
„Das ist doch Wahnsinn! Der ‚kleine‘ hat uns gerade schon fast verfackelt.“     
„Flambiert meintest du wohl“, warf Zedd ein.
„Meinetwegen auch das.“         
„Psst!“, drängte sich Suena ins Gespräch und flüsterte weiter: „Nicht so laut, wer weiß wie gut der Drache hören kann. Ich halte es auch für keine gute Idee, den Drachen anzugreifen. Selbst wenn wir ihn jetzt überraschen, irgendwo ist noch der Goldene.“         
„Zwei Drachen, noch mehr Ruhm“, meinte Mara, aber klang dabei schon selbst ironisch. „Nun gut. Dann kümmern wir uns später um die Bestien.“              
„Sehr gut. Jetzt lasst uns hier einen Überblick über das Tal gewinnen, dann verschwinden wir wieder.“

Wir wandten unsere Blicke gen Süden, wo dieses seltsame Tal weit vor uns ausgestreckt lag. Die umgebenden Berge ragten hoch auf, wirkten schroff und nicht gerade ohne weiteres zu erklimmen. Ein Fluss verlief zwei Meilen östlich von uns in Richtung Süden. An seinem Beginn lagen die Ruinen eines zerstörten Dorfes, das wohl das Opfer von Flammen gewesen war. Etwas weiter flussabwärts und ein Stück östlicher erblickten wir eine einsame Mühle, die jedoch intakt war. Der Fluss selbst mündete in einem See, an dessen Ufern ein weiteres Dorf lag – dieses war jedoch unbeschädigt und wurde von einer seltsamen Kuppel umspannt, die im Licht der Nachmittagssonne bläulich flirrte.
„Was ist das?“, fragte Jenn verblüfft. „Eine magische Kuppel?“              
„Ein Schutzzauber, würde ich schätzen“, sagte Suena. „Er scheint zu funktionieren, das Dorf dort sieht deutlich gesünder aus als sein Gegenpart. Es könnte sich lohnen, sich dort umzusehen.“
„Vielleicht kann man uns dort auch sagen, wo genau wir hier eigentlich gelandet sind“, raunte Mara. „Oder wann.“   
Unsere Blicke wanderten noch weiter im Tal auf und ab. Es gab noch einen weiteren Zufluss zum See, der aus östlicher Richtung kam, wo ein gewaltiger Wasserfall aus den Bergen hervorbrach. Insgesamt eine scheinbar weitgehend verlassene Gegend, was angesichts der geschuppten Ungeheuer kaum verwunderte.     
„Also zum Dorf?“, fragte uns Suena und wir nickten. Der Abstieg war schnell erledigt, auch wenn der Wolfshund sein Unbehagen darüber äußerte, schon wieder in ein Geschirr gehängt zu werden – und diesmal zunächst dutzend Meter über dem Boden zu hängen, ohne sich bewusst machen zu können, dass er nicht hinabstürzen und sterben würde.
Direkt südlich des Felsplateaus lag ein großer Wald, den wir zu unserem ersten Etappenziel auserkoren, in der Hoffnung, die Drachen würden uns dort nicht entdecken.

Zwischen den dichtstehenden Stämmen fühlten wir uns vorerst einigermaßen sicher. Der Wald war urwüchsig mit dichtem Gestrüpp am Boden, der unser Fortkommen etwas verlangsamte. Tiere waren nahezu keine zu bemerken. Die Vögel sangen nicht, kein Wild kreuzte unseren Pfad. Der allgegenwärtige Schrecken der geschuppten Ungeheuer am Himmel schien sich auch auf die Bewohner des Waldes auszuwirken. Da hörten wir plötzlich eine Stimme.      
„Das ist Erainnisch“, flüsterte Jenn leise. „Da redet jemand, aber er kriegt keine Antwort … obwohl er so reagiert.“    
„Klingt verrückt“, meinte ich.   
„Wir sollten dennoch nachsehen, wer das ist. Vielleicht können sie uns mehr über dieses Tal erzählen … oder diese Welt“, stellte Suena in den Raum. Da es nicht schien, als würden wir in eine Überzahl laufen, gingen wir der Stimme entgegen. Plötzlich rief sie etwas auf Erainnisch, das barsch klang – und deutlich an uns gerichtet. Jenn antwortete ihm, dann war da wieder die Stimme, diesmal auf Comentang: „Wer seid ihr? Kommt heraus!“
Wir kämpften uns der Aufforderung gemäß durch das Dickicht. Der Sprecher erwartete uns auf einer kleinen Lichtung. Er war etwa so groß wie ich, trug eine Kettenrüstung und ein gewaltiger Bihänder hing an einem Halfter auf seinem Rücken. Um seinen Hals hatte er eine vergoldete Kette mit der Darstellung einer Sonne als Anhänger. Und er war nicht allein: Sein antwortloser Gesprächspartner war ein Elf, der einen Bogen und ein Langschwert bei sich trug. Der bräunlich-grüne Mantel konnte ihn als Waldläufer identifizieren. Auffälliger war jedoch ein dunkles Tuch, das er über seiner unteren Gesichtshälfte trug und alles verbarg, was unter der Nase lag.               
„Ich bin Jenn, das sind meine Begleiter Suena, Gor, Zedd und Mara.“  
„Mein Name ist Agnor de Soël und das hier ist mein Begleiter Deroviel. Warum seid ihr hier? Das Tal ist gefährlich.“   
„Dasselbe könnten wir euch fragen“, gab ich zurück. „Wir kommen gerade von der Begegnung mit einem Drachen.“                
„Genau deshalb sind wir hier. Deroviel und ich und … nun, mittlerweile nur noch wir zwei sind hier, um einen Drachen zu töten.“                
„Ihr seid Drachenjäger?“            
„Seid ihr nicht etwas wenige für so eine Aufgabe?“      
„Mein Glaubensbruder Begar war noch bei uns, ein Priester des Xan. Doch das Feuer des Drachen hat ihn das Leben gekostet. Doch noch geben wir nicht auf, denn wenn es darum geht, diese Geschuppten zu erlegen, so ist eher eine gute List entscheidend.“       
„Wart ihr schon bei dem Dorf unter der magischen Barriere?“, fragte Suena. Agnor schüttelte den Kopf. „Wir sind hier, um einen Drachen zu töten, nicht um Pläuschchen zu halten. Wo ihr gerade davon spracht: Wo habt ihr einer dieser Kreaturen gegenübergestanden?“             
„Nordwestlich von hier. Er ist zum Felsplateau geflogen.“         
„Dann sollten wir ihm nachsetzen.“      
„Da haben ist noch ein Drache, ein anderer.“   
„Welcher Farbe waren ihre Schuppen?“             
„Der erste, dem wir begegneten, war golden. Der andere blau.“           
Agnor nickte Deroviel grimmig zu, dann erklärte er: „Der Goldene ist derjenige, den wir verfolgen. Er hat unsere Heimat zerstört und muss dafür büßen.“           
„Ein Vorschlag zur Güte“, warf Zedd ein. „Im offenen Kampf hat sich der Drache als sehr zäh erwiesen und Ihr spracht auch bereits davon, dass es eine List benötige. Wäre es da nicht sinnvoll mit denen zu reden, die scheinbar schon länger direkt unter der Nase des Drachen überleben können?“        
Agnor kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Dann sah er zu Deroviel, der ein paar Handbewegungen ausführte, die sein Waffenbruder mit einem Nicken abnahm. „Das klingt nach einem Plan. Aber bevor wir über die offene Ebene zum Dorf marschieren, sollten wir den Schutz der Nacht abwarten.“     
„Das klingt vernünftig“, schloss Zedd. Gemeinsam mit den beiden schlugen wir ein kleines Lager auf. Agnor gab sich als ein Ordenskrieger des albischen Sonnengottes Xan zu erkennen, was Zedd mit einem anerkennenden Nicken zur Kenntnis nahm. Wer weiß, wie er diesen unsichtbaren Sonnenfreund in Verhältnis zu seinem eigenen setzte. Deroviel blieb schweigsam und ich vermutete, dass das Tuch eine schlimme Kriegsnarbe verdeckte, vielleicht eine, die ihm die Stimme geraubt hatte. Bei einem kleinen Lagerfeuer nahmen wir gemeinsam das Abendessen zu uns, wobei sich der Elf zurückzog.                
„Er kann nicht sprechen“, stellte ich fest. „Warum?“    
„Beim Angriff des goldenen Drachen wurde er von dem Flammenhauch getroffen. Er hat seinen Unterkiefer verloren“, erklärte Agnor knapp. Ich schluckte, die anderen hielten ebenfalls kurz inne. Das war heftiger, als ich erwartet hatte.                
„Er hasst den Drachen wohl mit am meisten.“
„Wir beide haben unsere Gründe, ihn zu hassen“, sagte Agnor. „Aber warum seid ihr hier? Wo kommt ihr her?“         
„Das ist etwas komplizierter“, fing Suena an. „Zunächst sei gesagt, dass wir aus Ealalinn aufgebrochen sind.“
„Ealalinn?“, wiederholte der Ordenskrieger erstaunt. „Ealalinn ist gefallen!“    
„Ähm, als wir aufgebrochen sind … wie lange ist Ealalinn schon gefallen? Wie kam es überhaupt dazu?“           
„Das fragst du noch? Die Drachen sind über die Stadt gekommen und haben sie niedergebrannt, vor Jahren schon.“
Suena stieß pfeifend Luft aus, dann versuchte sie mit knappen Worten unsere Reise hierher zu beschreiben. „… dann sind wir durch diese Höhle gegangen und kamen hier im Tal an, kämpften gegen den goldenen Drachen. Und trafen euch.“                
Der Ordenskrieger hob skeptisch die Augenbrauen, behielt aber für sich, ob er uns für wahnsinnig hielt. Suena fragte dann noch nach: „Seit wann gibt es hier in Vesternesse so viele Drachen?“  
„Seit Jahrhunderten schon. Sie richten immer größere Verwüstung an. Die nächstgrößere Stadt, die noch kein Opfer ihres verheerenden Feuers wurde, dürfte … ja, Corrinis sein.“           
Ich schluckte erneut. Als ich einmal eine Karte von Alba gesehen hatte, war diese Handelsstadt dort natürlich auch verzeichnet. Viel weiter südlich erstreckte sich dieses Land der Clans nicht mehr. Was auch immer in dieser Welt vor sich ging, es kam der Endzeit gleich.              
Jenn versuchte in der Zwischenzeit, ihrem Wolfshund Befehle beizubringen. „Los, Utz! Mach Platz! Komm schon … Platz!“ Die Ywerdonnerin streckte sich auf dem Erdboden aus, doch der Wolfshund bedachte sie nur mit einem gleichmütigen Blick. „Sitz! Sitz?“, versuchte es Jenn erneut. Dann warf sie ein Stöckchen zwischen die Büsche. „Hol! Hol das Stöckchen! Na komm, sei ein braver Hund.“    
Doch „Utz“ rührte sich nicht. Plötzlich sagte Mara etwas in einer klingenden Sprache, deren Silben wie ein Glockenspiel ineinanderfielen. Der Wolfshund machte Sitz. Die Elfe sagte etwas anderes und der Hund machte Platz.         
„Wie machst du das?“, fragte Jenn erstaunt.    
„Du hattest gesehen, wer das Herrchen des Hundes war?“, fragte Mara. „Ein Elf. Der Wolfshund nimmt entsprechend die Befehle nur in unserer Sprache entgegen, dem Eldalyn.“          
„Oh“, machte Jenn und schlug sich die Hand vor die Stirn. „Kannst du sie mir beibringen?“       
Die Elfe rang etwas mit sich, gab aber nach: „Ein paar Befehle werde ich dir erklären.“

Kurz darauf hatten wir unser kleines Abendessen eingenommen und Deroviel war wieder zu uns zurückgekehrt. Er zeigte auf den Himmel, an dem sich mittlerweile ein tiefdunkles Blau ausgebreitet hatte. Agnor nickte ihm zu, wir verstanden den Fingerzeig ebenfalls und brachen auf. Mit unseren beiden neuen Begleitern gingen wir südlich und als wir den Rand des Waldes erreicht hatten, war die Nacht vollständig hereingebrochen. Auf dem Weg fragten wir noch, ob die beiden Kuriens oder jemanden aus seiner Truppe gesehen hatten, doch scheinbar waren wir ihre erste menschliche Begegnung in diesem Tal. Nun blickten wir hoffentlich weiteren entgegen: Es waren vielleicht fünf oder sechs Meilen bis zu dem eigentümlichen Dorf und wir gingen im Laufschritt los.

Mein Blick wanderte immer wieder hinauf zum Himmel, doch außer ein paar Wolken trieb sich dort nichts herum. Es war ruhig im Tal, sodass man fast denken konnte, es gäbe hier keine geflügelten Monstren. Ein Blick auf Deroviels Rücken oder auch nur meinen bandagierten Unterarm brachte diese Gewissheit jedoch schnell wieder zurück.      
Südlich des Sees verlief ein weiterer Fluss, der aus dem Gewässer wegführte. Mit einer Brücke war er überquerbar gemacht worden und so standen wir nun kurz vor dem kleinen Dorf. Es war kreisförmig angelegt, umrahmt von Getreidefeldern, die teilweise in-, teilweise außerhalb der magischen Barriere lagen. Das Zentrum der Siedlung stellte ein großer Kuppelbau dar, der keine Verzierungen, Türmchen oder einen geraden Mauerunterbau hatte. In ähnlicher Bauweise waren fast sämtliche der übrigen Gebäude, die zum allergrößten Teil aus Stein gebaut waren. Eine scheinbar wohlhabende Siedlung, könnte man unterstellen – zu sehen war jedoch niemand.     
Kurz vor der Barriere kamen wir zum Stehen. Aus der Nähe sah sie fast aus wie das Flirren der Luft in an einem heißen Sommertag. Vorsichtig näherte ich meine Hand der Barriere und spürte tatsächlich ein leichtes Prickeln, das mir die Haare zu Berge gehen ließ. Jenn hob einen kleinen Stein auf, den sie in Richtung der Siedlung warf. Ohne Probleme passierte er den magischen Schutzschild. Ich atmete einmal aus und ein, dann machte ich selbst den Schritt. Ein kleiner Widerstand baute sich vor mir auf, als wäre ich in ein überdimensioniertes Spinnennetz gelaufen. Dann stand ich auf der anderen Seite, innerhalb der Kuppel und blickte meine Gefährten auffordernd an.    
„Ich lebe noch“, meinte ich. Suena lächelte kurz, dann trat sie neben mich. Die Barriere schien sie nicht im Geringsten zu kümmern. „Das war … einfach“, stellte sie selbst noch einmal überrascht fest. Dann fuhr sie sich, vielleicht unabsichtlich, über die Stirn und das dort gut sichtbare rote Mal.        
Jenn versuchte uns zu folgen, doch als sie das erste Mal auf die Barriere zutrat, war es, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Sie wurde zurückgestoßen, schüttelte sich kurz und versuchte es dann erneut. Im nächsten Anlauf klappte es, auch wenn sie noch einmal das Gesicht verzog. Der Wolfshund sah sie von außen nur mit schräg gelegtem Kopf an, auch Deroviel und Agnor schienen nicht überzeugt. Mara und Zedd versuchten es auch, doch sie wurden nicht nur einmal zurückgeworfen, sondern wieder und wieder. Nach dem vierten Mal schüttelte Mara den Kopf. „Versuchen wir das später noch einmal. Seht ihr doch erstmal nach, ob es sich überhaupt lohnt.“
„Und wenn ein Drache kommt?“, fragte Jenn.                
Zur Antwort tippte Deroviel auf seinen Langbogen. „Wir werden hier auf euch warten“, sagte Agnor.

Also waren wir vorerst nur zu dritt. Ich entzündete meine kleine Laterne, um zu vermeiden, dass man uns für nächtliche Angreifer hielt. Die Barriere schien die Einwohner indes jedoch zur Arglosigkeit verführt zu haben. Wir trafen auf keine Menschenseele, als wir zwischen den kreisrunden Häusern durch das Dorf gingen. Es waren ein paar Dutzend Behausungen, zwischen denen ein grob ausgebauter Weg einmal um das zentrale Kuppelgebäude verlief. Schließlich erblickten wir das erste Geschöpf in der Kuppel: einen Hund, der mitten auf der Straße stand. Die Schnauze hatte er uns entgegengereckt, doch er rührte sich kein Stück, als wir auf ihn zutraten. Er hätte eine Statue sein können, doch er war nicht aus Stein, sondern hatte ein weiches und sogar warmes Fell.       
„Ist er durch einen Zauber gelähmt?“, fragte Jenn.       
„Das könnte sein … aber er lebt“, stellte Suena fest, die nach dem Puls des Tiers gesucht und ihn gefunden hatte. „Aber das Herz schlägt sehr langsam.“              
„Seltsam“, kommentierte ich nur knapp, dann ließen wir den Hund auch erst einmal stehen. Wir gingen weiter durch den Ort, kamen dabei auch ein einem zweistöckigen Fachwerkhaus vorbei, das aus der üblichen Architektur hervorstach und sahen am Südende noch eine kleine Dorfschmiede. Doch nirgends ließ sich ein Einwohner ausmachen.           
„Vielleicht sind sie im Kuppelbau“, überlegte Suena. „Bei einer Art Versammlung.“     
Dem Gedanken folgten wir zunächst und traten auf das große Gebäude zu, das vielleicht auch ein Tempel für dieses Dorf war. Der Boden rund um die Kuppel war mit Steinen umlegt. Direkt vor dem Eingang war ein Schriftzug in die Pflastersteine eingefügt. „Oristar“, las Jenn vor und zuckte dann die Achseln.              
Der doppelflügelige Eingang ließ sich leicht aufschieben. Dahinter lag eine kleine Eingangshalle von etwa fünf auf fünf Metern. Hier hingen einige Kleider und auch Bögen bereit – möglicherweise eine Rüstkammer für die Anwohner, sollte ein Drache die Barriere überwinden können. Nur fragte ich mich, warum man für den Kampf gegen die Geschuppten lediglich kleine Kurzbögen bereitstellte. Aus diesem Vorraum führte nur eine metallene, schwer aussehende Tür weiter ins Innere des Baus. Eine Tür ohne Schloss und ohne Klinke. Suena ging auf sie zu und drückte dagegen, dann versuchte sie irgendwo einen Halt zu finden, um zu ziehen. Doch die Pforte rührte sich nicht.
„Sieht wohl nach einer Aufgabe für den Ogerhammer aus!“, sagte Jenn und kicherte.               
Mit einem Grinsen nahm ich die Kriegswaffe zur Hand, holte einmal weit aus und schlug mit voller Wucht zu. Ein Zittern ging durch den Hammerkopf, übertrug sich in den Griff. Die Schwingungen zogen in meine Gelenke – ein heftiger Treffer. Doch die Tür hatte nur eine kleine Delle. Ich versuchte es noch einmal, auf dieselbe Stelle … doch es veränderte sich nichts.                
„Nicht dieses Mal“, brummte ich. „Hier kommen wir vorerst nicht weiter.“      
„Dann lasst uns zunächst zu den anderen zurückgehen, bevor wir anfangen in den einzelnen Häusern herumzustöbern“, schlug Suena vor, womit Jenn und ich einverstanden waren. Wir fanden die vier mitsamt dem Wolfshund außerhalb der Barriere. Unsere Zauberin schilderte kurz, was wir bisher gefunden hatten, dann versuchten es Zedd und Mara noch einmal – und diesmal gelang es ihnen, die Kuppel zu betreten. Dabei sah die Elfe Suena noch einmal irritiert an. „Wie kam es, dass du so einfach hier reinkamst?“              
„Das kann ich dir auch noch nicht beantworten“, war die Antwort. Dann wandte sie sich an Agnor: „Wollt ihr nicht auch in den Schutz dieser Barriere kommen?“                
„Wir warten noch etwas hier, bis ihr etwas gefunden habt, das die Suche lohnt. Ich muss zugeben, dass ich diese Barriere etwas skeptisch sehe.“               
„Nachvollziehbar“, meinte Mara, die mit zugekniffenen Augen das magische Flirren begutachtete.

Damit trennten wir uns vorerst von den beiden Drachenjägern – und nahmen Kurs auf das auffällige, zweistöckige Gebäude nördlich des Kuppelbaus.

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