Es dauerte einige Minuten, bis wir zur Sprache zurückfanden. Bis wir den Kampf verarbeitet hatten, die Kälte, die Hitze – den Abgrund und das dämonische Wesen in der Tiefe. All die Empfindungen aus Zorn und Wut, aber auch aus Angst, rangen miteinander. Doch es schien mir, dass dieser seltsame weiße Stein eine beruhigende Wirkung hatte. Sein sanftes, gleichmäßiges Glimmen verschaffte uns einen Fixpunkt. Langsam breitete sich die Ruhe aus, bis Jenn die Stille durchbrach: „Dieser Dolch, den ich gefunden habe, mit dem Rubin. Er sieht so edel und kraftvoll aus. Glaubt ihr, er hätte etwas gegen diesen Dämonenfürsten ausrichten können?“
„Ich glaube nicht, dass irgendetwas von dem, was wir dort unten taten, etwas ausrichten konnte“, ließ sich Dario übersetzen. „Dieser Knecht Alamans konnte uns wegschicken sobald ihm dies beliebte. Wäre die Waffe eine Möglichkeit gewesen, so hätte er uns umgehend gebannt.“
„Aber wenn wir ihn überrascht hätten?“, fragte ich. „Meinen Hammerstreich hat er auch nicht gebannt.“
„Wir wissen nicht einmal, ob das, was wir gesehen haben, Wirklichkeit war“, wiegelte Suena ab. „Schließlich erwachten wir auf der Treppe.“
„Meine Wunden fühlen sich ziemlich wirklich an“, entgegnete ich und wies überflüssigerweise auf den dicken Verband, den sie mir gerade angelegt hatte.
„Du unterschätzt, welche Macht Illusionen haben können, wenn sie nur mächtig genug sind.“
Ich stieß einen Fluch aus, dann ließ Zedd vernehmen: „Es macht also keinen Sinn, jetzt einfach wieder da runter zu gehen. Wir müssen verstehen, was es mit Sharku auf sich hat. Nur dann können wir einen Schlüssel finden, ihn endgültig aus Midgard zu bannen.“
„Aber wir wissen ja nicht einmal, wie die Menschen hier hießen. Was sie mit dem Dämon zu schaffen hatten“, brummte ich. „Gar nichts.“
„Wir könnten es noch einmal bei der Insel versuchen. Vielleicht verrät uns diese magische Wegekreuzung noch etwas, das wir bisher übersehen haben“, schlug Suena vor. Sie erntete Stille – keiner wusste, was das helfen sollte, aber es gab auch niemanden, der eine bessere oder überhaupt eine Idee hatte. Daher rappelten wir uns auf und gingen an der magischen Tür vorbei durch die dunklen, muffigen Gänge mit Leichen zu unserer Linken wie Rechten, bis wir die Höhle mit der Kerze erreichten. Suena kniete sich an den flachen Fluss und blickte in das Wasser. Jenn tat es ihr gleich, näherte ihr Gesicht immer weiter der Oberfläche … ehe sie es vollständig hineintauchte. Zedd und ich sahen uns irritiert an, während Dario einen vorsichtigen Schritt in ihre Richtung machte. Luftblasen stiegen auf. Immer mehr …
Dann zog sie sich mit einem lauten Schnappen nach Luft aus dem Wasser. Sie keuchte etwas, dann stieß sie nacheinander hervor: „Ich – habe – nichts – gesehen. Gar nichts.“
Vollständig verwirrt blickten wir Männer zu den Frauen, die ins Wasser starrten, bis sich auch Suena erhob und den Kopf schüttelte. Ich überlegte, wo wir bisher entlang gekommen waren, bis mir eine Stelle einfiel, bei der wir auf unserem Weg entlang gekommen waren. Sie hatte sich noch oberirdisch befunden, hinter der großen Kapelle. Die Räume waren dort etwas versetzt … war dort nicht eine Fuge in der Wand gewesen?
„Ich glaube, ich habe eine Eingebung“, murmelte ich. „Lasst uns noch einmal zurückgehen.“
Wir gingen zu der Stelle, an die
ich mich soeben erinnert hatte und tatsächlich: eine leichte Fuge wies auf einen
Geheimraum hin. Schnell tasteten wir die Wand ab, bis wir einen Druckknopf
fanden. Bei seinem Betätigen offenbarte sich ein Teil der Wand als getarntes
Holzstück, das etwas aufsprang und sich zur Seite schieben ließ. Dahinter
befand sich ein kleiner Raum mit einigen Tischen an den Wänden. Neugierig
traten wir ein, womit der vorhandene Platz bereits ausgefüllt war. Ich schob
mich an den anderen vorbei, warf grobe Blicke auf die Tische und ging stetig
weiter, da sich dort größtenteils Schriftrollen befand – unabhängig von der
Sprache für mich nicht zu lesen. Aber etwas Gold gab es noch, das wir unter uns
aufteilten, wodurch es wenig mehr als eine Handvoll für jeden war.
Doch auch meine gelehrteren Begleiter konnten mit den Texten nicht viel
anfangen. „Das ist die Sprache der Menschen oder des Kultes hier“, stellte Zedd
fest.
„Aber hier sind auch ein paar Zeichnungen …“, sagte Suena und hielt ein
entsprechendes Pergament hoch. Jenn rief darauf begeistert aus: „Oh, Bilder! Da
ist ein Mensch und ein … Ding. Mit einem seltsamen Kreis darum und … ein
Vier-…Fünfeck über sich?“
„Das ist die Darstellung eines Bannkreises“, fasste Suena es zusammen.
„Wahrscheinlich geht es um das Bannen von Dämonen – oder ihrem Fürsten.“
„Kannst du daraus etwas ableiten?“, fragte ich.
„Ohne den zugehörigen Text … nichts, was sich nicht auch durch Anmerkungen ins
Gegenteil verkehren ließe. Wir sollten diese Schriftrollen nach Ealalinn zu
Fregal bringen, dem Bibliothekar und Übersetzer.“
Wir gingen also zurück,
entzündeten die Kerze und wählten den magischen Pfad nach Ealalinn. Ich wartete
immer noch darauf, ein unangenehmes Gefühl zu spüren, irgendein Anzeichen
dafür, dass diese Art zu reisen nicht sicher war – doch es gab nicht ein Ziehen
oder Zucken, das verriet, dass wir mit jedem Schritt dutzende Meilen
überquerten. So traten wir in das sonnige Licht Erainns und machten uns an
einen weiteren Abstieg zur Stadt der fünf Seen. Dabei holte Suena nachdenklich
eine der Scheiben aus ihrer Tasche.
„Diese Taler sind aus Metall“, sagte sie vor sich hin.
„Und?“, fragte Jenn verwundert. „Bedeutet das etwas?“
„Üblicherweise ist Metall der natürliche Gegenspieler zur Magie. Es sei denn
…“, die Lidralierin hielt die Scheibe gegen das Sonnenlicht, runzelte aber nur
die Stirn. „Ich kann es nicht sicher sagen. Aber ich glaube, es würde sich
lohnen, einen Schmied darauf blicken zu lassen.“
„Bringt uns das vielleicht durch unseren Engpass? Bisher müssten wir all unsere
Funde an Aeldun übergeben“, fragte ich.
„Es könnte eine gewisse Entschädigung sein, aber ich weiß nicht, wie hoch.“
Als wir durch die Stadttore
geschritten waren, hielten wir Suenas Vorschlag entsprechend nach einer
Schmiede Ausschau. Und obwohl Ealalinn deutlich kleiner war als Dinas Taran,
fand sich hier schnell ein entsprechender Handwerker, wie wir ihn dort nicht
gesehen hatten. In dem nach vorne offenen Arbeitsbereich standen ein großer
Mensch und ein kleiner, gedrungener Muskelhaufen mit Bart – ein Zwerg.
„Seid uns gegrüßt“, sagte Suena auf Ealalinn.
„Wie können wir helfen?“, fragte der Mensch. Zur Antwort holte unsere
Begleiterin eine der Scheiben heraus. Eine derer, die man nicht für die
magische Wegekreuzung brauchte, wenn ich mir die seltsamen Symbole richtig
gemerkt hatte. „Wir würden gerne wissen, wie viel diese Scheibe wert ist.“
Neugierig nahm der Schmied den Taler entgegen und besah ihn sich. Gerade schien
er sich zu seinem Kameraden umsehen zu wollen, da vermeinte ich ein Funkeln aus
dem hinteren Bereich der Werkstätte gesehen zu haben. Und prompt stand der
Zwerg neben dem Mann, entriss ihm die Scheibe und besah sie sich aufmerksam. Er
roch sogar an dem Metall. „Wo habt
ihr das her?“, fragte er dann mit einer tiefen Stimme. „Habt ihr mehr davon?“
„Wieso?“, fragte Suena zurück. „Was ist mit der Scheibe?“
„Das ist eine Legierung, die einen hohen Anteil an Alchemistenmetall
beinhaltet. Äußerst wertvoll.“
„Wie wertvoll?“, fragte Jenn.
„Was?“, fragte ich. „Alchi…?“
„Alchemistenmetall“, wiederholte Suena. „Ein aufbereitetes und besonders
gereinigtes Metall, das zur Herstellung magischer Gegenstände genutzt werden
kann.“
„Um seinen Wert zu schätzen, müssten wir es einige Stunden hier behalten und
untersuchen“, erklärte der Zwerg und beantwortete damit auch Jenns Frage. „Es
stellt sich die Frage, ob lediglich die Hülle aus diesem Metall besteht oder
der gesamte Taler.“
„Müsst ihr die Scheibe dafür nicht zerstören?“, fragte Suena stirnrunzelnd.
„Wir sind keine Bergarbeiter mit Spitzhacken. Wir haben unsere Methoden“, gab
der Zwerg grummelnd zurück.
„Dann kommen wir später zurück“, schlug Suena vor.
„Wenn es euch nichts ausmacht, dann würde ich in der Zwischenzeit hier warten“,
warf ich ein. Es behagte mir nicht, diesen scheinbar wertvollen Gegenstand
gänzlich aus den Augen zu lassen.
„Nur zu“, brummte der kleine Bartträger.
„In der Zwischenzeit können wir ja bereits zu Fregal gehen“, übersetzte Suena
Darios Vorschlag. „Er wird auch einige Zeit für die Übersetzung brauchen.“
Dieser Idee schloss sich noch Jenn an, während unsere Zauberin beschloss, ein
weiteres Mal die ealalinnsche Seenplatte aufzusuchen. Zedd blieb bei mir, um
die Schmiede im Auge zu behalten.
Die Schmiede ließen alles andere
Stehen und Liegen und wandten sich sogleich der Scheibe zu. Dabei zogen sie
sich zwischen einigen Untersuchen in der Nähe der Esse auch immer mal wieder
kurz ins Gebäude zurück. Das veranlasste mich, misstrauisch um das Haus
herumzustreifen – doch weder Mensch noch Zwerg schienen unlautere Absichten zu
haben. Das Metall schien sie stark zu faszinieren und zuweilen erhaschten wir
einen Blick darauf, wie sie die Scheiben gar zu besprechen schienen. Zedd
vermutete magische Formeln dahinter, doch dies waren Sprüche, die ihm unbekannt
waren.
Noch bevor die beiden Handwerker zu einem Schluss gekommen waren, kamen Jenn
und Dario zu uns zurück. Jenn schilderte knapp, dass der Historiker Fregal für
eine vollständige Übersetzung stolze 200 Goldstücke forderte. Die zunächst nur
stichpunktartig herausgegebenen Informationen klangen jedoch wohl bereits
ernüchternd. Die beiden machten sich keine große Hoffnung, dass tatsächlich
dort etwas geschrieben stand, was helfen konnte, Sharku endgültig zu bannen. Suena
stieß auch wieder zu uns – diesmal nicht durchnässt. Sie schien ebenfalls keine
Eingebung ihrer wässrigen Freundin bekommen zu haben und als sie sich mit Dario
über die ersten Erkenntnisse aus den Bannbeschreibungen austauschte, zeigte sie
auch eher Resignation als Tatendrang.
„Das klingt wirklich nicht so, als dass uns diese Beschreibungen weiterhelfen
könnten. Sie scheinen eher allgemein gehalten zu sein. Nichts, was uns in
diesem spezifischen Fall helfen würde.“
„Dann sind wir wohl doch nicht die auserwählten Helden“, meinte Zedd etwas
enttäuscht.
„Noch nicht“, brummte ich und grinste. Allerdings war ich mir ziemlich sicher,
dass ich nicht so schnell wieder in die Finsternis hinabsteigen wollte.
Es dauerte noch etwas, dann kam
der menschliche Schmied mit unserer Scheibe zurück. Sie sah trotz der genauen
Untersuchungen noch immer unbeschädigt aus.
„Ihr seid wahrlich Glückspilze“, erklärte er. „Diese Scheibe ist nahezu
vollständig aus Alchemistenmetall, die anderen Teile sind Silber und Gold. Wir
könnten die auf es gesprochene Magie bannen und es für uns nutzbar machen. Das
wäre genug Metall, um beispielsweise vier Dolche herzustellen.“
„Wie lange würde die Herstellung solcher Waffen dauern?“, fragte Jenn.
„Wir müssen das Alchemistenmetall von den anderen Bestandteilen trennen, es
aufbereiten und dann für die weitere Verarbeitung vorbereiten. Zudem wäre es sinnvoll,
sich für eine solche Waffe die Unterstützung eines Meisterthaumaturgen …“
Ich sah Suena fragend an, sie flüsterte kurz: „Ein magischer Handwerker.“
„… zu besorgen, um die besonderen Eigenschaften des Metalls zu nutzen. Alles in
allem würden wir dafür wohl ein ganzes Jahr brauchen.“
„Oh“, machte Jenn. Sie sah in die Runde und wir waren uns mit Blicken schnell
einig, dass wir so lange nicht an einem Ort verweilen wollten.
„Aber wir würden euch ohnehin lieber die Scheibe abkaufen. Dafür würden wir
euch … viertausend Gold vorschlagen.“
Synchron klappte uns allen fünf die Kinnlade nach unten – Ich brauchte
überhaupt einen Moment, um das Wort aus dem Comentang für „viertausend“ zu
realisieren. Das war mehr Gold, als ich mir jemals hatte vorstellen können, vielleicht
sogar mehr, als mein ganzer Stamm hätte aufbringen können, wenn es um Leben und
Tod gegangen wäre.
„Habt ihr denn noch mehr dieser Scheiben? Wir würden sie euch abnehmen.
Angesichts des nahen Grenzlands zu Ywerddon gibt es genug Gründe für Reisende,
sich mit mächtigen Waffen auszustatten.“
„Ihr würdet sie uns zum selben Preis abnehmen?“, hauchte ich.
„Sicher. Wir sind faire Handwerker, keine Krämer.“
Ich kippte fast um, als ich an Suenas Beutel mit sechs dieser Scheiben dachte. Doch bevor wir zu voreiligen
Entscheidungen kamen, zogen die erfahrenen Araner und die Hexe Jenn und mich
zunächst zurück und baten den Schmied um Verständnis, dass wir das besprechen
müssten.
„Das ist ja unfassbar“, sagte ich mit geweiteten Augen. „So viel Gold!“
„Aber wir sollten nicht vergessen, wofür die Scheiben sind – sie haben einen
Zweck“, gemahnte Suena. Nach einem kurzen Zwiegespräch mit Dario ergänzte sie:
„Alle sechs Taler sind für die Tür zum Bannraum – dem Übergang in Sharkus
Domäne. Dario merkt an, dass es sogar von Vorteil wäre, einen oder mehrere
dieser ‚Schlüssel‘ zu zerstören, um der Menschheit mehr Sicherheit zu geben.“
„Aber wir sollten darauf achten, die Scheiben für den Rückweg intakt zu
lassen“, ergänzte Zedd mit einem leichten Grinsen.
„Am besten für beide Wege. Wir wissen zwar nicht, wo der andere Pfad genau
hinführt, allerdings könnte es sich noch in Zukunft als sinnvoll erweisen“,
schloss sich Suena dem Hinweis an. „Das heißt, wir könnten vier Taler
verkaufen.“
„Wenn man uns hier bereits viertausend Gold anbietet“, begann da Jenn. „Was
könnte dann erst in Dinas Taran geboten werden? In einer so großen Stadt, da
gibt es sicher noch mehr Reichtum!“
Ich stockte erneut, auch die anderen schienen gedanklich zu schwindeln, was
diese Mengen anging. Doch es schien nur sinnvoll, selbst im Angesicht des
größten Reichtums nach möglichen Verbesserungen zu suchen. Oder?
Wir einigten uns darauf, zunächst nach Dinas Taran zurück zu reisen und unsere
Schuld zu begleichen. Möglicherweise fand sich in der dortigen und
umfangreicheren Bibliothek sogar etwas, dass uns doch beim Kampf gegen Sharku
helfen konnte – dann bräuchten wir alle sechs Scheiben intakt. Ansonsten würden
wir den Weg durch die Ruinen gehen, in Ywerddon zu verweilen schien für keinen
von uns eine attraktive Zukunftsperspektive, betrachtete man sich dieses grüne
Seenland.
So beschlossen wir das Ende unserer Expedition und traten die Rückreise nach Dinas Taran an. Hinauf auf den Berg, durch die magische Grotte, die Ruine, schließlich die entlegene Wildnis Ywerddons. Fünf Tage dauerte es bis auf unseren Pferden in der zentralen Stadt dieses umkämpften Landes ankamen. Nachdem wir uns ein Gasthaus in der Unterstadt gesucht hatten, suchten wir die uns bekannte Bibliothek auf, wo wir die Schriftrollen zur Übersetzung abgaben. Anschließend übernahm ich es, in die für Twyneddin vorbehaltene Oberstadt zu gehen, um eine Einladung für alle einzuholen. Diese wurde mir von dem mit dieser Angelegenheit betrauten Diener Aelduns ausgestellt, sodass meine Begleiter und ich bereits eine Stunde zu ihm gelangen konnten. Sie hatten in der Zwischenzeit das Geschmeide und andere wertvolle Dinge aus der Ruine zu Gold gemacht, sodass wir die geforderten zweitausend abliefern konnten.
Als wir vollzählig beim Anwesen
des Adeligen ankamen, bat uns der Diener kurz zu warten, kehrte jedoch schnell
wieder zu uns zurück. „Herr Aeldun ap Belthen wird euch gerne sogleich in
seinem Arbeitszimmer empfangen. Folgt mir.“
Diesmal gab es wohl kein Essen für uns. Der ältere Mann führte uns durch
Aelduns großes Haus, vorbei an Gemälden und zahlreichen Teppichen, die seinen
Reichtum bezeugten – der nun durch eine gute Investition deutlich vergrößert
wurde. Der Twynedd erwartete uns hinter einem großen Schreibtisch auf dem
dutzende Pergamente verteilt lagen. Aus dem einstigen Abenteurer war scheinbar
ein begeisterter Buchmacher geworden.
„Seid gegrüßt. Ich bin erfreut, euch vollzählig wiederzusehen.“
„Seid auch Ihr gegrüßt“, antwortete Suena. „Wir sind wiedergekommen, um unsere
Schuld zu begleichen.“
Aeldun nickte und griff eines der Dokumente, das er sich wohl schon bereit
gelegt hatte. Zwar konnte ich das Geschriebene natürlich nicht lesen, doch die
geschwungenen Unterschriften Darios und Zedd fielen neben unseren anderen
Bestätigungen deutlich auf. „Zweitausend Goldstücke, so war es ausgemacht.“
„Und so halten wir es ein“, sagte Suena, woraufhin Dario einen klimpernden
Goldsack von nicht geringem Gewicht übergab. „Auf die Münze genau. Aber prüft
es gerne selbst.“
Aeldun gab einen Wink, woraufhin sich der Diener mit dem Beutel in einen
Seitenraum zurückzog. „Wie waren eure Erfahrungen mit den Ruinen?“, wandte sich
der Twyneddin wieder an uns.
„Düster“, sagte Suena knapp.
„Es gab viele Kämpfe“, ergänzte ich.
„Das war zu erwarten“, kommentierte Aeldun. „Aber es hat sich gelohnt. Ich
hoffe, für euch ebenfalls.“
„Es ist in Ordnung“, sagte Suena diplomatisch. „Hattet Ihr dereinst die tiefere
Ebene erkundet?“
„Nein. Wir wenigen Überlebenden haben uns rasch aus den Ruinen zurückgezogen,
nachdem wir einen ansehnlichen Schatz in unseren Besitzt gebracht hatten. Die
Zahl der Untoten war erdrückend.“
Wir schwiegen noch einen Moment, dann kam der Diener zurück und nickte Aeldun
kurz zu. Der grinste uns zu, nahm das Pergament, setzte einen Satz sowie eine
weitere Unterschrift dazu. Das Ergebnis überreichte er Jenn, die Comentang
lesen konnte. Ein kurzer Blick genügte, dann sagte sie zu uns: „Die Schuld ist
offiziell beglichen.“
„Vielen Dank für die Zusammenarbeit“, sagte Aeldun mit einem weiteren breiten
Lächeln im Gesicht.
„Danke an euch für die Unterstützung“, erwiderte Suena. Und damit war das Thema
abgeschlossen. Jenn steckte den aufgelösten Schuldschein ein – um sicher zu
gehen, wie sie meinte. Dann nutzten wir unseren Aufenthalt in der Oberstadt
dafür, einen Schmied aufzusuchen, der sich eine Scheibe ansehen sollte. Um Zeit
zu sparen, teilten wir uns in zwei Gruppen auf, wobei Zedd wieder mit mir in
der ersten Schmiede wartete, die wir fanden.
Es dauerte einige Stunden, dann hörten wir dieselben Worte, die uns auch in
Ealalinn gesagt wurden. Mit einem Unterschied: Man bot uns viertausend – aber
für zwei Scheiben. Das war zwar immer noch eine Menge Gold, doch ein eklatanter
Unterschied zum erainnischen Kurs. Wir schlossen daher noch nichts ab, sondern
trafen uns mit Suena, Dario und Jenn wieder. Sie hatten einen begabten
Handwerker gefunden, der mit 3300 Goldstücken einen wiederum annehmbaren Preis
bot. Wir beschlossen, darauf einzugehen, falls uns der Bibliothekar kein
Schlüsselwissen für den Umgang mit dem Dämonenfürsten übersetzen konnte. Doch
sein Ergebnis war, wie befürchtet, ernüchternd: Es waren für Zauberer sicher
hochinteressante und wertvolle Beschreibungen von Beschwörungen und
Bannkreisen. Sharku oder überhaupt ein Dämonenfürst wurde allerdings mit keiner
Silbe erwähnt. So mussten wir uns eingestehen, dass wir nicht die Helden waren,
die vorherbestimmt waren.
Wir bezahlten den Bibliothekar, verkauften die Scheibe und statteten uns mit
neuem Reiseproviant aus. Als wir gerade überlegten, wo wir die Nacht verbringen
könnten, warf Jenn ein: „Ich glaube, wir sollten die Stadt doch wieder
verlassen. Schnellstmöglich.“
„Meinst du, Aeldun könnte Neid entwickeln? Wir haben unsere Schuld beglichen“,
fragte ich überrascht zurück.
„Ich glaube, er ist unser geringstes Problem. Aber vergiss nicht, dass die
Diebesgilde bereits hinter der Karte her war. Sie hat einen Mord dafür
begangen, wir haben einige ihrer Leute auf der Liste“, erinnerte Jenn die
anderen und mich. Ich sog zischend Luft ein, dann nickte ich heftig. „Ja, eine
sehr gute Idee. Auf nach Westen!“
Jenn grinste, die anderen waren auch überzeugt. So war es zwar bereits später
Nachmittag, doch wir brachten noch zwei Wegstunden zwischen uns und Dinas Taran
– mit Ziel Ealalinn.
Wir brauchten fünf Tage, um die Ruine wieder zu erreichen. Sie lag so verlassen vor wie eh und je, doch die Toten schienen fürs Erste zu ruhen. So konnten wir die Pferde den mühseligen letzten Teil der Strecke den Berg hinauf und durch den verlassenen Kultort hindurchführen. Dann lag wieder Erainn vor uns. Diesmal wollten wir länger hierbleiben, suchten uns in Ealalinn ein großes Gasthaus mit Stall. Dann ging es zurück zu dem zwergischen und dem menschlichen Schmied, die uns freudig begrüßten. Sie hatten fast nicht mehr mit uns gerechnet, doch nun waren wir da. Wir hatten bereits vorher über die Scheiben gesprochen, wobei wir uns darauf geeinigt hatten die beiden zu behalten, die den Weg durch die magische Wegekreuzung ermöglichten. Wer weiß, wann uns das noch einmal hilfreich sein konnte. Die übrigen drei boten wir den Schmieden an – sie hielten ihr Angebot und überhäuften uns mit Edelsteinen, die insgesamt dem riesigen Betrag von 12.000 Goldstücken entsprachen. Fassungslos nahm ich meinen Anteil des Ganzen an, die anderen waren nicht weniger überwältigt von dem Reichtum, der uns nun zur Verfügung stand. Fast schon nervös gingen wir in das Gasthaus zurück, wo wir die Edelsteine verstauten. Ich suchte sieben verschiedene Verstecke für diesen Reichtum, wahrscheinlich machten es die anderen ähnlich. Dann trafen wir uns im Schankraum wieder, wo wir den besten Wein des Hauses kommen ließen – die erste Flasche. Während sich die Araner in ihrer Frömmigkeit etwas zurückhielten, ließen Jenn und ich es uns am meisten munden. Ich erwachte am nächsten Tag mit Kopfschmerzen, wie sie mir das letzte Mal der Schlag eines Ogers in Fuardain verursacht hatte.
Wir beschlossen, zunächst einige
Zeit in Ealalinn zu verweilen. Die körperlichen wie emotionalen Strapazen in
der Ruine verdienten einen würdigen Ausklang. Doch untätig wurden wir darüber
nicht. Die Erainner in der Stadt hatten durchaus fähige Kämpfer in ihren
Reihen, darunter einige Waffenmeister, die diejenigen unter uns, die es
wollten, für einen stolzen Betrag unterrichteten. Daneben ging ein jeder von
uns auch anderen Beschäftigungen nach. Ich trieb mich etwas im nahen Gebirge
herum, sprach mit den Anwohnern über örtliche Besonderheiten. Die Araner zogen
sich regemäßig zu Gebeten zurück, manches Mal waren sie im Hinterhof des
Gasthauses auf Teppichen kniend zu sehen. Suena ging natürlich häufig zu ihren
geliebten Seen – und obwohl man nie sagen konnte, dass sie besonders
verschlossen oder gar griesgrämig sei, so fiel doch auf, wie sehr sie in dieser
Umgebung aufblühte. Es schien fast, als würden ihre Augen zu leuchten beginnen,
wann immer wir allabendlich zusammen saßen, Geschichten von uns erzählten oder
in Erinnerung an unser bestandenes Abenteuer wiederholten. Sogar Suena erzählte
hier etwas von vergangenen Reisen. Dabei lernte ich anfangs mühselig, aber
schließlich immer besser die geläufige Handelssprache, wie sie rund um das Meer
der Fünf Winde gesprochen wurde: die Vallinga. Somit war es mir endlich
möglich, mich mit Dario direkt zu unterhalten. Der Ordenskrieger war zwar immer
noch skeptisch, dass nichts von Aran wusste und auch mit Ormut wenig anfangen
konnte, aber meine Bemühungen rangen ihm bei meinen anfänglich häufigen
Versprechern das eine oder andere Lächeln ab. Was indes spätabendliche Gelage
anging, so war das die Angelegenheit von Jenn und mir. Die Ywerddonerin schmiss,
kaum war das Abendessen vom Tisch, Runde für Runde, sodass wir uns bald besser
mit den erainnischen Alkoholsorten auskannten, als ich mir je hatte vorstellen
können.
Ich setzte indes meinen Reichtum zunächst für eine bessere Rüstung ein, ein
kurzes Kettenhemd sowie metallene Arm- und Beinschienen. Das war jedoch für
mich nur eine Randnotiz, als ich einen Krämer traf, der in seinem Laden
allerlei faszinierende Gegenstände anbot. So fand ich eine dieser auf Öl
basierenden Lampen, die sich mit einem Sichtschutz abdunkeln ließen! Und einige
Eisenkeile – das war einer der ersten Begriffe, den ich auf Vallinga lernte, da
Dario diesen Hilfsmitteln einen seltsam hohen Stellenwert einräumte. Der
Hellebarde ebenfalls, allerdings wusste ich nicht so recht, was man mit dieser
Axt mit zu langem Stiel anfangen sollte.
Wir waren bereits eine Trideade
in Ealalinn und uns bereits gut eingewöhnt, da ging am Abend die Tür zum Gasthaus
auf. Mir verschlug es umgehend die Sprache, als eine Frau eintrat, für deren
Schönheit ich keine Worte hatte. Langes, blondes Haar fiel ihr über den ganzen
Rücken – es leuchtete, als hätte sie die Strahlen der Sonne aufgefangen. Ihre
Haut war von einer zarten Blässe, doch war auch klar zu erkennen, dass sie eine
Kriegerin war. Das formbetonte und äußerst luftige grüne Kleid zeigte neben
vielen anderen Vorzügen auch ihre Muskeln. Scheinbar um diese zu unterstreichen
ragte hinter ihrem Kopf mit dem ebenmäßigen Gesicht, der Griff eines Bihänders
hervor. Als mein Blick an ihrem Kopf vorbeiglitt, erkannte ich auch, warum
diese Frau so schön war. Zwischen den goldenen Haaren ragten spitze Ohren
hervor – sie war eine Elfe. Und alle Geschichten, die man sich erzählte, waren
noch eine Untertreibung.
Sie ließ den Blick durch das Gasthaus schweifen, blieb an unserem Tisch hängen
und schwebte geradezu mit einem Lächeln zu uns hinüber. „Suena!“, rief sie und
die beiden Frauen umarmten sich herzlich. Dann grüßte sie ihre ebenfalls
scheinbar altbekannten Waffengefährten Dario und Zedd.
„Wie hast du uns gefunden?“, fragte Suena verblüfft, aber mit einem dieser
Lächeln im Gesicht, wie sie sie erst seit unserer Zeit in Ealalinn zeigte.
„Ich bin von Osten her durch das Land gezogen, dann habe ich gehört, dass sich
hier wohl eine recht bunte Truppe versammelt hat. Die Beschreibung schien mir
doch sehr passend“, sagte sie und lachte einen klaren, hellen Ton, der bereits
alle mir bekannten Sänger vor Neid erblassen ließe. Neben mir hüstelte Jenn und
stieß mich mit dem Ellenbogen an. Etwas verdattert erwachte ich aus meiner
scheinbaren Starre und fuhr mir rasch mit der Hand über den Mund, bevor sich
ein Speichelfaden herausstehlen konnte.
„Seid mir gegrüßt“, wandte sich die Elfe nun an uns. „Ich bin Marathaeintir
Vènthiel. Aber Mara reicht vollkommen.“
„Ich bin Jenn“, erklärte die Ywerdonnerin und reichte Mara die Hand locker zur
Begrüßung.
„Ich, äh, ich bin Gorlan ap Wath. Aber ruf mich ruhig Gor, das höre ich
besser“, sagte ich dann einen etwas langen Moment später.
„Sehr erfreut“, sagte sie zu uns beiden, dann begann sie sich mit ihren
Freunden auszutauschen, worin auch Jenn und ich allmählich einfielen, um zu
berichten, wie wir uns gefunden hatten. Schnell wurde klar, dass Mara eine
beachtliche Kämpferin sein musste. Und dazu eine, die auf der Suche nach einem
neuen Abenteuer war. Eine aus vielen Gründen wunderbare Ergänzung der Gruppe.
Doch zunächst verbrachten wir
noch etwas mehr Zeit in Ealalinn, um unsere Fertigkeiten zu vertiefen. Bis nach
einer weiteren Trideade beim Mittagessen zusammensaßen und uns wunderten, dass
Suena fehlte. Zunächst dachten wir uns nichts dabei, doch ein seltsames Gefühl
breitete sich aus, während wir lustlos im Essen herumstocherten. Schließlich
war es Mara, die als erste aufstand. „Ich glaube, wir sollten nach ihr suchen.
Ich habe ein ungutes Gefühl.“
Prompt war sie auch als erste auf ihrem Pferd und preschte davon – wir folgten
knapp hinter ihr.
Als wir an zu den Seen vor der
Stadt kamen, beschlossen wir uns aufzuteilen, um Suena schneller zu finden. Ich
ritt zunächst zu den südlichen Gewässern, wo jedoch schnell ersichtlich war,
dass hier niemand unterwegs war. So wandte ich meinen Blick ostwärts, wohin
Mara zuerst geritten war. Dort lag ein kleines Wäldchen.
Ich trieb mein Pferd so schnell wie ich konnte, Maras alarmierende Worte hatten
bei mir ebenfalls ein schlechtes Gefühl geweckt – es zeigte sich, dass sie
richtig lag. Ich erreichte eine schmale Lichtung und sah Suena und Mara vor
mir. Die Zauberin blutete aus einer Wunde, zog sich gerade hinter der Elfe
zurück, die mit ihrem Pferd quer vor den Angreifern den lichten Pfad
blockierte. Es waren zwei Männer in zerfetzten Lumpen mit Kurzschwertern in den
Händen. Die Kriegerin hoch zu Ross ließ gerade einen Schwerthieb wie einen
Blitz auf einen der Strauchdiebe niederfahren, da gelang es dem anderen, vor
dem Pferd vorbeizuschlüpfen. Bevor er Suena erreichen konnte, sprang ich vom
Pferd, griff Axt und Schild, sodass ich nun den Weg blockieren konnte. Da erst
sah ich es – das waren keine einfachen Wegelagerer. Sie hatten die Gestalt von
Menschen, bewegten sich aus. Doch dieser Kämpfer vor mir … hatte kein Gesicht.
Helle Haut zog sich über alles, wo sonst Augen, Nase und Mund lagen. Ich stieß
einen angewiderten Ruf aus, dann griff das Wesen mich schon an. Den Schild riss
ich aus Reflex hoch, doch war sogleich erstaunt über die Wucht, die in dem Hieb
lag.
Einen Moment später ging ich aus der Starre in den Angriff, doch der
Gesichtslose war irgendwie in der Lage, den Schlag auf sich zukommen zu …
spüren oder dergleichen. Er wich aus, attackierte mich seinerseits, kam unter
meinem Schild durch – und traf meine metallene Beinschiene. Ich grinste über
meine Investition, dann sah ich Jenn an mir vorbeieilen. Sie eilte an Maras
Seite, kurz nach ihr kam Zedd, der mich unterstützte. Sein Gesicht zeigte
jedoch das gleiche Entsetzen, das mich beim Erkennen des „Antlitzes“ dieser
Kreaturen überkommen war. Nur dass er dennoch fahrig angriff, was die Gestalt
blockte. Zedds Kriegshammer schlug auf den Boden auf, doch mit einem
Ausfallschritt konnte ich dem Priester den Raum verschaffen, sich seine Waffe
zurückzuholen. Weiter vorne sah ich, wie Mara ihr Schwert durch die Luft
wirbeln ließ, als wäre es aus Holz und wunderte mich, dass ihr Gegner noch
stand. Doch was ich an ihrer Klinge sah, ließ mich hoffen: Blut.
„Die sind verletzlich“, knurrte ich Zedd zu, der grimmig nickte und wir nahmen
den Gesichtslosen in die Zange. Wir schlugen von zwei Seiten auf ihn ein, bald
parierte unser Gegner nur noch jeden zweiten Schlag. Wunde für Wunde rissen wir
in seinen Leib, doch dessen ungeachtet teilte er seinerseits aus, erwischte
Zedd und mich jeweils leicht.
Dann hörten wir Jenns Jubelruf, während Maras Schwert – gefolgt von einer
Blutfontäne – einen Aufwärtsschnitt gen Himmel setzte. Ein Körper schlug zu
Boden. Die Elfe hatte den ersten der beiden Gesichtslosen getötet, der andere
blieb uns noch. Ich hieb ein weiteres Mal zu, ein Querschwinger von links nach
rechts. Das Axtblatt traf den Gesichtslosen am Kopf, Eisen fraß sich durch
Haut. Dann hatte das Wesen eine Rinne im „Gesicht“, in die man drei Augen hätte
setzen können. Es kippte hintenüber.
Ich schlug dem Körper nach dem
Aufschlagen auf der Erde noch sicherheitshalber den Schädel ab, während Zedd
weiter den Weg entlangging. Neugierig blickte ich ihm nach: Er beugte sich über
einen dritten Mann, der auf dem Boden lag. Der hatte sehr wohl ein Gesicht,
doch war es blass und seine Kleidung war blutgetränkt. Der aranische Priester
schüttelte den Kopf. „Tot.“
„Was waren das für Wesen? Menschen? Verfluchte?“, fragte ich zunächst mit Blick
auf die Gesichtslosen.
„Wiedergänger“, antwortete Zedd. „Magisch belebte Krieger.“
Und ich hatte gedacht nach der Ruine wäre mit so etwas erst einmal Schluss.
„Was ist hier überhaupt geschehen?“, fragte Mara Suena.
„Ich war hier für einen Spaziergang, da stolperte dieser Mann auf mich zu. Er
war verletzt und suchte nach Hilfe. Ich wollte ihm welche geben, doch als ich
ihn anfasste … ich hatte eine Art Vision. Ich stand auf einer Wiese, im
Hintergrund eine Bergkette. Ein junger Mann deutete mit einem Stock über meine
Schulter. Wir waren in einem Dorf, die Einwohner hatten sich mit Heugabeln und
dergleichen bewaffnet. Doch sie blickten gen Himmel und liefen panisch
auseinander. Im nächsten Moment war ich in einer Höhle, dann war wieder alles
schwarz. Im nächsten Moment Regen, ich stand inmitten von gerüsteten Kriegern
auf einem Felsplateau. Die ersten waren bereits tot, ihre Körper zerschlagen.
Ein Elf war dort, rief mir etwas zu … doch dann packte mich eine riesige
Kralle, schleuderte mich zu Boden. Wieder ein Bildwechsel. Eine Naturhöhle,
erleuchtet von Fackelschein, der sich in Waffen und Rüstungen spiegelte. Wirre
Schatten auf den Wänden, vor uns dutzende Gesichtslose. Dann stolpere ich nach
vorne, bin zwischen Bäumen, laufe auf jemanden zu … jemandem mit einem Mal auf
der Stirn. Als ich wieder klar sehen konnte, war der Mann verstummt und diese
Wiedergänger sind hier angekommen. Wahrscheinlich haben sie ihn verfolgt. Er hatte ein Mal auf der Stirn, einen
roten Punkt …“
„So etwas wie das?“, fragte Zedd und wies auf ihr eigenes Gesicht. Verdutzt sah
sie ihn an, schien dann aber auch ein Jucken zu spüren, als sie sich zwischen
die Brauen fuhr. Dort hatte sich tatsächlich ein kleiner, roter Punkt auf der
Haut manifestiert. Der Tote jedoch war frei von diesem Symbol.
„Du bist magisch gezeichnet“, stellte Zedd fest. „Irgendwas ist auf dich
übergegangen.“
Zischend sog Suena Luft ein. „Das ist nicht gut.“
„Seht mal Leute was ich gefunden habe!“, rief Jenn aus. Sie kniete neben dem
ungeköpften Gesichtslosen und hatte einen spitz zulaufenden Raubtierzahn aus
dessen Taschen gezogen. Nur war er beinah so lang wie eine Dolchklinge.
„Was zur Hölle hat solche Zähne?“, stieß ich aus. Jenn zuckte die Achseln,
während Mara und Suena abwägend dreinblickten. Zedd konnte meine Frage dann
beantworten: „Ein Drache.“
Ich stieß ein lautes Lachen aus, doch keiner wollte so recht einfallen. „Ein
Drache?“
„Ja, ein Drache. Eine geschuppte Kreatur …“
„Ich kenne die Geschichten“, unterbrach ich ihn. „Aber wo gibt es denn
Drachen?“
„Meine Vision“, sagte Suena. „Die riesige Kralle gehörte wahrscheinlich zu
einem Drachen.“
„Was war das bloß für ein Kerl?“, fragte ich und blickte zu dem Toten. Jenn
ging zu ihm, durchwühlte seine Taschen und förderte zwei Briefe zutage. „Sie
sind auf Erainnisch“, sagte sie und begann dann vorzulesen:
„Lieber Bruder Gembal,
lang ist es her, seit wir ausgezogen sind ferne Welten zu entdecken und
eigentlich hatte ich meinen alten Knochen schon versprochen, das Abenteuerleben
Jüngeren zu überlassen. Aber nun hat mich diese Lust wieder in der Person eines
jungen Bauernburschen gepackt.
Er erzählte mir, er habe einen Auftrag im Westen zu erfüllen und sucht noch
einige Begleiter. Er sprach von großen Schätzen und magischen Artefakten, die
lange schon verloren geglaubt waren. Nun langer Rede kurzer Sinn, die Zeit
drängt, schon morgen brechen wir auf. Vielleicht können Du und Luana uns
begleiten.
Es sollte euch möglich sein, uns bis Torren einzuholen. Hoffentlich bis bald
Kuriens.“
„Gembal hieß er also“, folgerte
Suena. „Und der andere Brief?“
„Am Tag der Sonnenwende, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht, wird
Euch der Weg gewiesen, erstrahlt das Tor in seinem magischen Licht. Dann und
nur dann, könnt Ihr es durchschreiten.“
„Die Sonnenwende liegt bereits zwei Tage hinter uns“, stellte Mara fest. „Ob
Gembal auf die Bitte seines Bruders eingegangen war?“
„Bruder könnte durchaus nur eine Art Titel sein“, merkte Zedd an. „Für einen
Priester oder einen Waffenbruder.“
„Er sieht nach letzterem aus“, meinte ich mit Blick auf den doch recht
muskulösen und vor allem großen Leichnam.
„Ich glaube, wir sollten zunächst herausfinden, ob er hier aus der Umgebung
kommt. In Ealalinn wird man vielleicht von Gembal oder Kuriens gehört haben“,
schlug Suena vor.
„Sicher wird es jemanden geben, der um ihn trauert“, fügte Zedd an.
„Und hoffentlich noch jemanden, der mir sagt, was es mit diesem Mal auf sich
hat“, sagte die Hexe schmallippig. Sie schien wirklich nicht erfreut, sich erneut
einen Fluch eingefangen zu haben.
Wir hüllten Gembal in eine der
Pferdedecken, um seinen Leichnam ohne allzu großes Aufsehen mitnehmen zu
können. Während die Wölfe sich meinetwegen an den Gesichtslosen gütlich tun
sollten, hatte dieser Mann möglicherweise noch Familie, die ihn angemessen
beerdigt sehen wollte.
Langsam trotteten wir zurück nach Ealalinn und dort zur Stadtverwaltung. Bislang
hatte ich versucht, einen Bogen um diese südländischen Bürokraten zu machen,
doch diesmal schien es der einfachste Weg. Von einem Gembal wusste man dort
freilich nichts, aber Kuriens war ein ihnen geläufiger Name. Es handelte sich
dabei um einen Apotheker, der in Ealalinn ansässig war. Mit einer
Ortsbeschreibung war sein Laden schnell ausfindig gemacht und wir traten zu
viert ein, Dario war mittlerweile auch wieder zu uns gestoßen und ins Bild
gesetzt – wartete aber draußen bei den Pferden, dass sie nicht plötzlich den
Leichnam abwarfen.
In dem Haus roch es nach allerlei Kräutern, von denen mich manche an die
Gerüche der Schamanenhütten erinnerten, aber einige frischere und schärfere
Pflanzen ergänzten das Gemisch noch. Hinter der Theke saß ein junger Mann von
vielleicht zwanzig Jahren, der die Augen bereits weit öffnete, als eine Elfe,
ein Araner, eine weitere Südländerin, die stämmige Jenn und ein Barbar
eintraten.
„Wie kann ich euch helfen?“
„Wir sind auf der Suche nach einem Mann namens Kuriens. Ist er zu sprechen?“,
fragte Suena.
„Mein Meister ist vor drei Tagen abgereist, ich verwalte in seiner Abwesenheit
nur den Laden“, erklärte der junge Mann. „Kann ich ihm eine Nachricht
ausrichten?“
„In der Art“, wich die Lidralierin zunächst aus. „Wohin ist Kuriens denn
aufgebrochen?“
„Er wollte mit einigen Begleitern nach Torren … aber warum interessiert euch
das?“
„Wir haben seinen Bruder aufgefunden – tot“, sagte Suena.
„Seinen Bruder? Mein Meister hat keinen Bruder“, erwiderte der Apotheker irritiert.
„Dann sein ‚Waffenbruder‘, wir haben einen Brief gefunden“, erklärte Suena und
reichte den bei der Leiche gefundenen Brief an den jungen Lehrling weiter. Der
überflog die Zeilen.
„Nun, ja, wie es hier steht, mein Meister ist derzeit nicht hier. Ich kann euch
leider nicht weiterhelfen“, stellte er dann knapp fest.
„Hör mal zu“, brummte ich. „Du kümmerst dich doch um die Belange von Kuriens in
seiner Abwesenheit, oder nicht?“
„Ähm, ja?“
„Dann werden wir Gembals Körper bei dir lassen. Da Kuriens ein enger Vertrauter
von ihm war, wird er sicher bei seiner Rückkehr um ihn trauern und ihn
beerdigen wollen.“
„Was?! Ich verwahre hier doch keine Leiche!“, rief der Mann schrill.
„Wo soll er denn sonst hin?“, blaffte ich ihn an. „Er ist Teil eures … Stammes?
Der Familie deines Meisters – und damit dir – im weitesten Sinne. Also kümmere
dich auch um seinen Leichnam.“
„Aber das ist doch nicht meine Sache! Er wird doch hier vielleicht Wochen
herumliegen …“
„Deine Befindlichkeiten interessieren mich einen …“, fing ich an, doch Suena
legte mir die Hand auf die Schulter und unterbrach wiederum mich: „Ich glaube,
das wird hier anders organisiert, Gor.“ Und an den Apotheker gewandt: „Wo
sollten wir Gembal denn deiner Meinung nach unterbringen?“
„Bringt ihn zum Totengräber, er kann ihn … aufbewahren“, erklärte der Mann
zittrig.
Damit zogen wir vorerst weiter zum auswärtig gelegenen Friedhof der Stadt. Der
dort anzufindende Geselle war von gedrungener Gestalt mit dickem, schwarzem
Haar, das an seinem Schädel klebte.
„Seid gegrüßt“, meinte er und rieb sich die Hände. „Welch traurig-schöner Grund
führt eine so erlauchte Gesellschaft zu mir?“
„Wir bringen einen Toten. Sein Name ist Gembal“, erklärte Suena.
„Soll er sofort beerdigt werden oder ist eine größere Zeremonie geplant?“
„Zunächst nichts. Er ist ein Bekannter des Apothekers Kuriens und sollte bis zu
dessen Rückkehr hier verwahrt werden.“
„Auch dafür habe ich Möglichkeiten. Das macht aber für jeden Tag zwei
Silberlinge.“
„Leiten wir weiter“, brummte ich. Die anderen sahen mich verwundert ob des für
uns geringen Preises an, aber ich beharrte darauf: „Der Lehrling von Kuriens
wird dafür aufkommen.“
„Sicher, sicher“, grinste der Totengräber. Wir nahmen den Leichnam Gembals
daraufhin vom Pferd. Aufgrund seines Gewichts trugen Jenn und ich ihn
gemeinsam, dem Totengräber folgend, in eine kühle Gruft, in der eine Nische
frei war. Anschließend statteten wir dem Apothekerlehrling einen Besuch ab,
der, zwar nicht begeistert doch pflichtschuldig, unserer Aufforderung nachkam.
Bevor wir gingen erkundigte sich Suena jedoch noch, ob es nicht eine Gaststätte
gegeben habe, in der Kuriens öfter verkehrte. Der junge Mann nannte uns das
Wirtshaus „Zum roten Teufel“.
„Hoffentlich kann uns einer dort etwas mehr über Kuriens oder Gembal erzählen.
Ich muss wissen, was es mit diesem Mal auf meiner Stirn auf sich hat“, meinte
Suena, bereits angespannt und unruhig. Sie schien wie getrieben, weswegen wir schnellsten
Schrittes das Gasthaus aufsuchten.
In der Stube war nicht viel los,
sodass wir uns direkt an die Theke zum Wirt setzen konnten, um ihm einige
Fragen zu Kuriens zu stellen. Glücklicherweise war der Mann redselig und
berichtete uns recht bald viel, was den Apotheker anbelangte: „Kuriens ist
häufiger hier, ja klar. Er ist ein guter Gast, recht ruhig und zahlt seine
Zeche immer sofort. Hat sich aber seit drei Tagen nicht blicken lassen, hab ihn
das letzte Mal mit so einer Frau in sakraler Gewandung gesehen. Mag eine
Priesterin gewesen sein.“
„Welcher Gottheit?“
„Das kann ich nicht so genau sagen, vielleicht war es eine albische. Kenn‘ mich
mit den ihren ganzen Göttern nicht so aus. Aber Kuriens war die letzten Tage
sowieso in seltsamer Gesellschaft. Saß auch mal mit so einem jungen Burschen
hier, so ein Bauernlümmel mit großen Füßen. Noch kein einziges Barthaar im
Gesicht, aber große Geschichten hat er dem Kuriens wohl erzählt. Der war ganz
begeistert, hat ihn wohl an seine Jugend erinnert.“
„Dieser junge Bursche – wie groß war er?“
„Ach, richtig mickrig. Vielleicht vier Fuß.“
„Könnte es ein Halbling gewesen sein?“, fragte Suena da spezifischer nach.
„Diese kleinen Leute aus dem Halfdal? Vielleicht. Aber so oft kommt keiner von
denen hier nicht her, daher bin ich mir unsicher.“
„Waren da noch andere seltsame Leute mit denen sich Kuriens hier getroffen
hat?“
„Ja! Da war ein Elf, der einen zahmen Wolf dabei hatte. Ich war ja erst
skeptisch, aber hat sich brav unter den Tisch gelegt und nichts gemacht, das
Tier. Natürlich diese Dame noch und ein Zwerg war auch dabei. Bunte Truppe, das
sag ich euch. So wie ihr.“ Dabei grinste der Mann breit.
„Man sagte uns, dass Kuriens nach Torren wollte. Hat er davon etwas erzählt,
was es dort gibt oder was sie dort suchen?“
„Torren ist ein kleines Dorf, also wirklich ganz klein. Sind etwa zwei Tage zu
Pferd nordästlich von hier. Kennt man eigentlich nur wegen der Festung dort,
ist aber auch schon seit Jahrzehnten verlassen. Aber was sie dort wollten, hat
er nicht gesagt, ne. Hat lieber viel von früher erzählt, wie er sich jetzt
wieder jung fühlt und das wieder erleben will.“
„Was war denn früher?“
„Er war wohl viel auf Reisen. Will viel gesehen haben.“
„Hatte er dabei einen Begleiter namens Gembal?“
„Gembal? Gembal Basiliskentöter? Sieben Fuß groß, Muskeln aus Stein.“
„Könnte hinkommen. Er war ein Freund von Kuriens?“
„Und wie! Jugendfreunde, schon immer. Haben wohl zusammen ihre Reisen
unternommen, dabei soll der Gembal mal einen Basilisken mit bloßen Händen
erwürgt haben!“
„Beeindruckend“, murmelte ich, auch wenn ich mir das schwer vorstellen konnte.
Ich war mir nicht einmal sicher, ob es diese Bestien überhaupt gab.
„Auf jeden Fall. War nur leider nicht so oft hier, um seine Geschichten zu
erzählen. Ist zu Fuß ja auch ein Tagesmarsch zu seinem Hof.“
„Er wohnt in der Nähe?“, horchte Suena auf.
„Ja, östlich. Hat sich einen schmucken Hof mit seiner Luana gekauft und seit
Jahren gut bestellt.“
„Oh“, nahm Suena es beinah tonlos auf. Uns anderen wurde der Speichel im Mund
ähnlich bitter.
„Darauf ein Bier“, brummte ich. „Ich brauch jetzt was zu trinken.“
„Die Sonne geht bald unter“, meinte Zedd. „Ich denke, eine Kleinigkeit zu
essen, da werde ich mich schlafend zurückziehen.“ Dario nickte dem Vorschlag
zu, auch Mara war einem gemeinsamen Betrinken leider nicht wohlgesonnen. So
blieb es bei Suena, Jenn und mir – wir machten uns noch ein paar Stunden des
alkoholischen Verdrängens, ehe uns am nächsten Tag der Kater der hinter und
auch der vor uns liegenden Ereignisse traf.
Nach dem Frühstück brachen wir
umgehend auf, um früh bei Gembals Hof anzukommen. Wir fühlten uns in der
Pflicht, seiner Familie von seinem Tod zu berichten, ehe wir den Glücksrittern
rund um Kuriens nach Torren nachreisten. Wir folgten zunächst einer größeren
Straße, bis wir in einem Wald der Beschreibung des Wirts gemäß auf einen Pfad
wechselten. Gegen Mittag lichteten sich die Bäume wieder und wir blickten auf
einen gemütlichen, kleinen Waldhof.
Wir saßen ab, ließen die größeren Waffen bei den Pferden, die Dario wieder
bewachte, und gingen zur Tür. Nach erstmaligem Klopfen geschah nichts. Wir
schlugen ein weiteres Mal an die Tür, dann öffnete sie sich. Vor uns stand ein
kleines Mädchen von vielleicht sieben oder acht Jahren. Sie hielt ein kleines
Holzschwert mit beiden Händen fest umklammert.
„Verschwindet, ihr Fieslinge!“, rief sie entschlossen.
„… Hallo!“, sagte Suena nach einem Moment irritiert. „Ist deine Mutter da?“
„Ich habe keine Mutter!“, brüllte das kleine Mädchen, machte einen Schritt
zurück und warf die Tür wieder zu.
„Und mir sagt man nach, ich hätte kein Händchen für Kinder“, gluckste Zedd,
wobei wir dem Priester alle einen skeptischen Blick zuwarfen. Da der
Vordereingang von dem wehrhaften Mädchen sicherlich aufs Blut verteidigt werden
würde, gingen wir um das Haus herum. Wir kamen an einem kleinen Gehege für
einige Ziegen sowie einem Kräutergarten vorbei, dann konnten wir von der Seite
durch ein Fenster in das Haus blicken. Dort stand in der Küche eine Frau, die
etwa vierzig war. Das Haar war zurückgebunden, um sie bei der Arbeit nicht zu
stören. Sie hatte bäuerlichen Dreck an sich, war aber nicht unansehnlich.
„Hallo? Seid Ihr Luana?“, rief Suena durch das Fenster.
Die Frau war wohl in Gedanken gewesen, denn es dauerte einen Moment, bis sie
reagierte. Sie blickte zum Fenster, zu uns, dann antwortete sie: „Kommt zur
Haustür, ich lasse euch rein.“
Wenig später standen wir vor der Mutter, die ihre widerborstige Tochter
zurückhielt. „Ein tapferes Kind“, meinte ich. „Aber gebt ihr das nächste Mal
einen Dolch in die Hand, damit lässt sich es sich besser kämpfen.“
Luana zog eine Braue hoch, sie schien von dem Vorschlag wohl nicht begeistert. Sie
ging aber nicht weiter darauf ein, sondern fragte: „Wer seid ihr eigentlich?“
„Wir sind Reisende und haben eine Nachricht für euch – ihr seid doch Luana, die
Frau von Gembal, nicht wahr?“ Die Frau nickte, woraufhin Suena bat, dass wir
uns vielleicht in die Küche setzen könnten. Luana zog zischend die Luft ein,
dann nickte sie. Wir gingen durch das kleine, ansehnliche Häuschen in die Küche
und nahmen dort Platz, ehe Suena uns kurz vorstellte. Dann erklärte sie, warum
wir hier waren: „Ich war gestern in der Nähe von Ealalinn unterwegs, da traf
ich auf euren Gemahl Gembal. Er wurde von zwei Männern angegriffen und
verfolgt. Er hat es nicht überlebt.“
Luana erstarrte. Erst fixierte sie Suena, dann wanderte ihr Blick über unsere
steifen Gesichter. Schließlich wiederholte sie leise: „Gembal ist tot?“
Suena nickte. Ich versuchte, das Bild noch zu ergänzen: „Ihr könnt stolz auf
ihn sein. Er starb kämpfend.“ Luana sah mich mit geweiteten Augen an, als wäre
das nichts, was einen Angehörigen beruhigen sollte – auch Jenn zuckte und
starrte mich dann kopfschüttelnd an. Wir schwiegen alle einen Moment, ehe die
Witwe fragte: „Wo ist seine Leiche? Er sollte hier beerdigt werden, bei seiner
Familie.“
„Er ist zurzeit beim Totengräber in Ealalinn aufgebahrt, um auf seine
Beisetzung zu warten.“
„Dürfte ich euch, nachdem ihr bereits so freundlich wart, mir diese Nachricht
zu überbringen, einen weiteren Dienst abverlangen? Könntet ihr Gembal
herbringen?“
Einen kurzen Moment zögerten wir, unsicher, wie die Zeit für uns drängte. Doch
das Ehrgefühl überwog deutlich, sodass Suena Luanas Wunsch bestätigte. Es gab
jedoch leider noch drängende Fragen unsererseits: „Wie gut war Gembal mit
Kuriens befreundet? Wir haben diese Briefe bei ihm gefunden.“
Sie händigte die Pergamente an die Witwe aus, welche sie kurz überflog. „Sie
waren eng befreundet, schon immer. Ja, Gembal hat mir hiervon erzählt“, meinte sie
mit Blick auf den eigentlichen Brief. „Er wollte sich mit Kuriens treffen, ist
dafür auch vor ein paar Tagen aufgebrochen. Wir hatten uns gestritten, dass er
wieder so eine lange Reise wie früher unternehmen wollte.“ Sie hielt inne,
kaute etwas auf den Lippen. Dann nahm sie, wie zur Ablenkung, die andere
Nachricht in die Hand, welche die Sommersonnenwende und einen Übergang oder
dergleichen betraf. „Das hier sagt mir jedoch nichts. Es ist Kuriens‘
Handschrift, aber ich habe diese Nachricht noch nie gesehen.“
„Hatte Gembal, als Ihr ihn das letzte Mal gesehen habt, dieses Mal?“, fragte
Suena und wies auf ihre Stirn. Luana sah genauer hin, musterte den seltsamen,
roten Punkt. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, er hatte kein solches Mal.“
„Dennoch vielen Dank für eure Hilfe. Wir werden morgen wiederkommen“, sagte
Suena und wir erhoben uns. Luana tat das gleiche, führte uns zur Tür, dann rief
sie ihre Kinder. Wir ließen die Familie für sich und brachen Richtung Ealalinn
auf, das wir dank der Pferde noch am Abend wieder erreichten. Der Totengräber
war nicht mehr zu sprechen, doch wir konnten letzte Besorgungen erledigen, was
eine Reise nach Torren anbelangte. Wir nahmen lieber etwas zu viel Nahrung als
zu wenig mit – bisher hatte uns keiner sagen können, wohin Kuriens und seine
Begleiter wohl hatten weiterreisen wollen.
Am nächsten Morgen informierten
wir den Apotheker, dass wir Gembals Leichnam zu seiner Familie bringen würden.
Er zuckte zwar bei unserem Eintreten etwas zusammen, schien dann jedoch erleichtert,
dass die Sache für ihn erledigt war. Anschließend suchten wir den Totengräber
selbst auf, der uns mit demselben schmierigen Grinsen begrüßte: „Hat sich
mittlerweile eine Lösung für euren Freund ergeben? Es gibt verschiedene
Möglichkeiten, ihn auf dem Friedhof unterzubringen, es braucht ja nicht
unbedingt jedes Grab einen Stein …“
„Nein, danke. Wir würden Gembal gerne mitnehmen und zu seiner Familie bringen“,
wiegelte Suena ihn ab.
„Achso, natürlich, wenn das so ist“, sagte der Mann und führte uns in die
Gruft, wo Gembal lag, wie wir ihn verlassen hatten. Der Totengräber hatte ihn
in ein Tuch geschlagen, das vielleicht dabei half, die Verwesung zu stoppen.
Als wir ihn daraus befreiten, fiel sein Arm zur Seite. Mein Blick streifte kurz
die Hand, da fielen mir an den Fingern zwei helle Stellen auf.
„Gembal hatte zwei Ringe“, stellte ich fest, zunächst an die anderen gewandt.
„Ja, ich erinnere mich“, bestätigte Mara, die – ihrem Aussehen nach nicht
unerwartet – wohl auch ein Auge für Schmuck hatte.
„Wo sind sie?“, knurrte ich den Totengräber an. Der lächelte verschmitzt. „Ach,
das war für die Konservierung, vergebt meine Vergesslichkeit“, wandte er sich
und rückte einen Ring heraus.
„Und der andere?“, fragte Zedd.
„Hm, ach, er hatte einen zweiten?“, erwiderte der Mann und sah sich den Toten
an.
„Ja. Wo ist er?“
„Ihr wisst doch wie es ist“, winselte der Totengräber nun. „Das ist eine kleine
Stadt, der Lohn ist gering …“
„Hört zu“, sagte Zedd kühl. „Gebt uns den zweiten Ring und wir vergessen die
Sache. Oder ihr landet bei euren Kunden.“
Der Mann nahm bereits deren Blässe an, schien jedoch noch nicht bereit, sich an
ihre Seite zu begeben. „Na schön, bleibt nur ruhig. Hier, der zweite Ring.“
Dabei ließen wir es bewenden,
auch wenn ich dem Totengräber noch gerne ein Erinnerungsveilchen dagelassen
hätte. Wir sattelten die Pferde und brachen auf – wieder auf die Straße, mehr
als einen Mond hatte es uns nicht an einer Stelle gehalten.
Als wir beim Hof ankamen, erwarteten uns Luana und ihre Kinder bereits. Die
kleine Tochter war unruhig, allerdings schien ihre Mutter ihr das Holzschwert
ersatzlos abgenommen zu haben. Eine katastrophale Verteidigungsstrategie.
Allerdings war noch der ältere Sohn zur Stelle, vielleicht vierzehn, also
gerade alt genug, um den Hof zu verteidigen. Stumm nahmen wir Gembal vom Pferd
und brachten ihn zu der Familie.
„Könntet ihr das Grab für ihn dort unter der Eiche ausheben?“, fragte Luana
uns. „Dann können wir Abschied nehmen.“
„Natürlich“, versicherte Jenn. Sie nahm sich eine Schaufel, ich folgte ihrem
Beispiel. Wir sahen kurz fragend zur ebenfalls starken Mara – welche wiederum
auf die feuchte Erde und dann auf die Spitzen ihres Kleides sah. Sie rümpfte
die Nase. Jenn und ich warfen uns skeptische Blicke zu, dann machten wir uns
daran, ein stattliches Grab für Gembal Basiliskentöter auszuheben. Es dauerte
eine Weile, dann war unsere Arbeit beendet. Wir hievten Gembal, den seine Frau
mittlerweile in ein weißes Leinentuch gewickelt hatte, in die Erde. Es war ein
stilles Begräbnis, bei dem Luana stumme Tränen vergoss, während ihre Kinder
noch versuchten, das alles zu verstehen. Dario und Zedd sprachen noch einige
neutrale Worte, dann bedeckten Jenn und ich Gembals Leichnam mit Erde.
„Wohin werdet ihr euch nun wenden?“, wandte sich Luana an uns.
„Wir wollen Kuriens hinterherreisen. Er sollte von Gembals Tod wissen. Und ich
muss wissen, was es mit diesem Zeichen auf meiner Stirn auf sich hat“, erklärte
Suena.
„Dann seht euch doch in Gembals Zimmer um, dort werdet ihr sicher auch eine
Karte finden, die euch den Weg nach Torren weist. Und wenn ihr Kuriens trefft …
richtet ihm meine Grüße aus.“
Wir stimmten ihrem Angebot erfreut zu und sie führte uns in das Studierzimmer
des Verstorbenen. Dieser unscheinbare Bauernhof beinhaltete in diesem Raum
allerlei Zeugnisse, die uns nahelegten, dass nicht alle Geschichten übertrieben
waren. An den Wänden hing allerlei Krimskrams, besonders hervorstach darunter
auch eine Armbrust. Diese quer auf einen Stock gelegten Bögen faszinierten
mich, ich hatte davon bisher noch nicht sehr viele gesehen. Es schien ein
besonders schönes Stück zu sein, mit versilberten Feinarbeiten. Ich wünschte,
Gembal wäre noch am Leben und könnte mir zeigen, wie man diese Waffe benutzt.
Auf einem Ständer war sogar eine ganze Rüstung aufgehängt und dann waren da
noch allerlei Artefakte, von denen ich mir nicht einmal ausmalen konnte, was
ihre Aufgabe sein könnte. Zwischendrin hingen auch immer wieder Porträts, mal
skizzenhaft, mal genauer, die Gembals selbst, aber auch seine Frau zeigten –
noch deutlich jünger und mit einem Bogen ausgestattet. Sie war also genauso
eine Abenteurerin wie er gewesen!
Abgesehen von den Bildern gab es auch Landkarten, jedoch nur der näheren
Umgebung. Das weckte zwar keine große Neugier, war jedoch sehr praktisch für
uns. Suena und Jenn wählten eine aus, die Torren sowie einen Weg von Ealalinn
dorthin zeigte, die wir an uns nahmen. Wir verabschiedeten uns bei Luana und
informierten sie über die Karte, die wir an uns genommen hatten. Sie nickte und
wünschte uns alles Gute für die Reise.
Zwei Tage lang ritten wir gen
Nordosten. Das Land wurde wieder hügeliger und karger. Dann erreichten wir eine
Ansammlung kleiner Hütten, die unterhalb eines Tafelbergs zu liegen schien –
erst auf den zweiten Blick wies uns Zedd daraufhin, dass das ein Krater war.
Die besten Zeiten dieses Orts lagen lange zurück, es gab beinah so viele
zerfallene Gebäude wie intakte. Nur eine Handvoll Menschen war auf dem Weg.
Suena sprach einen auf Comentang an, doch der schüttelte nur den Kopf.
Glücklicherweise sprach Jenn Erainnisch und konnte so für uns übersetzen. Der
Mann wollte jedoch nicht viel erzählen, sondern schickte uns zu der einzigen
Kneipe im Ort. Die Empfehlung nahmen wir an, banden dort unsere Pferde fest und
traten ein.
Der Schankraum der Gaststätte war recht klein und schien zudem noch in den
Schlafbereich überzugehen. Angesichts des Zustands von Torren verwunderte das
aber auch kaum. Wir setzten uns als einzige Gäste an die Theke, wo uns der Wirt
freudig auf Comentang begrüßte.
„Seid mir herzlich willkommen. Ich bin Garris, wie kann ich helfen? Ihr wollt
doch sicher erstmal etwas trinken, der Weg hier hoch ist ja etwas staubig.“
„Sicher“, stimmte ich zu und bestellte mir ein Bier. Jenn tat es mir gleich,
dann kamen die beiden Araner, die sich einig waren: „Habt ihr Tee?“
„Haltet ihr das hier etwa für eine Teeke?“, fragte Mara.
Stille. Alle sahen Mara an.
„Nun, wir hätten Kräutertee“, antwortete der Wirt schließlich. Die Araner nickten das ab, Suena
schloss sich an und knüpfte eine erste Frage an: „Garris, habt Ihr in den
letzten Tagen auffällige Gäste gehabt? Wir denken da an eine Reisgruppe mit
einem älteren Mann, einem Elfen, einem Zwerg …“
„Ja! Da kann ich mich gut dran erinnern. Vor drei Tagen oder so war eine bunte
Truppe hier. Ein Zwerg, ein ganz junger Bursche, ein Elf mit einem Wolf, eine
Priesterin. Zwei ältere Männer waren auch dabei, einer davon ein richtiger
Hüne. Bestimmt fast sieben Fuß.“
Wir stutzten etwas. Die Gruppe schien sich nach Kuriens‘ Leuten anzuhören, aber
wer war dieser Hüne? Suena nannte ein paar der Merkmale Gembals, das Haar, die
Nase …
„Ja, das war er.“
„Er war vor drei Tagen hier?“
„Ungefähr.“
„Wen haben wir dann vor zwei Tagen beerdigt?“, stutze Suena und fiel dabei in
die Vallinga zurück, um den Wirt nicht zu verschrecken. „Wenn Gembal vor drei
Tagen hier war, kann er nicht vor vier Tagen bei Ealalinn gestorben sein.“
„Oder anders gefragt: Wer reist mit Kuriens und den anderen mit?“, drehte Jenn
unsere Frage herum.
„Vielleicht ist es auch nur eine Verwechslung“, versuchte Mara unsere
Befürchtungen einzufangen. Doch Zedd erinnerte sich wieder der Gesichtslosen
und warf ein: „Was, wenn jemand das Gesicht Gembals gestohlen hat? Einer dieser
unheiligen Wiedergänger?“
„Oder auch mittels anderer Zauber“, schloss sich Suena der Überlegung an.
„Warten wir es ab.“
Sie wandte sich wieder an Garris, der zwischenzeitlich einige Gläser geputzt
hatte. „Haben diese Reisenden erzählt, was sie hier in Torren wollten?“
„Sie wollten wohl zum Drachenkessel.“
„Ist das der Krater?“, fragte Jenn.
„Ja. Ein erloschener Vulkan. Ich hab diesen bunten Haufen zu unserem
Dorfwächter geschickt. Berrim kennt sich noch am besten mit den Geschichten
aus.“
„Wo finden wir Berrim?“
„Einfach die Straße runter. Er sitzt meistens an einer Feuerstelle und hält
Ausschau, dass in Torren kein Übel geschieht. Ist auch seit Jahren nichts
passiert.“ Bei den letzten Worten zwinkerte er allerdings. Es schien nicht so,
dass diese Ansammlung an Hütten einen Wächter brauchte.
Wir tranken unser Bier oder auch
Tee aus, dann bedankten wir uns bei Garris mit einem großzügigen Trinkgeld. Die
Pferde ließen wir vorerst angebunden und gingen etwas die Straße weiter. Nur
fünfzehn Meter weiter saß ein Mann von vielleicht fünfzig an einem Lagerfeuer.
Er hatte wettergegerbte Haut, die ihn noch älter erscheinen ließ, begrüßte uns
aber mit einem gesunden Lächeln. „Fremde! Herzlich willkommen in Torren. Hat
euch unser Bier geschmeckt?“
„Durchaus“, antwortete ich. „Bist du Berrim der Dorfwächter?“
„Wie er leibt und lebt. Setzt euch doch zu mir.“ Wir folgten der Aufforderung,
dann übernahm Suena das Gespräch. „Garris hat uns erzählt, dass vor einigen
Tagen eine Gruppe Abenteurer hier war. Zwei ältere Männer, ein Jungspund oder
vielleicht Halbling, ein Elf …“
„Ja, ich erinnere mich. Ein wirklich bunter Haufen.“
„Was sollten sie?“
„Sie haben sich nach dem alten Drachenkessel erkundigt. Haben gefragt, ob es
noch Drachen gibt. Natürlich nicht mehr, das ist schon lange her.“
„Aber es gab hier mal Drachen?“
„Warum glaubt ihr, heißt der Vulkankrater so?“, sagte Berrim und grinste. „Auch
ein Grund für die Festung. Nunmehr eine Ruine, ihr könnt von hier vielleicht
einen ihren abgebrochenen Türme ausmachen. Da ist seit dreißig Jahren niemand
mehr, der Wacht hält.“
„Das war eine Festung gegen Drachen?“
„Ursprünglich, ja. Später dann für den Bürgerkrieg, doch der ist ja mittlerweile
weiter nach Norden gezogen.“
„Wie alt seid ihr, wenn ich fragen darf?“
„Stolze fünfundfünfzig. Aber ich sehe jünger aus, das weiß ich“, meinte Berrim
und grinste ob seines Scherzes. Allerdings setzte er noch einen drauf: „Liegt
vielleicht auch am Drachenblut, in dem ich gebadet habe.“
Ich lachte laut auf, während sich Berrim eine Pfeife anzündete.
„Wie habt ihr das gemacht?“, fragte da plötzlich Zedd.
„Was?“
„Ihr habt einfach eine Kohle aus dem Feuer gegriffen und euch damit die Pfeife
angezündet!“
„Na, hab ich doch gesagt“, meinte Berrim und grinste breit. „Ein Bad im
Drachenblut und die Haut wird zur Rüstung. Aber das ist nichts für jedermann.
Es verbrennt einen zunächst und dann ist da noch die Sache mit dem Verstand …
bei manchen Menschen verändert sich durch das Bad im Drachenblut auch die
Wesensart.“
„Du hast einen Drachen getötet?“, fragte ich lakonisch.
„So wahr ich Berrim heiße!“
„Wie groß war er denn?“
„So hoch wie drei Männer allein. Ein richtiges Biest.“
„Er hat die Kohle direkt aus dem Feuer gegriffen ohne sich zu verbrennen“,
bestätigte Suena Zedds Beobachtung auf Vallinga.
„Ich habe auch Schamanen gesehen, die auf Kohlen kauten. Der Mann hier ist
alles, aber doch kein Drachentöter“, gab ich bestimmt zurück. Dazu erschien mir
Berrim eindeutig zu verschroben.
„Um auf diese Abenteurer zurückzukommen“, sagte Suena wieder an den Dorfwächter
gewandt. „Was wollen sie beim Drachenkessel?“
„Sie haben gesagt, dass sie auf der Jagd sind. Ein Lindwurm soll sich dort
verkrochen haben, den wollten sie aufspüren. Ich habe ihnen zwar gesagt, dass
da oben kein Geschuppter mehr ist, aber sie ließen sich nicht überzeugen.“
„Wann sind sie weitergezogen?“
„Vor zwei Tagen“, sagte Berrim. Also stimmte Garris‘ Zeiteinschätzung – und
irgendetwas mit Kuriens‘ Begleiter ganz und gar nicht.
Wir bedankten uns bei dem
verschrobenen „Drachentöter“ und brachen auf. Es war noch hell, sodass wir
etwas Strecke gutmachen konnten. Die Straße wurde zum Weg, schlängelte sich in
weiter und weiter ausladenden Serpentinen den Berg hoch. Auch an der Festung
vorbei. Doch diese war wirklich nicht mehr als eine Ruine, die kaum einen Sturm
überstehen würde. Skeptisch blickten wir auf den verwitterten Stein und die
zerschlagenen Mauern. Es gab keine Anzeichen, dass hier jemand Rast gemacht
hatte, daher zogen wir rasch weiter.
Der Weg wurde zum Pfad, der sich durch einen Tannenwald zog. Die wohl letzte
Bewaldung vor dem Drachenkessel zog an uns vorbei, bis wir nicht ganz nach
einer Meile eine Lichtung erreichten – auf deren rechten Seite ein Lagerfeuer
lag.
Die Feuerstelle war erloschen,
das Gras darum zeigte auch nur noch letzte Spuren, dass man hier ein Nachtlager
gehalten hatte. Doch sie waren da. Wir saßen ab und besahen uns die Stelle, ob
die Reisenden nicht vielleicht etwas vergessen hatten oder sich anderweitig
Rückschlüsse auf sie ziehen ließ. Kniend auf dem Boden suchte ich zwischen dem
Gras, als ich plötzlich ein Knurren vor mir vernahm. Zunächst war es noch
zwischen den Bäumen, dann raschelte ein Busch und ein Wolf sprang hervor.
Das Tier blieb zwei Meter vor mir stehen. Es knurrte, wobei es mich mit seinen
gelben Augen fixierte. Oder viel eher meine Kehle. Ich behielt das wütende Tier
im Blick, zog mich aber Stück für Stück zurück. Das Knurren ließ etwas nach und
der Wolf blieb an Ort und Stelle. Suena trat an meine Seite. Sie murmelte
einige Worte vor sich hin, von denen ich nicht sagen konnte, ob sie einer
Sprache entstammten, ein Singsang waren oder Zauberei. Doch der Wolf fixierte
nun sie – aber sein Knurren endete. Suena machte einen ersten Schritt auf ihn
zu, er sah sie weiter an, machte aber keine Anstalten, sein
Verteidigungsverhalten fortzusetzen. So schritt unsere Zauberin entschlossen
auf ihn zu, dann an ihm vorbei. Der Graupelz behielt sie im Blick, war aber
nunmehr friedlich.
„Hier hinter den Büschen liegt jemand. Ein Elf – er ist tot“, rief uns Suena
zu. Wir kamen ihr vorsichtig nach, doch der Wolf schien sich nun beruhigt zu
haben. Er nahm etwas Abstand. So konnten wir nun alle den Elfen in Augenschein
nehmen. Sein linker Arm war blutverschmiert, das aus einer glatten Wunde
geflossen war, wie Zedd feststellte. In der rechten Hand hatte er einen Dolch
umklammert, der ihm jedoch nicht mehr geholfen hat. Noch etwas Besitz war bei
ihm, ein Langbogen, den Jenn an sich nahm, sowie ein wertvoller Ring, den Suena
verwahrte, bis wir den Rest der Reisegruppe gefunden hatten – für uns stand
fest, dass dies der Elf aus Kuriens‘ Gruppe gewesen sein musste. Doch wer ihn
getötet hatte und warum er zurückgelassen wurde blieb für uns ein Rätsel. Die
Gedanken gingen einzig zurück zu diesem „Gembal“, der die Reisegruppe
begleitete.
Ich versuchte den Kampfschauplatz ausfindig zu machen. Es machte den Eindruck,
dass der Elf zunächst versucht hatte, vom Lager davon zu kriechen. Die letzten
Meter zwischen die Büsche war er jedoch gezogen worden. Den Spuren an seiner
Kleidung nach zu urteilen von seinem Wolfsbegleiter, der ihn beschützen wollte.
Jenn schritt auf den Graupelz zu und streckte die Hand aus, als wolle sie ihn
streichen.
„He, Stadtmädchen“, rief ich. „Das ist immer noch ein Wolf.“
„Genau genommen, ein Wolfshund“, korrigierte Zedd. „Ein Mischling. Sonst wäre
es sicher schwerer gewesen, ihn zu zähmen.“
Nichtsdestotrotz war ich irritiert, als ich sah, wie das Tier sich von Jenn
streicheln ließ.
„Dieser Elf hatte noch einen Zettel bei sich. Sieht aus, als wäre er aus einem
größeren Schriftstück herausgerissen worden. Hier steht nur ‚utz‘“, sagte
Suena.
„Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte ich. Die anderen blickten fragend zu
Mara. „Gibt es ein Ritual bei eurem Volk?“, fragte Suena.
„Normalerweise würde man einen Baum über seinem Grab pflanzen. Angesichts der
Umstände würde ich aber vorschlagen, ihn unterhalb einer dieser Tannen zu
beerdigen.“
So nahmen wir uns erneut der Aufgabe an, ein Grab auszuheben. Der Wolfshund
trat in der Zwischenzeit noch einmal an sein Herrchen heran und leckte über
dessen Wangen. Doch alles Stupsen half nichts, sodass wir den Körper in seine
letzte Ruhestätte legten. Der Graupelz stieß ein letztes Jaulen aus, während wir
ein stummes Begräbnis abhielten. Als wir das Grab mit Erde bedeckt hatten,
brachen wir umgehend auf. Keiner von uns wollte hier länger als nötig
verweilen. Der Wolfshund blieb neben der aufgeschütteten Erde stehen und
schnüffelte im Gras nach dem letzten verwehenden Geruch seines Herrchens.
Wir waren gerade fünfzig Meter
weit geritten, da rief Jenn: „Seht nur!“
Auf ihren Fingerzeig blickten wir hinter uns – und sahen den Wolfshund hinter
uns den Weg entlang trotten. Als wir stehen blieben, hielt er ebenfalls einen
Moment lang inne. Dann kam er etwas näher. Wir setzten unsere Reise noch etwas
fort, bis die einbrechende Dunkelheit es erforderte, ein Nachtlager
aufzuschlagen. Der Wolfshund suchte sich einige Meter von uns entfernt ein
ruhiges Plätzchen, wo er es sich bequem machte und einschlief. Jenn blickte
lächelnd zu dem Tier hinüber, während Zedd noch mit seiner Fachkenntnis
bestätigte, dass von dem Tier wahrscheinlich keine Bedrohung ausging.
Während es dunkler wurde, wanderten die Blicke immer wieder hoch zum
Drachenkessel.