Wir standen in den Tiefen einer riesigen Höhle, die – ob nun magisch oder natürlich geschaffen – vor beinah eintausend Jahren das Versteck der letzten Dunklen Meister dargestellt hatte. Nachdem wir uns durch die derzeit zerstörten Globen gekämpft hatten, waren wir nun hier, an diesem seltsamen Ort. Ein dreieckiger Torbogen war zu durchqueren, um an den Rand eines großen in den Fels eingelassenen Rings zu treten. Während die Wände von einer Schlange, welche sich selbst in den Schwanz biss, gezeichnet waren, wies der Boden ein riesiges Hexagramm auf. An jeder Spitze stand, kurz außerhalb des Rings, ein riesiger Obelisk, der sich trotz der Jahrhunderte noch unbeschadet in die Luft reckte.
Zentrum dieses bizarren Konstrukts war eine vulkangläserne Pyramide, mehr als doppelt so hoch wie ein Mensch. Mitten im Hexagramm angebracht stellte sie wohl eine Art Fokus dar – aber nur unvollständig. Auf der abgeflachten Spitze hatte wohl einst jene Kugel gelegen, die nun scheinbar wahllos vor Jahrhunderten heruntergerollt und schließlich zum Liegen gekommen war. Größer als ein Mensch und von kristallgläserner Struktur, wies sie silberne Fäden auf, die sich in ihrem Inneren zu einem unerkenntlichen Chaos oder einer wahnsinnigen Ordnung zusammenfügten.
Leif machte seinem Spitznamen Uránolwe alle Ehre, als er ohne zu Zögern durch den steinernen Bogen auf den großen Ring zutrat. Das Hexagramm am Boden flackerte sofort in einem fahlen Licht auf und hüllte diesen Ort in einen dunstigen Schein. Die „gefährliche Neugier“ machte jedoch nicht halt. Zielstrebig ging der Waelinger in den Ring und zur Kugel.
„Warte!“, rief Ricardo.
„Du weißt doch noch gar nicht, was hier geschieht!“, mahnte ich.
Doch Leif, von seiner üblichen, an Besessenheit erinnernde, Neugier beseelt, hielt nicht an. Er erreichte die Kugel und legte fasziniert seine Hände auf. Er erstarrte. Und rührte sich mehrere Minuten nicht – während wir fassungslos in den Ring blickten. Dann stürzte Ricardo in den Ring und zerrte an seinem Studienkollegen… er erstarrte ebenfalls.
Fahrig überlegte ich, was hier gerade geschah. War dies ein Schutzmechanismus? Ein Lähmungszauber, der den unbedachten Abenteurer in den Bann schlagen sollte? Es sah ganz und gar nicht danach aus. Natürlich, der Effekt war derselbe… doch fehlten die typischen Zeichen oder Runen, die auf ein Thaumagramm oder dergleichen mehr hindeuten würden. Zugegebenermaßen war auch auf die Entfernung nicht alles genau zu erkennen.
Da erwachten Ricardo und Leif gleichzeitig und der Impuls des Küstenstaatlers, seinen Freund von der Kugel fortzureißen, setzte sich wieder fort. Taumelnd schreckten sie so vor dem Konstrukt zurück und kamen uns einige Schritte entgegen gelaufen, während derer sie sich bereits hektisch zuredeten – doch noch so wirr, dass man kaum etwas verstehen konnte.
„Wir haben Sofeth gesehen!“, verkündete Leif als erster, als sie bei uns angekommen waren. „Doch er war weder lebendig noch tot. In einem seltsamen Thronsaal hatte er die Hand zum Segen erhoben.“
„Ich habe Alexios und Pelektrakt als junge Männer gesehen“, erzählte Ricardo dann. „Es war wie eine Vogelperspektive und ich blickte durch Wände auf einen Raum hinunter… sie waren hier unten, hier – in dieser Höhle! Sofeth war bei ihnen, doch sie haben ihn hinterrücks erstochen!“
„Hm, ich war dann tot gewesen“, redete Leif weiter. „Es erschien mir wie eine düstere Zukunftsvision… und ihr spieltet um meinen Besitz, den ich hinterlassen hatte.“
„Leif! So etwas würden wir nicht tun“, versuchte ich den Waelinger zu beruhigen, doch er wusste selbst, dass er solchen Trugbildern keinen Glauben schenken durfte.
„Zum Schluss stand ich noch vor einem Tor, auf dem Reichtum geschrieben stand. Doch dort wollte ich nicht hindurch gehen“, setzte Ricardo den seltsamen Bericht seines Traumgesichts fort.
„Ich sah noch das Gesicht von Sofeth. Es war seltsam grimmig und unheimlich. Dann waren da noch Alexios und Pelektrakt.“
„Und eine Frage!“, ergänzte Ricardo.
„Ja, mir wurde auch eine Frage gestellt“, bestätigte Leif. „Irgendwas mit… was ist heiliger als das und was ist heiliger als das…?“
Mir schwirrte der Kopf. Ich konnte kaum sagen, ob die Visionen der beiden tatsächlich so verworren gewesen waren, wie sie es hier schilderten. Aber ihr hektisches Gerede, wie es den Menschen wohl immer wieder üblich und schlimmstenfalls sogar sinnvoll schien, machte es nicht besser. Miyako neben mir wirkte aber nicht minder irritiert.
„Noch einmal ganz langsam, meine Freunde“, hielt ich die beiden auf und hob dazu noch demonstrativ die Hände, als müsste ich sie beschwichtigen. „Was habt ihr gesehen und in welcher Reihenfolge? Und redet bitte nicht durcheinander.“
„Zuerst wurde die Frage gestellt: Was ist heiliger als… Vergeltung? Irgendeinen Zusatz gab es noch?“
„Gerechte Vergeltung?“, mutmaßte ich.
„Ja! Genau. Und dann noch etwas; es war auch noch heiliger als etwas anderes. Aber zumindest schien mein Gedanke an eine Beschwörung nicht mein sofortiges Ende bedeutet zu haben. Ich war dann anschließend in dem Thronsaal mit Sofeth. Er wirkte wie ein Heiliger, auch wenn er irgendwie untot war. Seinen Segen lehnte ich ab, wandte mich ab. Der Boden stürzte unter meinen Füßen hinfort und ich sah die Gesichter Sofeths, Alexios‘ und Pelektrakts an mir vorüberziehen. Bis ich auf der Feier meines Todes war und um meine Habe gespielt wurde.“
Dann erklärte sich Ricardo: „Mir wurde ebenfalls die Frage gestellt und ich dachte an den Tod. Doch anschließend gelangte ich ebenfalls in den Thronsaal. Ich nahm den Segen natürlich an. Insgesamt war die Vision bei mir auch deutlich positiver als bei Leif, weiß nicht, was er da falsch gemacht hat.“
Mit hoch gezogenen Brauen blickte ich den Küstenstaatler an, der, warum auch immer, plötzlich einen Wettbewerb daraus machte, wer die „beste“ Vision hatte. Doch glücklicherweise erging er sich nicht weiter in geheucheltem Eigenlob und erklärte, was weiter geschehen war: „Zumindest sah ich dann Sofeth mit Alexios und Pelektrakt, wie sie hier hinabgestiegen sind. Es gab wohl einen Streit zwischen den dreien. Er fand sein Ende im hinterhältigen Mord an Sofeth! Dann war ich vor dem Tor und die Vision endete, weil ich nicht mehr weitergehen wollte.“
„Wenn wir den Visionen also einen gewissen Glauben schenken wollen, dann kannten Alexios und Pelektrakt Sofeth. Sie waren gemeinsam hier unten und haben ihn ermordet“, nahm ich den Faden dieser Gesichte auf.
„Sie wirkten wirklich recht jung“, merkte Ricardo an.
„Es könnte also sein, dass dies kurz vor dem Tage war, an dem ein gewisser Sofeth als Eremit in die hiesige Einsiedelei gegangen ist“, mutmaßte ich. „Dann hat er den Angriff irgendwie überlebt.“
„Oder… nun, er hat nicht wirklich gelebt in dieser Vision“, gab Leif zu Bedenken. „Das hängt dann wahrscheinlich auch mit dem seltsamen Status seines Körpers zusammen. Wir sollten die Kugel noch einmal berühren, womöglich vermittelt sie uns eine weitere Vision.“
„Warte“, mahnte ich. „Wir haben noch kaum verstanden, was das alles bedeuten soll und was Alexios und Pelektrakt nach hier unten trieb.“
Doch – der Waelinger war bereits los gelaufen. Fassungslos blickte ich ihm hinterher, als er bereits wieder bei der Kugel stand und seine Hände auflegte. Es gab keinen Lichtblitz, kein Beben, kein Geräusch. Und Leif war einfach verschwunden. Kurz danach war Ricardo an der Kugel, berührte sie… und verschwand.
„Das kann doch nicht wahr sein“, sagte ich kopfschüttelnd.
„Sie hätten vielleicht doch sehen sollen, was wir gesehen haben, als wir unten im ‚Keller‘ waren. Vielleicht hätte sie das vor derart blindem Aktionismus bewahrt“, kommentierte Miyako das Geschehene.
„Wenn wir warten, vielleicht tauchen sie dann wieder auf. Wie bei der Lähmung“, hoffte ich.
Doch nach fünf Minuten war noch immer Nichts geschehen. Groam schritt an uns vorbei und sprach einige zwergische Worte in seinen Bart. Das unverständliche Gegrummel begleitete ihn, bis er eine Hand an die Kugel legte. Zunächst erstarrte er für einige Sekunden – bis auch er gänzlich verschwand. Seufzend blickten Miyako und ich uns an und wir gingen nun ebenfalls durch den Torbogen, über das Hexagramm, hin zur seltsamen Kugel am Boden.
„Lass uns die Kugel gleichzeitig berühren. Vielleicht schützt uns das davor, auseinander gerissen zu werden“, schlug Miyako vor. Ich nickte und nachdem wir gemeinsam von drei hinunter gezählt hatten, berührten wir die Kugel.
Nach einem kurzen Moment, in dem sich umfassende Blindheit über sämtliche meiner Sinne gelegt hatte, nahm ich mich selbst in einem grenzenlosen Nichts wahr. Es war finster und jenseits des Bewusstseins des eigenen Körpers wusste ich nicht, was hier war. Was das hier war. Doch ein seltsames Gefühl manifestierte sich: dass alles so fern war, dass allein der Gedanke daran endlose Meilen gehen musste. Dann hörte ich die Stimme:
„Was ist heiliger als die gerechte Vergeltung und die Strafe für Untaten?“
Das Vorpreschen Leifs hatte mich dermaßen irritiert, dass ich vollkommen vergessen hatte, diese Frage zu erwarten. So traf es mich ebenso unvorbereitet wie meine Vorgänger. Nur die Erinnerung an das Losungswort des Waelingers kam mir in den Sinn, es formte sich in meinem Verstand jedoch noch in Ritual um. Eine sinnentleerte Antwort, die ich aber nicht einmal aussprechen musste, um diesem „Nichts“ hier Genüge zu tun, wie es schien. Denn die Kulisse veränderte sich.
Ich stand in einer großen Halle inmitten einer dicht gedrängten Menschenmenge. Die Ränder meines Sichtfelds wirkten seltsam neblig und unscharf, während ich nur wenige Dutzend Meter vor mir auf einem Stuhl instinktiv jenen Menschen erkannte, den ich noch nie selbst gesehen hatte: dort saß, in einer weißen Robe, der Mann namens Sofeth. Seine rechte Hand war für Segensgrüße erhoben… da fiel sein Blick auf mich. Sofern man es einen Blick nennen konnte. Seine Augenhöhlen waren leere Löcher und nur mühselig schien sich daraus ein Leuchten hervor zu kämpfen. Die Masse vor mir bildete ein Spalier zwischen mir und diesem blassen, leichenhaften Anblick eines angeblichen Heiligen. Er wartete mich für einen Segen. Keinen Moment zögerte ich und wandte mich von dieser verderbten Heiligkeit ab; einem Schmähbild, das mich wohl eher verfluchen denn segnen konnte.
Die Masse schrie auf, als ich mich herumgedreht hatte. Wie ein Erdrutsch schoss sie auf mich zu, während ich noch Ausschau nach einem Ausweg hielt. Dabei offenbarte sich das Grauen dieser seltsamen Messe: den Menschen schälte sich das Fleisch von den fahlen Knochen bei jedem Schritt den sie taten und ihre Schreie verwandelten sich in hohles Gestöhne, während sich die Luft in Grabeskälte wandelte. Ein Ruf erschallte aus hundert Kehlen: „Vergeltung für den Totgeglaubten!“
Gerade als die ersten Untoten auf mich sprangen, brach der Boden zu meinen Füßen weg und ich stürzte in tiefste Finsternis. Allein und orientierungslos fiel und fiel ich durch das Nichts, bis plötzlich ein Alptraum auftauchte und mich bei der Kehle packte: es war der kreischende Sofeth dessen leere Augenhöhlen mit dem flachen Glimmen mich fixierten. Dann riss es diese Gestalt hinweg und ich sah die Gesichter von Alexios und Pelektrakt zu einem spöttischen Grinsen verzerrt.
Dann nahm die Welt wieder Form und Farbe an und mein Sturz verwandelte sich in ein unkontrollierbares Gleiten. Ich rauschte über und durch das Anwesen der Lukah Senenna! Da waren die Söldner mit ihrem Anführer Empallazos und spielten um meine Habe. Die anderen Mitglieder unserer Expedition tranken Wein und aßen erlesene Speisen während mit einem Scherbengericht über mich geurteilt werden sollte. Irgendwo erklangen Worte einer Abschiedsrede an mich, doch mein Flug trug mich weiter, bis ich vor dem Anwesen war… und Nublesch al-Zeloti sah, wie er gewaltige Dämonenhorden dirigierte, die in Oktrea aufmarschierten.
Mit einem lauten Schrei auf den Lippen warf es mich zurück in die bizarre Unterwelt, in die Mitte des Steinkreises. Miyako erwachte im selben Moment neben mir – es war so gleichzeitig, dass ich nicht einmal sicher hätte sagen können, ob in dieser Welt auch nur eine Sekunde vergangen war.
„Hattest du auch eine Vision?“, fragte ich der Sicherheit halber nach.
„Ja. Da war Sofeth in einem riesigen Saal und er wollte mir seinen Segen geben. Ich ließ es über mich ergehen und im Weiteren entwickelte sich meine… Vision wie die Ricardos.“
„Warum sind wir nun noch hier?“, fragte ich etwas verdutzt.
„Nun… die anderen haben die Kugel zweimal berührt, oder nicht?“
Ich überlegte kurz, nickte dann. Ohne ein weiteres Wort berührten Miyako und ich gleichzeitig diese seltsame, kristallene Kugel.
Mein Blick verdunkelte sich, dann flackerte es um mich herum – ein schneller Wechsel aus Licht und Dunkel machten es mir unmöglich irgendetwas zu erkennen…
Nach nur einem Augenblick konnte ich meine Umgebung wieder erkennen, wenngleich ihre Fremdartigkeit mich schockierte. Der „Boden“ auf dem ich stand, oder zumindest zu stehen glaubte, fühlte sich seltsam nachgiebig an und ein tastender Schritt erzeugte lediglich ein gedämpftes Geräusch. So musste es sein, wenn man auf Wolken laufen könnte und dieser Eindruck wurde weiter verstärkt: wir waren in einer seltsam düsteren Welt. Der Boden war von grauen Nebelschwaden verdeckt, während das, was auch immer über uns war – ein Himmel? – sich in tiefer, sternenloser Nacht ergab. Auch sie war stellenweise von dem grauen Miasma durchzogen. Diese Ebene wirkte grenzenlos und leer, der Blick brach schließlich an der schieren Unvorstellbarkeit der Weite.
Miyako war neben mir und bedachte diese Welt mit dem gleichen Unglauben, der in meinen Augen glänzen musste, während sich ihre Lippen vor Abscheu spitzten. Und Leif war da, ebenso wie Ricardo. Sie blickten ebenso verwundert drein, dass hier nicht viel Zeit vergangen sein konnte, bis wir ihnen nachgegangen waren.
„Leif! Wo hast du uns hier nur reingeritten?“, rief ich aus.
Der Waelinger zuckte nur mit den Achseln, dann wies er auf eine weitere Gestalt, nur wenige Meter von uns entfernt. Sie lag auf diesem seltsamen „Boden“. Ich folgte Leifs Blick und erblickte: Alexios. Hastig eilten wir zu ihm hin. Der Gesandte des Patriarchats lag bewusstlos am Boden, seine offenliegende Haut an Händen und im Gesicht wies rote Flecken auf. Ich rüttelte an ihm, doch er gab Nichts von sich – nur das schwache Heben und Senken des Brustkorbs verriet, dass noch etwas Leben in ihm war.
„Seht doch nur“, stammelte plötzlich Leif ungläubig. Wir blickten von dem Gesandten auf und sahen, was der Waelinger nun entdeckt hatte: fünf Frauen näherten sich uns. Sie waren dem Augenschein nach menschlich und von atemberaubendem Aussehen. Wohl geformte Rundungen wurden von durchscheinendem Stoff nur andeutungsweise verdeckt, was den Reiz für den Beobachter nur weiter verstärkte. Langes schwarzes Haar umrahmte die Gesichter aus schneeweißer Haut in denen volle, rote Lippen leicht geöffnet einen liebreizenden Kuss versprachen – während tiefe, dunkle Augen drohten, die Seele zu verzerren. Ich spürte bereits wie meine Kehle trocken wurde und sich niedere Instinkte regten, daher wandte ich den Blick hastig ab und versuchte eilends Alexios zu wecken. Dieser unsägliche Gesandte einer unglücklichen Gottheit musste einen Weg zurück kennen!
Doch der Chryseier war nicht so schnell wach zu kriegen. Er erzitterte vor Schmerzen, insbesondere, wenn ich auf die roten Wundmale drückte, die alle seltsamerweise eine ähnliche Form hatten. Es war wie ein… mein Blick schoss nach oben, raste zu Leif hin: der Waelinger stand vor einer dieser Frauen. Er wirkte seltsam unsicher auf den Beinen, als würde er auf schwankendem Grund stehen. Nur sein Kopf war gerade, seine Augen mussten genau in jene tiefen, dunklen Augen der Frau vor ihm blicken. Dann machte er den letzten Schritt und das Wesen umfing ihn, drückte ihm einen festen Kuss auf die Lippen.
„Das sind Lamien!“, brüllte Ricardo seine Erkenntnis hinaus und zückte sein Florett. Miyako kam ihm gleich und zog ihr Langschwert. Ich warf noch einen Blick auf Alexios. Er hatte bereits Bekanntschaft mit diesen Dämonen gemacht, die sich betörende Frauengestalten gaben.
Hastig nahm auch ich meinen Speer auf und spurtete zu Leif hinüber, welcher unter der liebkosenden und doch lebensraubenden Berührung der Lamie zuckte. Rechts neben ihm stand Groam, er war auch dem Anblick eines dieser Dämonen erlegen!
Links von mir kämpften Ricardo und Miyako bereits gegen diese Kreaturen, welche sich nun, da ihre Erscheinung nicht mehr ausreichte, mit wilden Schlägen verteidigten. Unsere KanThai machte als erste Bekanntschaft mit der unerwarteten Stärke jener „Frauen“! Eine flache Hand traf sie mitten ins Gesicht, sodass ihr Kopf herumgerissen wurde. Miyako spuckte Blut aus, dann warf sie der Lamie einen vernichtenden Blick zu. Das darin liegende Versprechen erfüllte sich innerhalb eines einzigen Moments. Blanker Stahl durchbohrte den Brustkorb und der Dämon in Frauengestalt sank zurück, wurde vom Nebel umfasst… und verschwand.
Gerade hatte ich Leif erreicht, da ließ die Lamie ihn zu Boden sinken. Sie hatte das Gesicht des Waelingers mit Küssen bedeckt, die sich auf die Haut eingebrannt hatten. Seine Augen waren verdreht und der süße Schmerz machte ihn bewusstlos. Ich fluchte und wollte den Dämon davon abhalten, das restliche Leben aus Leif hinaus zu saugen – doch die Kreatur schlug zunächst meinen Speer zur Seite als wäre er ein dürrer Ast und danach attackierte sie mich mit blanker Hand. Ich riss mit rechter Hand meinen Schild hoch, um den Angriff abzuwehren… da fuhren die Finger der Lamie wie eine Dämonenkralle durch das Holz und schmetterten meine Verteidigung.
Ächzend ließ ich den zerstörten Schild fallen und umklammerte stattdessen meinen Speer mit beiden Händen. Mit dem Holz wehrte ich sogleich den nächsten Angriff der Kreatur ab, wirbelte herum und suchte den schnellen Gegenstoß. Um Haaresbreite verfehlte das Silber den Schädel des Dämons, der dennoch zurückzuckte und von miasmatischen Schwaden dieser Welt entrückt wurde.
Erstaunt, wenn auch nicht unzufrieden blickte ich mich um. Gerade rechtzeitig um mitansehen zu müssen, wie nun auch Groam zu Boden ging. Entschlossen stellte ich mich nun seiner Gegnerin entgegen, um ihn vor dem Todeskuss zu schützen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Miyako gerade eine weitere Lamie aus dieser Sphäre hier bannte und noch einer weiteren einen Treffer beibrachte.
Dann kam Ricardo – zu früh… und erledigte eine der Frauenkreaturen mit einem wohl platzierten Ausfall. Auch ihr Körper sank in die Tiefen dessen, was ich eigentlich für den Boden hielt. Indes traf mich meine Gegnerin, die letzte der Lamien, zweifach mit der Faust. Doch ihre Bemühungen scheiterten bereits an meiner einfachen Lederrüstung. Sie bleckte boshaft die Zähne und wischte damit den letzten Rest der Anmut hinweg, den sie eigentlich verstrahlen wollte. Zur Antwort durchbohrte mein Speer ihren Torso. Keuchend sank der Dämon zurück und folgte seinen Verwandten… wohin auch immer.
Hastig ließ ich meine Waffe fallen und versuchte meine Gefährten so gut wie möglich mit erster Hilfe zu versorgen. Tatsächlich zeigten einige meiner Salben eine gewisse Wirkung und die Verfärbungen auf der Haut ließen nach. Doch es reichte gerade einmal aus, um Groam und Leif wach zu kriegen. An ein Weitergehen war kaum zu denken. Ächzend sank ich zurück. Nach der Begegnung mit dem Nachtmahr besaß ich nicht mehr genug Kraft, um heilende Zauber einzusetzen. Es blieb also nichts übrig, außer den beiden jeweils einen Heiltrank aus unserem begrenzten Vorrat zu geben. Danach konnten sie wenigstens stehen und ich hoffte inständig, dass dies der letzte Kampf gewesen war.
Dann wandte ich mich dem Grund unseres Hierseins zu: der Gesandte Alexios kam langsam wieder zu sich und nachdem ich auch ihn einigermaßen mit Salben und Tinkturen versorgt hatte, klärte sich sein Blick. Nur um nach einem kurzen Moment vor Unglaube die Augen aufzureißen.
„Wo sind wir?“, stammelte der Mann ängstlich.
„Ich hatte eigentlich erwartet, dass Ihr uns das sagen könntet“, erwiderte ich kühl.
„Ich – ich weiß nicht, was das hier ist. Wie seid Ihr hierhergekommen?“
„Über den Steinkreis. Wie Ihr“, machte es Miyako kurz.
„Ja, der Kreis… wir müssen hier weg! Bringt mich hier raus.“
„Ganz langsam“, hielt ich den Mann an. „Zuerst müsst Ihr uns einige, dringende Fragen beantworten.“
„Fragen?! Verflucht, Mann, wir sind hier irgendwo im Nirgendwo! Wir müssen hier weg. Dann erkläre ich euch alles.“
„Da habe ich so meine Zweifel“, widersprach ich Alexios. „Wir haben uns hier durch die Hölle gekämpft, um euch zu finden. Also sprecht, oder wir lassen euch hier.“
Der Mann rang förmlich mit sich selbst, dann ließ er seine weinerliche Fassade endlich fallen und nickte.
„Zunächst“, setzte ich an. „Wo sind Nublesch und Pelektrakt?“
„Pelektrakt hatte einen Vorsprung. Und Nublesch ist zurück geblieben. Er wollte mir nachkommen.“
„Und wann seid ihr auf Synistes gestoßen?“
„Synistes? Er war nicht mit uns hier!“
„So? Und was macht seine Leiche dann unter dem Toten Baum?“, stieß ich hervor.
„Er… das muss Nublesch gewesen sein! Er blieb ja zurück“, stammelte Alexios und es würde mich kaum wundern, wenn er mich wieder belog. Doch kurzum, die Wahrheit ließ sich vor uns dadurch nicht verschleiern.
„Wir haben gesehen, dass Pelektrakt und Ihr Sofeth getötet habt!“, rief nun Ricardo aus. „Damals, vor langer Zeit.“
Scheu wandte Alexios den Blick ab. Er war sich aber offensichtlich der Tatsache bewusst, dass er allein zurückbleiben würde, sollte er nicht sprechen. Denn er sammelte sich und erklärte, was damals geschehen war: „Pelektrakt und ich waren damals zusammen mit ihm hierhergekommen. Wir wollten Schätze finden, immerhin ist das hier der letzte Rückzugsort der Dunklen Meister! Hier muss es etwas Großes geben! Und Sofeth war auch dabei, aber damals hieß er Cyrillian.“
„Und ihr habt ihn getötet“, stellte Miyako schneidend fest.
„Es gab einen Streit… es ging plötzlich alles so schnell…“
Ich hob die Hand und Alexios ersparte uns den Rest seiner erlogenen Unschuldsgeschichte. Stattdessen fragte ich: „Aber Sofeth hat überlebt, wie es scheint. Und ist in die Einsiedelei gegangen, um dreißig Jahre später zum Heiligen aufzusteigen?“
„Ich weiß es nicht. Aber um das zu verstehen, was hier vorging, haben wir die Konklave einberufen.“
„Und was zum Teufel trieb euch wieder hierher? In diese Brutstätte des Todes?“, stieß ich zornig hervor.
„Ich sprach doch schon von den Schätzen! Den Reichtümern der Seemeister!“
„Ihr müsst vollkommen von Sinnen sein, hier Schätze suchen zu wollen… Was ist mit dem Schariden? Seit wann kennt Ihr ihn?“
„Pelektrakt und ich kennen ihn erst seit kurzem… wir brauchten ihn, um wieder hierher zu kommen. Er hat uns geholfen.“
„Wie?“
„Dies und jenes… er hat Kontakte zum Jakchos-Kult.“
Seufzend ließ ich es dabei beruhen. „Nun, Alexios. Wegen eurer größenwahnsinnigen Schatzjägerei sind wir nun hier. Wie kommen wir wieder zurück?“
„Ich weiß es doch nicht!“, bellte der Mann.
„Dann sollten wir Pelektrakt suchen“, meinte Miyako und lief zielstrebig los – oder zumindest lief sie los. Inmitten dieser Nebelschwaden und der immer gleichen Umgebung von einem Ziel zu sprechen wäre anmaßend. Wir anderen standen ebenfalls auf, wobei ich Alexios auf die Beine zerrte und dann folgten wir ihr… einfach gerade aus.
Die Atmosphäre glich der seltsamen Höhlenwelt aus der wir gekommen waren. Die gewaltige Schwärze dort hatte den Ort beinah so unwirklich gemacht wie diese zweifellos andersartige Zwischenwelt über die wir nun wandelten. Doch die wabernden Nebel und das seltsame graue Licht, das unseren Pfad in halbherziges Zwielicht tauchte, machten, ebenso wie der nie gesehene und bizarr nachgebende Boden, deutlich, dass dies nicht unsere Welt war. Und ich war mir nicht sicher, ob diese Welt Heim von irgendwas sein konnte.
Nach einem Weg durch unveränderten Raum in einer nicht messbaren Zeit erreichten wir etwas. Es schälte sich plötzlich aus dem Miasma heraus, als wären wir schon seit Stunden darauf zugelaufen und hätten es eigentlich sehen müssen. Es war ein dreieckiges Steintor, dessen Spitze nach oben wies. Dahinter konnten wir in der Ferne ein Landschaftsmerkmal erkennen: es war ein Wald, dessen blätterlose Bäume dicht beieinander standen. Knorrige Äste verhakten sich ineinander und eine unheilvolle Finsternis lag in dem Dickicht darunter. Wie der Rest dieser Welt war auch dieser scheinbare Hauch von Leben farblos und matt. Doch am Rand jenes Waldes stand eine uns bekannte Gestalt.
„Das ist Pelektrakt“, ächzte Alexios. Doch er verharrte zunächst, warf einen unsicheren Blick auf den Torbogen vor uns.
Wir zögerten nicht und schritten allesamt hindurch und Alexios folgte auch. Ich lief neben ihm, Miyako und Groam waren vor mir, während Leif und Ricardo den Schluss bildeten. Jeden Moment rechnete ich damit, dass Alexios fliehen wollte, denn er wusste, dass wir seine Schuld erkannt hatten.
„Hinter mir ist jemand“, brüllte plötzlich Ricardo und seltsam dumpf erklang sein Seitwärtssprung. Hastig wirbelte ich herum und sah, was aus dem Nichts gekommen war. Auf den wenigen Metern, die wir seit dem Torbogen hinter uns gebracht hatten, war ein Mann erschienen. Sein jugendliches Aussehen täuschte nicht über die Anzeichen des Unheiligen hinweg. Hohle Wangen, glanzlose schwarze Augen und blasse Haut sowie eine düstere Aura erweckten Unbehagen. Ein schmallippiges Lächeln, als wäre eine durchaus angemessene wenn auch nicht überragende Mahlzeit aufgetischt worden, huschte über das Gesicht.
Dann griff ich an. Die silberne Spitze meines Speeres drang mit voller Wucht in die Leibesmitte der Kreatur ein. Direkt zog ich die Waffe wieder zurück und erwartete, wie das Wesen vor Schmerz zurückzuckte. Doch es war weg.
Ich wollte mich gerade irritiert zu meinen Freunden umblicken – da riss es mich von den Füßen. Ein Sturmwind brauste um meine Ohren, während ich auf und ab geschleudert wurde. Der Nebel um uns herum schien hoch aufpeitschende Wellen zu schlagen, sodass ich jegliches Gefühl von Oben und Unten verlor. Es gab nur noch eine entscheidende Richtung: zum Tor. Und dort wurden wir bereits erwartet.
Nublesch al-Zeloti stand inmitten des seltsamen Dreiecks und vollführte mit seinen Händen kreisende Bewegungen, die die Luft um uns herum verzerrten. Hinter ihm, in jenem Reich, das wir durchwandert hatten, kauerten hunderte, wenn nicht tausende silberner Silhouetten. Ängstlich schienen sie sich wegzuducken… verlorene Seelen, die aus dem dunkelsten vorstellbaren Schicksal heraus hier gefangen waren. Nur jene eine stach hervor. Einer dunklen Wolke gleich schwebte sie über Nublesch al-Zeloti. Ihre Form war klarer zu erkennen, wenngleich die Schwärze Details schwierig zu erkennen machte. Es war ein Mensch, wie die anderen, und dazu… bekannte Wesenszüge. Eine Aura, die sich furchtvoll in unser Gedächtnis gebrannt hatte. Es war ein Wissen, dessen Ursprung sich eher unbestimmt in unser aller Bewusstsein bahnte: dies war die Seele des Seemeisters Zelotis Leukippos. Silberne und zum Teil schwarze Fäden verbanden Nublesch mit jener Gestalt.
Der Sturmwind endete und wir kamen rasch wieder auf die Beine. Herablassend blickte uns der scharidische Priester an und er stand kurz vor der Vereinigung mit der dunklen Macht, die er aus unheiliger Zeit herbeibeschworen hatte.
Mit dem Mut der Verzweiflung raste ich voran und warf den Speer beinah, um die schwarze Seele zu treffen. Doch sie zuckte zur Seite, der Angriff verfehlte sein Ziel. Entsetzt blickte ich zu Nublesch und auf die Fäden, die ihn mit Zelotis Leukippos verbanden. Wessen wurde wir hier Zeuge? Nahm dieser wahnsinnige Priester die Macht des Seemeisters in sich auf? Oder wurde ebenjener Dämonenbeschwörer hier und jetzt wiedergeboren, auf dass er einer Welt ohne Graue Meister entgegentreten konnte. Wer vermochte das noch aufzuhalten?
Miyakos Langschwert zerteilte die Seele in zwei Hälften als sie aus dem Lauf heraus hochsprang und die Klinge direkt aus der Scheide heraus losschnellen ließ. Die schwarze Silhouette zuckte zurück… dann ging eine Druckwelle durch diese gesamte Zwischenwelt, dicht gefolgt von einem gewaltigen Knall!
Von den Füßen gerissen prallte ich auf den weichen Grund, während der Nebel vor und zurück schoss, als würde man ein Glas Wasser schwenken. Klirren betäubte meine Ohren, Sterne tanzten vor meinen Augen. Ein unmenschlicher Schrei durchhallte die Finsternis…
Ich richtete mich so schnell wieder auf, wie es mir möglich war. Die anderen kamen ebenfalls wieder auf die Beine und sechs Augenpaare richteten sich auf Nublesch al-Zeloti, der sich ebenfalls wieder erhob. Zelotis Leukippos war verschwunden, doch er stand zwischen den Trümmern des in sich zusammengefallenen Tores – und hob gebieterisch die Hände während er rief: „Schuflai!“
Und der Nebel hinter ihm geriet in Bewegung… etwas… kam.
Etwas schälte sich aus der Dunkelheit. Es erschien zunächst wie eine gewaltige Masse von der Größe eines Hauses. Triefender Schleim floss von diesem Ding hinab und vergrätzte den Nebel, wo er gnädig versuchte, diese Abscheulichkeit zu verdecken. Es war schwer zu fassen, was sich uns da eigentlich näherte, was dem Ruf des Nublesch gefolgt war. Einen großen Teil des Körpers machte eine schiere weißgraue Masse aus schleimigem Fleisch aus, aus dem heraus ein halbes Dutzend Fortsätze ragten, die sich zum Ende hin verjüngten und verhärteten. In dem hoch aufragenden vorderen Teils dieses Wesens klafften mehrere finstere Löcher und Schlitze. Waren sie für die Atmung oder für die Nahrungsaufnahme? Brauchte dieses Ding irgendetwas von beidem? Die schwertlangen Zähne, die aus diversen Mäulern herausragten, verhießen nichts Gutes. Dieses Wesen – Schuflai – erschien wie die geisteskranke Vermengung einer Schnecke, eines Oktopoden sowie dem dämonischem Übel ferner Welten, die nicht ohne Grund fernab Midgards lagen.
Einen Moment lang verharrte ich. Gebannt hing mein Blick an diesem Wesen und es schien mir, als würde mein Geist noch abwägen, ob er sich nicht zum Schutze meines Überlebens in den Wahnsinn gleiten lassen sollte. Wir waren hier mit einer Außerweltlichkeit konfrontiert, die ein Verstand nicht mehr gänzlich fassen konnte.
Doch nun waren wir hier – und hielten Stand, stellvertretend für die Welt da draußen, die unser Opfer nicht würdigen konnte, am besten nicht einmal erfuhr, was hier geschah. Es galt hier nicht mehr für Ruhm und Glorie zu streiten, falls das jemals ein archaisches Gebot unserer Reise gewesen war.
Groam, Ricardo und Miyako drangen auf Nublesch ein, hinter dem Schuflai eine graue, unverrückbare Wand formte. Ich nutzte die Reichweite meines Speers um aus zweiter Reihe gegen den Beschwörer vorgehen zu können.
Nublesch zückte seinen Magierstab und verließ sich nun, nachdem er die Pforten der Hölle geöffnet hatte, auf reine Gewalt. Wild keilte er aus und drängte uns tatsächlich erst einmal zurück. Kurz nach ihm ließ Schuflai seine ekelerregenden Fortsätze wie Peitschen knallen. Einem Hieb konnte ich gerade noch entgehen als ich mich flach zu Boden warf. Das Biest schien sogleich zu bemerken, dass meine Kräfte am Ende waren, womöglich roch es das Blut, die Säure und was noch an mir klebte. Ein weiterer Hieb galt mir und ich rollte über den weiterhin unerkenntlichen Boden und durch die wabernden Nebel. Wenig erkannte ich von dem restlichen Kampf, doch nach einem Ausfall Ricardos schrie Nublesch das erste Mal auf!
Hastig sprang ich auf die Beine – während Schuflai gleich drei seiner Tentakel einsetzte, um meine Gefährten auseinander zu treiben wie eine panische Schafsherde. Ich nutzte die Ablenkung des Dämons und griff an. Nublesch sah meinen Angriff jedoch kommen und lenkte ihn mit seinem Stab ab. Doch unsere Überzahl bestand: Miyako hatte sich unter Schuflais Ausfall durchgerollt und aus dem Knien stach sie dem scharidischen Priester in die Flanke. Ächzend wankte der Mann zur Seite… wo ihn Ricardo vermutet hatte. Die gesamte Kraft des Küstenstaatlers lag in seinem Angriff und das Florett bohrte sich mitten ins Herz Nublesch al-Zelotis. Ungläubig blickte der Mann auf und sah Ricardo ins Gesicht. Der Herr Schuflais stand schlicht einen Moment lang da und schien nicht begreifen zu wollen, dass er verloren hatte. Dann brachen seine Augen und der Glanz des Bösen verflog. Leblos brach Nublesch vor den Füßen Ricardos zusammen.
Doch: Schuflai war noch da. Das monströse Wesen zögerte keinen Moment und mit einem Schwinger dreier Tentakel mit Hornende bedrängte es uns erneut. Wie ein Mann wichen wir aus. Doch… sollten wir weiterkämpfen? Oder fliehen?
Groam wusste die Antwort! Mit einem weiteren zwergischen Kriegsschrei – oder einem unflätigen Fluch, wer wusste das bei dieser Sprache – schwang er seinen Stielhammer mitten in den Leib Schuflais hinein. Der Hammerkopf drang tief ein, zerriss einiges des fettigen, schleimigen Gewebes… und blieb stecken. Mit einem widerwärtig-schlürfend-schluckenden Geräusch wurde Groam seine Waffe aus den Händen gerissen und in den Leib des riesenhaften Schneckendämons aufgesaugt.
Entsetzt riss der Zwerg die Augen auf – doch seinen Tritt zog er im letzten Moment zurück. Stattdessen wandte er sich, wie wir alle, um. Und wir rannten, was wir konnten. Der grauenhafte Dämon hinter uns stieß einen markerschütternden Schrei aus und begann kurz darauf mit Schleimbällen nach uns zu schießen.
Verzweifelt richteten wir unseren Blick nach vorne: Leif und Alexios waren bereits bei Pelektrakt, doch dieser lag reglos am Boden. Wusste vielleicht dieser Priester, wie wir Schuflai aufhalten konnten?
Ricardo neben mir wurde von einem dämonischen Auswurf getroffen. Der Schleim prallte gegen seinen Hinterkopf und floss um den gesamten Schädel herum, bis der Küstenstaatler nur noch blind herumtaumeln konnte. Hastig packte ich ihn am Unterarm und zerrte ihn hinter mir her. Neben uns prasselten weitere der Schleimbälle herab, um uns entweder die Sicht oder das Gehvermögen zu nehmen. Und aus dem Augenwinkel sah ich, dass auch Schuflai selbst sich in Bewegung setzte. Nicht schnell – aber bestimmt. Und er sah nicht aus, als würde er sich durch die dürren Bäume des nahen Waldes aufhalten lassen.
Schließlich erreichten Ricardo und ich gleichzeitig mit dem kurzbeinigen Groam die anderen, die einen Kreis um Pelektrakt bildeten.
„Er ist nicht wach zu kriegen“, fluchte Miyako, ehe sie einen Heiltrank herausholte und dem Mann verabreichte. Das schien endlich Wirkung zu zeigen und die Augen Pelektrakts begannen sich wieder zu bewegen. Mit einem Schrei erwachte er, denn das erste, was er außer uns sah… das war jener sich nähernder Dämon, dessen jüngere Schleimangriffe glücklicherweise unplatziert um uns herum verhallten.
„Pelektrakt!“, rief ich den Priester. „Unternehmt etwas gegen Schuflai!“
„Hakarin!“, brüllte der Chryseier daraufhin, als hätte er nur auf seinen Moment gewartet. Und noch einmal, flehender: „Hakarin.“
Wir sahen uns um, irritiert, was Pelektrakt gerade versucht hatte. Doch es geschah… Nichts. Schuflai schrie noch einmal auf und ich spürte, dass der Dämon einen Zauber gewirkt hatte. Die Macht des Todes hämmerte plötzlich auf die Waffe ein, die ich in meiner Hand hielt. Eine Zersetzung sollte das Silber zerstören. Entsetzt blickte ich auf den Speer, ohnmächtig etwas gegen diese Hexerei auszurichten. Doch wer auch immer diese Waffe erschaffen hatte, er war mächtiger gewesen als Schuflai!
Dann erschien jemand: aus der Peripherie meines Blickfelds sprang ein Mann herbei. Es war unmöglich zu sagen, ob er in dieser Sphäre herbeigelaufen oder gerade erst hier erschienen war. Pelektrakt rief erleichtert ein weiteres Mal: „Hakarin!“
Es handelte sich um Had y Rhydd – den „twyneddischen Schamanen“, den wir nur flüchtig bei den Festessen in der Senenna-Villa kennengelernt hatten. Und wieder einmal spürte ich dieses Gefühl, als wäre ich ein Bauer, der auf dem Schachbrett umherlief und gar nicht verstand, was hier eigentlich vor sich ging.
Had y Rhydd oder Hakarin sprang zwischen uns und Schuflai. Sein Körper dehnte sich aus, verlor die Form… dann fingen seine Haare Flammen – nein, sie wurden zu Flammen. Binnen weniger Sekunden hatte der Mann seine Konturen verloren und als lebendiger Feuersturm sprang er dem Dämon entgegen. Ein Kampf der Giganten, herbeigerufen von angeblichen Priestern der chryseiischen Götter.
„Wir müssen fliehen!“, rief Alexios und riss uns damit aus der gebannten Starre im Angesicht dieser arkanen Urmächte.
„Was ist mit Had y Rhydd?“, fragte ich. „Überlebt er das?“
„Macht dir um den keine Sorgen“, bellte Pelektrakt. „Das ist ein Ifrit! Er wird sich des Schuflais erwehren können.“
An dieser Stelle schenkte ich dem Gesandten Glauben; abgesehen davon, dass es keine Rolle spielte, was ich glaubte. Wir konnten Hakarin nicht helfen. Und wenn er tatsächlich ein Ifrit, ein mächtiges Feuerelementarwesen war, dann hatte er auch eine Chance gegen dieses Etwas, das Nublesch aus seiner chaotischen Heimat gerissen hatte.
Zu siebt rannten wir los, zwischen die kargen, grauen Bäume des unwirklichen Waldes vor uns. Knorrige Äste verdunkelten den Pfad, der weiterhin von dunklem Nebel verhüllt wurde. Ricardo hatte sich seine Augen frei reiben können und rannte wieder sehend neben uns her.
Plötzlich wallte der Nebel auf, schoss zu einer Wand hoch und als er wieder herabsank, hatte sich die Szenerie verändert. Es war, als wären wir wieder in dieser seltsamen Vision, die sich beständig zu verändern wusste. Doch ich hatte keinen Zweifel, das wir wirklich hier waren – wirklich um unser Leben kämpften. Und wir hatten den nächsten Gegner gefunden.
Aus der Finsternis trat ein Wesen, dessen Körperbau einem Menschen ähnelte. Doch das Skelett schien, anstatt im fahlen Fleisch, darauf zu liegen. Die sichtbaren, etwas gräulichen Knochen wirkten dick und nachdem ein erster Angriff Miyakos schlicht zur Seite geschlagen wurde, war auch klar: sie waren hart wie Stahl. Die Hände des Wesens waren zu Klauen verformt und das Gesicht eine einzige Fratze mit überlangen Zähnen, die raubtierartig zuliefen.
Wieder umringten Groam, Ricardo und Miyako das Monster während ich mit der einzigen, magischen Waffe in unserem Arsenal versuchte, dem Wesen beizukommen. Dieses hatte sich sofort auf die KanThai fixiert und schien sie… umarmen zu wollen. Ein Schauder lief über meine Haut als ich an die Häute des Nachtmahrs denken musste. Neben mir wich Leif zu Alexios und Pelektrakt zurück und stammelte: „Ein Blutdämon… Torkin steh uns bei.“
Sämtliche Angriffe meiner Gefährten prallten an dem Monstrum ab, als würden sie mit Stöcken auf Metall einschlagen. Ich passte den Moment ab, da meine Freunde angegriffen hatten und der Blutdämon hoffentlich abgelenkt war – doch er schien nur auf mich gewartet zu haben. Die flache Hand reckte er meinem Stoß entgegen und es war, als würde ich auf eine Felswand einstechen. Stumpfer Schmerz ruckte durch meinen Arm.
Dann wallte der Nebel plötzlich wieder auf. Ein weiterer „Szenenwechsel“? Gerade rechtzeitig wie mir schien, denn dieses Monstrum hätte uns alle vernichtet. Meine Hoffnung schien sich in dieser Sphäre zu formieren als in einem diffusen Licht der Nebelvorhang auseinanderglitt und Sofeth erschien. Der Mann irrte umher, murmelte – er sah aus wie ein Schlafwandler. Ein weißes Tuch, das seinen Körper bedeckte, wohl sein Leichentuch, schien beinah zu leuchten. Er suchte irgendetwas…
Doch der Alptraum war hier noch nicht vorbei. Aus dem Nebel sprang der Blutdämon hervor und packte Sofeth, ehe wir irgendetwas tun konnten. Der Suchende kreischte als sich knochige Arme um ihn schlangen… dann erstarrte er zu Eis.
Fassungslos blickten wir zu dem chryseiischen Eremiten und einstigem Opfer Alexios‘ und Pelektrakts. War er wirklich hier… wie wir? War dies nun sein Ende? Als eine Statue aus Eis in einer leblosen Welt des Nichts.
Entsetzt blickte ich zum den Blutdämon, der sich plötzlich an den Schädel griff und einen grauenhaften Schrei ausstieß, ehe er davonrannte. In den Nebel hinein als könnte selbst ein solches Wesen von Wahnsinn ergriffen werden. Und irgendwo, tief in mir, da hatte ich das Gefühl, die Welt hatte in diesem Moment etwas verloren. Etwas sehr wichtiges, das nicht in Worte zu fassen war. Und wenn ich noch Kraft für Tränen gehabt hätte, so wäre ich angesichts der Eissäule des Sofeth zusammengebrochen.
Dann ging plötzlich ein Ruck durch diese Welt. Die Nebelschleier wurden davon gerissen und wir standen oder schwebten vielmehr in einem endlosen Raum. Wie von selbst glitten unsere Blicke zu einem „Endpunkt“ dieses Orts. Die Welt war aufgerissen und lag nun offen gegenüber dem Nichts das hinter jeder Welt lag. Das Chaos, dessen Existenz vermutet wurde, aber dessen Beweis niemand jemals freiwillig angetreten hätte. Und schutzlos, wie wir hier nun waren, wurden dorthin gezogen. Dorthin, wo die Welt endete – wo das Leben endete und nicht einmal der Tod blieb. Das ewige Vergessen.
Einen kurzen Moment sah ich ein silbriges Licht, das meinen Körper umgab. Dann war mir plötzlich als hätte ich einen Sprung nach vorne gemacht. Fassungslos blickte ich zurück… und sah mich selbst. Mein Körper, der mit entrückter Mine in der Luft hing. Aus seiner Brust führte ein silbriger Faden bis zu mir… meinem Astralleib. Meiner Seele.
Neben mir waren meine Freunde, allesamt entkörperlicht. Dünne Silberfäden hielten uns an den Körpern, die uns so lange beherbergt hatten. Mit aller Kraft drängte ich zurück, versuchte durch den peitschenden Wind des Nichts zu schwimmen – weg von dem Seelensog des Raumlosen. Hätte ich Lungenflügel zum Schreien, so würde der Klang durch diese Welt hallen…
Und mit der zweiten Hälfte des Gebrülls auf den Lippen kehrte ich zurück in meinen Leib. Meine Sinne kehrten zurück und ich spürte, fühlte wieder – atmete. Neben mir rissen meine Freunde die Augen auf, ebenso Alexios und Pelektrakt. Gerade rechtzeitig, um Groam zu sehen.
Unser Freund hing in der Luft, seine Seele einige Meter von ihm entfernt. Das silbrige Abbild, das in schillernder Helligkeit die Stärke des Zwergs demonstrierte, streckte die Hand nach dem Leib aus. Doch dann riss der Silberfaden. Die Augen von Groams Seele weiteten sich, dann wurde sie hinweg gerissen. Verschwand im Schlund des Nichts.
Kann man trauern um einen Verlust, den man nicht wirklich zu erkennen vermag? Kann ich trauern, wenn ich daran denke, dass ich eigentlich Nichts von Groam Bärentod wusste? Oder Dan-narmo lilta, wie ich ihn nannte, jener der wider den Wolf tanzte. Ein großer Krieger fraglos, ein Schrecken des Schlachtfelds. Doch was lag dahinter? Eine Vorliebe für den Alkohol, eine Schwäche für die üblichen Sticheleien zwischen Elfen und Zwergen. War das alles, was ich von Groam Bärentod wusste?
Doch nicht alle Freundschaft liegt im Wissen. Manches liegt im Erlebten. Geteilte Erinnerungen, wenngleich wir sie gänzlich anders bewerten mochten. Geteiltes Leid in gemeinsam bestrittenen Kämpfen. Gegner, die wir zusammen bezwangen – Wunden, die heilten – Narben, die blieben. Der Zwerg war mehr als der Krieger gewesen, als den ich ihn kannte. Aber er war auch mein Freund gewesen.
Mit einem Schrei stürzte ich auf die Knie, als die Nebel dieser Welt uns plötzlich umfluteten. Ungläubig tastete ich nach Groam, suchte seinen Lebensschlag – doch der Körper war bereits kalt wie Eis. Neben mir standen die anderen, kniete auch Miyako, ebenso fassungslos über das Geschehene. Plötzlich erklang ein Summen…
„Bienen?“, hauchte Ricardo verdutzt.
„Aus dem Toten Baum…“, flüsterte Miyako. „Wir sollten ihnen folgen.“
Ich sah auf und erblickte ebenfalls den Bienenschwarm, der sich uns genähert hatte. Er wirkte so unwirklich… doch gerade deshalb mussten wir ihm folgen. Miyako half mir auf die Beine. Wir warfen noch einen letzten Blick auf das Gesicht unseres zwergischen Freundes. Doch wir durften nicht zu lange verweilen und folgten den anderen; dem Bienenschwarm nach.
Ein Sturz ohne Fall, ein Schatten ohne Licht und ein Erwachen ohne Erlösung.
Ich blinzelte und von einem Moment auf den nächsten war ich erwacht. Lag zusammen mit meinen Gefährten sowie Alexios und Pelektrakt inmitten des Steinkreises, unweit der Kristallkugel, die uns als Portal ins Verderben gedient hatte. Groam war auch da… doch sein Körper war ohne Seele, ohne Leben.
Dann ging ein dumpfes Geräusch durch diese gigantische Höhlenwelt. Eine tiefgreifende Erschütterung, die an den Grundpfeilern dieses Orts rüttelte. Ein Erdbeben.
Das Brechen von Fels hallte echoend durch die gefühlt endlosen Weiten der Höhle; Geröll polterte und kurz darauf erklang das Geräusch schäumenden Wassers. Das Meer setzte sich in Bewegung und begann damit endgültig das zu beanspruchen, was schon lange hätte ertränkt werden sollen.
Doch wir standen noch hier. Nach wenigen Sekunden sahen wir bereits erste Ausläufer der Flut, die vorerst leise plätschernd zu uns kamen. Es konnte nicht lange dauern, bis die Flut losbrach.
„Wir müssen die Treppe hoch“, keuchte Alexios ängstlich.
„Das Holzgerüst? Das war schon vor dem Erdbeben wacklig“, widersprach ich. „Und das Wasser wird die Pfeiler unterspülen. Wir wissen, dass es einen anderen Ausweg gibt – zumindest früher war er unterseeisch.“
„Was? Wo?“, keifte der Gesandte.
„Durch die Tunnel“, erklärte Miyako und wies in die Richtung, in die wir noch nie gegangen waren – weder im Hier noch im Damals. Jenseits des Steinkreises und wir konnten gerade noch im Licht erkennen, dass dort ein Höhlensystem begann, das unseren Weg zurück barg.
Hastig eilten wir dorthin, auch wenn es mir schwer fiel, den toten Körper Groams zurückzulassen. Doch er war längst über den Punkt hinaus, da ihn gesunde Magie retten konnte und damit mussten wir uns abfinden.
Bereits nach wenigen Metern durch den steinigen Tunnel gab es eine Verzweigung. Hastig nahmen wir den erstbesten Weg, während das Wasser um unsere Füße herum anstieg. Das Beben hatte nachgelassen… doch der Schaden war angerichtet. Wir hatten ein Rennen gegen die Zeit zu gewinnen, sonst würden wir hier unten ertrinken. Es kamen weitere Abbiegungen, durch die wir hasteten bis wir auf Sackgassen stießen und umkehrten, andere Wege probierten. Einige Zeit lang trieb ich meine Freunde weiter in der Hoffnung, endlich den Weg zu finden, der nach draußen führte – doch ohne das geheime Wissen war es nicht möglich, sich hier zurecht zu finden.
„Wir müssen doch die hölzerne Treppe nehmen“, stellte Miyako fest als uns das Wasser bereits bis zur Hüfte stand. Ich nickte ihr zu: sie war ebenso unglücklich wie ich, dass wir diesen gefährlichen Pfad begehen mussten. Doch wir hatten keine Wahl.
Mit Alexios und Pelektrakt im Schlepptau eilten wir vier zurück, am Steinkreis vorbei und zum Fuße des Beschwörerglobus. Das Wasser stieg und stieg – die Geräuschkulisse in dieser Welt glich einer Tropfsteinhöhle, nur unterbrochen von dem wiederkehrenden Geräusch abbrechenden Felsens, der wiederhallend ins Wasser stürzte.
Wir erreichten das Seil, das mich – vor nur wenigen Stunden – hinab gebracht hatte, hinein in die Umarmung eines Nachtmahrs. Nun kletterten wir allesamt daran empor, hinaus aus dem schwarzen Nass, dass in dieser lichtlosen Welt beunruhigend dalag. Die Flut war uns bereits beinah bis zur Brust gegangen und es wurde höchste Zeit, weiter nach oben zu gelangen. Nachbeben waren zu erwarten und just in diesem Moment ertönte ein Felsrutsch wie ein Fanal des Endes.
Hastig spurteten wir die Treppe hoch, rasten durch den Globus und liefen ein allerletztes Mal jene Korridore entlang, die den Wohnglobus durchzogen. Bis wir zum ersten Mal nach Stunden in dieser Welt – und Tagen in unserer persönlichen Zeit – unter dem Drachenkopf standen, der vom Wohnglobus zu dem hölzernen Gerüst führte. Der Weg nach draußen.
Bereits der erste Schritt auf das Holz erzeugte jedoch ein beunruhigendes Knarren. Das Holz ächzte. Und diesmal nicht nur vom Alter – tief unten im Fundament waren tödliche Wunden geschlagen worden. Das Wasser unterspülte gerade die gesamte Treppe und würden wir zögern… es würde uns wohl den einzigen Pfad nach draußen wegreißen.
Also liefen wir los und diesmal ignorierte ich meine jüngst entdeckte Angst vor Höhen vollständig. Die Angst beseelte mich und Schritt für Schritt spurtete ich über die schmalen Holzplanken, die immer weiter nach oben führten.
Ricardo und die Gesandten setzten sich bald ab… während sich das Gerüst zu unseren Füßen zu neigen begann. Panisch merkte ich, wie jeder meiner unbedachten, hastigen Schritte die Treppe weiter aus dem Gefüge brachte. Auch die anderen sandten mit jedem Tritt Erschütterungen durch das Gerüst. Es kippte!
Panisch schrie ich auf und beschleunigte meine Schritte noch mehr, soweit dies überhaupt möglich war. Auch die anderen hatten erkannt, dass es jetzt um Alles oder Nichts ging. Tritt für Tritt, immer weiter der Rettung entgegen.
Die Treppe kam in eine solche Schräglage, dass wir schon versuchen mussten, schräg zu laufen. Hektisch begann ich meinen Körper beim Laufen zu neigen, um ein Gegengewicht zum Abwärtstrieb zu schaffen… und dabei fiel mein Blick hinab in die unergründlichen Tiefen der Höhle – wo auch ein paar Meter Wasser voller Geröll mich nicht retten würde. Beinah wäre ich stehen geblieben und hätte damit Leif hinter mir und mich selbst zum Absturz verurteilt – denn hinter uns brachen erste Teile der Treppe weg.
Splitternd stürzte das Holz in die tosende Tiefe und vermengte sich mit dem Wasser, das ihm den letzten Todesstoß gegeben hatte. Und wir rannten weiter, sahen endlich das Seil, das Miyako festgebunden hatte. Die Gesandten und Ricardo waren bereits daran emporgeklettert, blickten ängstlich zu uns herunter.
Mit einem gewaltigen Satz sprang Miyako an das Seil und zog sich binnen weniger Momente daran hoch. Dann war ich herbei, warf meinen silbernen Speer nach oben, wo ihn Ricardo auffing. Sogleich packte ich das Seil und kletterte die letzten Meter nach oben, hinaus aus der finsteren Welt hinter mir.
Erst dann warf ich einen Blick zurück… und sah Leif. Der Waelinger schwankte über die letzten Schritte hinweg; das hölzerne Gerüst zerbarst zu seinen Füßen. Mit aller Kraft warf sich der Runenmeister nach vorne, dem Seil entgegen, während sich der Boden unter ihm öffnete und ins Nichts stürzte.
Leif flog auf den rettenden Strick zu, seine Fingerspitzen streiften über die unteren Zoll. Er griff zu… doch das Seil rutschte ihm aus der Hand.
Ohne einen Schrei, nur mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen, blickte Leif ein letztes Mal zu uns hoch. Es war kein Vorwurf. Es war nur Bedauern. Tiefes, menschliches Bedauern. Dann glitt der Waelinger hinab in die Tiefe, wo er nach nur wenigen Metern aus unserem Sichtfeld verschwand – eintauchte in die undurchdringliche Schwärze dieses Orts, die längst nicht mehr nur physisch war.
Ricardo sank gegen die Fels und brüllte seinen Zorn hinaus, während ich immer noch am Abgrund hockte und hinunterstarrte. Scheinbar in Sorge, ich könne stürzen, zog mich Miyako etwas zurück. Fassungslos blickte ich sie an: „Wie kann das sein? Wir haben all das überlebt. All diese Schrecken. Nur, damit es auf dem letzten Meter…“
Die Stimme brach mir weg. Natürlich wusste Miyako keine Antwort. Es konnte keine geben. Auch ihre Kraft ließ nun nach und die KanThai hockte sich auf den Fels und suchte Halt am Stein. Schwer sanken ihre Lider und es sah aus, als müsste sie hundert Jahre ruhen.
Nach einigen Minuten hatten wir uns wieder gesammelt und blickte erschöpft zu Alexios und Pelektrakt, die die Zeit scheinbar genutzt und sich kurz besprochen hatten.
„Wir bedauern euren Verlust sehr“, erklärte Alexios mit schwerer Stimme. „Eure teuren Kameraden sind einen unnötigen Tod gestorben.“
Doch ich konnte dieses Theaterspiel nicht mehr ertragen. „Sie sind euretwegen gestorben“, platzte es aus mir heraus. „Wegen eurer sinnlosen Schatzsuche. Was dachtet ihr, würdet ihr finden, hier unten im Hort der Seemeister?!“
Pelektrakt hob sogleich beschwichtigend die Hände, eine Geste die so hölzern wirkte, als wäre er ein Jahrmarktdarsteller. „Wir haben eure Freunde nicht getötet! Sie sind freiwillig gekommen. Dass sie dabei gestorben sind, ist eine Tragödie, ja! Aber lasst Euch nicht vom Hass blenden!“
„Ihr werdet euch verantworten“, knurrte ich.
„Wofür?“, fragte Alexios.
„Für das falsche Konklave. Den Mord an Sofeth oder Cyrillian oder wie auch immer er genannt wird. Für euren falschen Glauben, der nicht einen Hauch von Heiligkeit in sich birgt. Dafür, dass eure Gier nach Gold zum Tod etlicher Menschen führte!“
„Wir werden sehen. Lasst uns weiter darüber sprechen, wenn wir in Oktrea sind“, erwiderte Alexios schmallippig, während sich meine Gefährten erhoben. Kopfschüttelnd wandte ich mich ab, folgte dann aber doch den beiden Gesandten als sie sich auf den Weg aus dem Baum machten, ebenso wie meine Gefährten. Und erst später würde ich begreifen, dass dies eine Gelegenheit für Gerechtigkeit gewesen war. Doch ich, nachdem ich all meine selbstgerechten Flüche ausgespien hatte wie ein Drache mit erkaltetem Feuer; ich zögerte. Und den Worten folgte… Nichts.
Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit erschienen war, spürten wir wieder die Sonne auf unserer Haut, als wir aus dem Toten Baum geklettert waren. Das Rauschen des Meeres und das Pfeifen des Windes gemahnten an die Wirklichkeit, die sich nur Stück für Stück vorsichtig in mein Bewusstsein zurückdrängte. Das Geschehene in der Gruft tief unter uns war dermaßen andersartig gewesen… es erschien mir bereits jetzt so, als hätte es eine andere Person sein müssen, die all das erlebt hatte. Konnten wir tatsächlich durch die Zeit gereist sein, Seemeistern getrotzt und schließlich durch dämonische Ebenen gewandelt sein… um schließlich einen Dunkelhexer zu töten, der die Macht eines lange toten Dämonenbeschwörers aufsaugen wollte.
Wenigstens diese Tat verlieh dem Ganzen einen Sinn. Da war ein Übel am Werke gewesen und wir hatten es aufgehalten. Zumindest das Außerweltliche. Eine weitere Bedrohung schwebte noch in der Luft, die tiefer ging und aus dieser Welt selbst geboren war…
Am Steg der Insel brauchten wir nicht lange zu warten, bis wir tatsächlich vom alten Fährmann abgeholt wurden. Er schien immer wieder Ausschau gehalten zu haben und diesmal wurden seine Mühen belohnt, auch wenn seine Fahrten wohl weniger aus Nächstenliebe als viel mehr aus dem Druck Empallazos‘ heraus geschehen sein durften. Überrascht nahm uns Tripedes an Bord und wir setzten in Grüppchen über.
Auf der Fahrt schweiften meine Gedanken zurück zum entsetzten Blick, den Leif uns zugeworfen hatte, ehe ihn die Finsternis verschluckte. Er war noch so jung gewesen, selbst für menschliche Maßstäbe. Ein experimentierfreudiger Tüftler, dessen großes Arsenal an magischen Stäben, Runen und Siegeln verblüffend gewesen war. Ein außergewöhnlicher Charakter, wenn man bedachte, dass die meisten Waelinger eher grobschlächtig waren. Jemand, der keine Barbarenstreitaxt führen konnte, verdiente kaum Respekt bei Ihnen. Leif hatte wohl einst viel mit Zwergen zu tun gehabt, vielleicht noch immer – schließlich verdankte er Teile seiner Magie der Macht ihrer Götter. Abenteuerlustig war gewesen, beinah besessen davon, sämtliche Geheimnisse zu lüften. Eine gefährliche Neugier, die ich ihm zum Spitznamen gab. Für allzu kurze Zeit. Was hätte er werden können, wenn er es überlebt hätte? Es stieß bitter auf, dass trotz all der Gefahren, in die der Waelinger sich willig gestürzt hatte, es ausgerechnet ein wegbrechendes Stück Holz war, das ihm auf den letzten Meter die Rückkehr verwehrt hatte.
Wir legten wieder am Strand von Oktrea an und gingen gemeinsam zurück zur Villa Senenna. Die Farben dieser Welt verbargen sich hinter einem Schleier und als plötzlicher Jubel um uns herum ausbrach, war es, als hätte ich Wasser in den Ohren. Alles war so fern, so stumpf. Empallazos kam und schüttelte kräftig unsere Hände; Ricardo versuchte krampfhaft zu lächeln und Miyako hatte wieder ihre porzellanhafte Maske aufgesetzt – ihre Gefühlswelt würde für jeden anderen auf immer ein Geheimnis bleiben. Ich nahm den Dank Empallazos‘ so gut es ging an, dann auch noch den von Lukah Senenna und allen anderen, die kamen und uns für unsere glorreiche Rettung der Gesandten beglückwünschten und gleichermaßen das Beileid für die Gefallenen aussprachen.
Es war alles wie ein ferner Traum. Dann spürte ich etwas Raues und Feuchtes an meiner Hand; die Handschuhe der verbrämten Lederrüstung hatte ich in der Hitze längst ausgezogen. Verdutzt blickte ich runter und sah… Maglos! Mein treuer Hund stand da und blickte zu mir auf. Ich ging in die Hocke, auf eine Augenhöhe mit dem Tier und kraulte ihn zwischen den Ohren.
Die Heilkundigen unter der Gesandtschaft versorgten unsere Wunden und wir konnten zunächst ein erholendes Bad nehmen, um den Schmutz und Dreck des nun hoffentlich vollständig überfluteten Verstecks der Dunklen Meister von uns zu waschen. Wenn auch nicht vollständig erholt, so riefen uns doch zunächst die beiden überlebenden Gesandten zu sich. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch zu Niemanden ein Wort darüber verloren, was wir erlebt hatten.
Man hatte uns ein großes Zimmer eingeräumt, an dem wir gegenüber Alexios und Pelektrakt Platz nehmen konnten. Bereits diese Gegenüberstellung, vermittelte nichts Gutes. Und der funkelnde Blick mit dem mich Alexios bedachte, verminderte meine Abneigung ihm gegenüber nicht minder. Er war ein Mörder ebenso wie Pelektrakt. Nun müssten wir sie überzeugen, sich zu stellen.
„Das Konklave wird weitergehen“, eröffnete Alexios.
„Was?!“, keuchte ich und auch Miyako und Ricardo rissen ungläubig die Augen auf.
„Wie könnt Ihr das tun? Nach all dem was geschehen ist, nach all den Toten! Es gibt keinen Heiligen mehr!“
„In der Tat“, bemerkte Pelektrakt. „Der Leichnam des Sofeth ist verschwunden während wir weg waren. Spurlos. Und wir werden ihn heilig sprechen, erklären, dass er zu unseren Göttern hinaufgestiegen ist.“
„Was? Das ist eine Lüge! Sofeth starb da unten, vernichtet von einem Blutdämon! Und sein früheres Leben als er noch Cyrillian hieß – das beendetet ihr!“
„Und was schlagt Ihr vor? Den Menschen hier in Oktrea zu erklären, dass sie über einem alten Versteck der Dunklen Meister wohnen? Dass Dämonen diese Unterwelt verseuchen?“, kommentierte Alexios schmallippig.
„Bedenkt zudem“, setzte Pelektrakt hinzu. „Dass wir die Gerüchte von einem Vampir zerstreuen müssen. Wenn die Menschen glauben, dass Sofeth einer war und nun geflohen ist… das gibt eine Hexenjagd.“
Schöne Worte waren das, die die beiden Gesandten sich zurecht gelegt hatten. Die sie nun vortrugen mit ruhiger, gelassener Stimme, als gäbe es keinerlei Zweifel an ihrer Richtigkeit.
„Ihr werdet die Menschen belügen“, stellte ich knapp fest.
„Es ist das, was die Menschen wollen“, keifte Alexios nun zurück. „Ihr glaubt doch nicht im ernst, dass sie ansatzweise verstehen würden, was geschehen ist?“
„Das wohl nicht. Doch eure Lügen gehen weit darüber hinaus, den kollektiven Verstand Oktreas zu schonen. Ihr schont vor allem euch selbst. Verbergt euren Mord, eure Raffgier – eure Gottlosigkeit. Ihr wollt dieses Konklave zu einem Abschluss bringen, der für euch günstig ist!“
„Was sollen wir denn eurer Meinung nach tun?“, blaffte Pelektrakt und obwohl die Antwort ihm gleichgültig war, antwortete ich.
„Erklärt den Patriarchen, warum ihr euch so für das Konklave eingesetzt habt: wegen eurer Gier nach den Schätzen der Dunklen Meister. Gesteht euren heimtückischen Mordversuch an Cyrillian, den ihr hier auch noch ein weiteres Mal vertuschen wolltet. Und versucht euren Hohen Herren zu erklären, warum ihr euch mit einem finsteren Hexer eingelassen habt, der euretwegen beinah die Macht eines Seemeisters erlangt hätte. Legt Rechenschaft dafür ab! Groam und Leif sind für euch gestorben. Es kann das Geringste sein, was ihr für sie tut.“
Doch Alexios lachte nur auf, während Pelektrakt die Brauen hob. Wütend ballte ich die Fäuste… doch es gab Nichts, was ich tun konnte. Was wir tun konnten.
Zornentbrannt sprang ich auf und verließ das Zimmer, meine beiden Freunde folgten mir.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Ricardo.
„Es gibt Nichts was wir tun können“, stellte Miyako fest. „Greifen wir sie an, werden alle anderen sie verteidigen. Verkündigen wir unsere Wahrheit, werden sie uns der Lüge bezichtigen. Wer wird irgendwelchen Ausländern Glauben schenken, wenn die Hohen Geistlichen eine andere Wahrheit berichten? Warum sollte man uns glauben? Wir haben keine Beweise. Und hinsichtlich der Panik der Bevölkerung… wir haben den Mob gesehen. Wir würden einen weiteren Aufstand provozieren.“
Stillschweigend stand ich dabei und konnte nur nicken. Miyako hatte Recht. Wir konnten Alexios und Pelektrakt Nichts mehr anhaben – sie waren nun sicher vor uns, vor der Wahrheit, vor der gerechten Vergeltung.
Am folgenden Tag ging das Konklave tatsächlich weiter. Die Gesandten, ihre Berater und das ausgewählte Publikum wie Lukah Senenna kamen zusammen und berieten weiter über die Heiligsprechung. Es konnte nicht mehr viel gefragt oder gar hinterfragt worden sein. Denn nach nur diesem einzelnen Tag verlas Meandros die Heiligsprechung des Sofeth. Man erklärte sich das Verschwinden seines Leichnams mit der vollendeten Himmelfahrt des Toten und damit wurde Oktrea zu einem Wallfahrtsort der Gläubigen – oder wie ich zynisch hinzusetzen würde, der Schafe, die tatsächlich an diese chryseiischen Götzen glaubten. Doch würde mich dieser Gedanke, laut ausgesprochen, schneller ins Grab bringen als ich es mir, trotz aller Verzweiflung und Resignation, wünschte.
Am folgenden Tag brachen wir zusammen mit der restlichen Gesandtschaft auf. Es war eine stille Reise, die schnell an uns vorüberflog. Soweit ich es mitbekam wechselte keiner von uns dreien noch ein Wort mit Alexios und Pelektrakt, doch als wir in Kroisos ankamen und uns von den Männern und Frauen trennten – da fanden wir etwas auf unseren Zimmern im Gasthaus etwas vor: eine kleine Mahagonitruhe.
Unter dem Deckel verbargen sich etliche Edelsteine und Goldmünzen. Ein überbordender Reichtum, den uns einer Nachricht nach Alexios und Pelektrakt zum Abschiedsgeschenk machten. Blutgeld. Weitere Beweise des unfassbaren Reichtums und der Korruption der chryseiischen Glaubensgemeinschaft. Und der Gier der Gesandten, welche trotz solcher Besitztümer die Zuflucht der Seemeister nicht in Ruhe gelassen hatten.
Wir nahmen das Gold an, denn was sollten wir auch tun? Es ihnen noch zurück in den gierigen Hals stopfen? Vielleicht konnten wir dieses Geld wenigstens für etwas Gutes nutzen. Während ich die Münzen und Edelsteine verstaute, kam mir ein kurzer Gedanke. Ein kurzes, düsteres Bedenken, wem und wofür man das Gold geben könnte. Ehe ich zu meinen Gefährten sah, verdrängte ich aber rasch den finsteren Glanz aus meinen Augen.
Doch das war noch nicht das Ende. Ursprünglich – und das kam mir nun wirklich vor wie eine Ewigkeit – hatten wir einen Auftrag der kroisischen Handelsgilde erhalten, das Konklave zu überwachen.
„Was erzählen wir Rothilus Balmatrema?“, fragte Miyako nach.
„Die Wahrheit“, erwiderte ich ohne zu zögern. „Wenigstens irgendjemand soll die Geschichte erfahren, wie wir sie erlebt haben.“
„Erwähnen wir unsere… Zeitreise?“, hakte Ricardo ein.
„Vielleicht lassen wir das lieber aus. Ich weiß selbst nicht so wirklich, was da eigentlich passiert ist. Und für das große Ganze spielt es auch keine Rolle“, schlug ich vor.
„Hm… ich weiß nicht, ob das so klug ist. Warum sollte Balmatrema uns glauben, wenn wir scheinbar Nichts gegen das Konklave an sich unternommen haben“, blieb der Küstenstaatler skeptisch.
„Wir werden die Wahrheit erzählen. Oder ihr zwei könnt alleine gehen“, keilte ich zurück.
Und so gingen wir zu Rothilus Balmatrema, den Herrn der kroisischen Handelsgilde, der uns bereits neugierig erwartete. Selbstverständlich wusste er bereits vom „erfolgreichen“ Abschluss des Konklaves und war umso gespannter, ob er etwas gegen die Patriarchen in der Hand hatte. Doch er hatte nicht mit dem rechnen können, was wir ihm nun offenbarten.
Ich erzählte eine Geschichte zweier junger Männer, die sich dem Dienst an den chryseiischen Göttern verschrieben hatten. Gemeinsam mit einem Freund waren sie in ein dunkles Verlies hinab gestiegen, um mit einem Abenteuer reich zu werden. Und ich erzählte, wie sich Neugier in Habgier wandelte und Freunde zu Verrätern wurden. Ein versuchter Mord und dreißig Jahre später die Geschichte eines Konklaves, das unter erlogenen Umständen ausgerufen wurde. Gemeinsam mit einem dritten Verbündeten kehrten die beiden Männer zurück ins dunkle Verlies, wo sie bereits einmal unschuldiges Blut vergossen hatten. Doch diesmal schlug das Schicksal zurück. Verrat traf die beiden – und ich erzählte von jenem Verbündeten, der sie benutzt hatte. Ein Finstermagier, der verbotene Macht in sich aufsaugen wollte. Und dann erzählte ich von meinen Freunden und mir. Zum rechten Zeitpunkt konnten wir das Übel verhindern, das jene beiden Männer beinah auf Midgard herabbeschworen hatten. Doch wir bezahlten einen teuren Preis dafür. Groam Bärentod und Leif Isleifsson starben in der Tiefe. Und zum Ende berichtete ich, dass jene, die mehr als den Tod verdient hatten, weiter unter den Patriarchen dienen würden, womöglich noch aufsteigen würden. Ein stummes Wehklagen über die Welt lag hinter meinen Worten, blieb unausgesprochen, doch nichtsdestotrotz präsent.
Ich beendete meine Erzählung. Da sah ich, nur einen flüchtigen Moment lang, ein Funkeln in Ricardos Augen. Es war mir, als würde das Spitzbübische in Boshaftigkeit umschlagen. Ich fürchtete, diesen einen Augenblick, dass er mir in den Rücken fallen würde. Es wäre ein Leichtes zu behaupten, ich wäre dem Wahnsinn anheimgefallen. Das wäre weitaus logischer, als das, was ich vorgebracht hatte und es würde mich für immer in Misskredit und Unglaubwürdigkeit stürzen. Und es würde das Andenken an Groam und Leif mit Schmutz überziehen, denn sie verdienten die Wahrheit. Sie waren nicht glorreich gestorben, sondern wegen dem boshaften Treiben derjenigen, die sich selbst heilig nannten. Doch es blieb bei diesem kurzen Eindruck und Ricardo schwieg.
Rothilus Balmatrema war verstört und erschüttert. Sogleich versicherte er uns, dass wir unsere Bezahlung erhalten würden. Darüber hinaus erklärte er seine Absicht, eine Versorgung der Familien von Groam und Leif in Auftrag zu geben. Und zuletzt wollte er zwei Ehrengrabstätten für die beiden Gefallenen in Kroisos einrichten lassen. Es war ehrliches Mitgefühl, eine Gefühlsregung, die mich wieder etwas von dem Schlund des Hasses wegzog, dem ich mich die letzten Tage immer weiter genähert hatte. Gleichwohl wünschte ich Alexios und Pelektrakt weiter den Tod. Doch ihre gerechte Strafe würde sie noch früher oder später ereilen. Diesem tröstlichen Gedanken musste ich mich hingeben, um abschließen zu können.
Nichtsdestotrotz entschlossen Ricardo, Miyako und ich uns am nächsten Tag, Kroisos zu verlassen und nach Candranor zurückzukehren. Bei der Gilde des Elementarsterns würde man uns gewiss wieder willkommen heißen – vorausgesetzt wir brachten etwas Gold mit. Mit Chrseia war ich fertig und den anderen erging es ähnlich.