Wir besorgten uns am nächsten Morgen Trockenfleisch und Brot für die weitere Reise nach Boras und kehrten schließlich zur Wogenwolf zurück, wo die Mannschaft begierig darauf wartete, endlich den Heimathafen ansteuern zu können.
Rasch waren wir abgelegt und fuhren den Fjord hinaus in die Waelingsee. Allerdings blieben wir die nächsten Tage stets in der Nähe des Festlands. Der Winter verstärkte seinen Griff um den Norden Midgards. Immer häufiger sahen wir Eisschollen auf dem Wasser treiben, wenngleich sie noch nicht ausreichten, um das Vorankommen der Wogenwolf effektiv zu beeinträchtigen. Dazu fiel immer wieder Schnee und die von uns erkennbare Küstenlinie kleidete sich Tag für Tag mehr in ein helles Weiß. Waeland zeigte sich hier in einer beinah poetischen Pracht: Schnee an Land, Eis auf dem Wasser und die gesamte Ordnung geprägt von den harschen Fjorden, die sich widerstandsfähig gegen das Meer empordrängten.
Drei Tage brauchte es noch, ehe wir in einen der viele Fjorde einfuhren. Er war steiler, aber auch breiter als jener vor Usegorm. Dann erblickten wir schließlich Boras selbst; den Sitz des Hökjarls Harald der Godren. Die Stadt war ungefähr doppelt so groß wie Usegorm, folgte aber demselben Aufbau mit Häusern, die sich in Kreisen rund um den Dorfplatz in der Mitte aufreihten. Es erschien mir in diesem Moment so faszinierend, dass selbst hier in Waeland, im hohen Norden, der ja angeblich so wild und auch so frei sei – dass hier nicht weniger nach einer menschengemachten Symmetrie gestrebt wurde, wie im ursprünglich wohl valianischen Stil. Ob nun Kreise oder Blöcke, wichtig und unvermeidbar war vor allem die Zufahrtsmöglichkeit auf großen Straßen und die stimmige Größenanordnung innerhalb einer hoch aufgerichteten Palisade. Natürlich gebührte auch nur das größte Langhaus, zwischen den anderen Häusern unübersehbar und beinah ein Palast, dem größten Herrscher der Godren.
Als die Wogenwolf angelegt hatte, verabschiedeten sich Eike Gunderson und sein Sohn Egil, da sie in das Haus der Familie zurückkehren wollten. Wir gingen dagegen mit den restlichen Waelingern der Mannschaft zu einem Gasthaus am Dorfplatz und richteten uns ein einem Zimmer gemeinsam ein. Bei unserer Ankunft war es bereits spät gewesen und so verzehrten wir nur noch kurz etwas unseres mitgebrachten und haltbaren Essens, ehe wir einschliefen.
Am nächsten Morgen nahmen wir ebenso ein karges Mahl ein, ehe wir darüber nachsannen, wie wir jetzt vorgehen sollten. Ein Gespräch mit dem Hökjarl selbst könnte uns zunächst einen Schritt voranbringen, allerdings würde man uns Ausländer sicherlich nicht vorlassen. Wir beschlossen, eine List zu versuchen und womöglich durch eine Täuschung Einlass in die Große Halle Boras‘ zu erhalten. Einen kurzen Moment dachte ich in einer Mischung aus Wehmut und leichter Belustigung an Olo Platschfuß, der uns sicherlich ohne Probleme als Händlergruppe zum Hökjarl gebracht hätte.
Die Sonne schien über Boras und hatte den herben Sturm der Nacht verdrängt. Zwar biss die Kälte weiterhin unerbittlich, doch auf dem Marktplatz, an dem sich auch unser Gasthaus befand, herrschte reges Treiben. Die Menschen handelten mit allerlei Waren des alltäglichen Gebrauchs, wobei das insbesondere große Krüge voller Met einschloss. Mara, Miyako, Ricardo und ich suchten uns einen sonnigen Platz von dem wir einen guten Blick auf das große Langhaus des Hökjarls hatten. Das Gebäude hatte den üblichen Aufbau, der an ein Schiff erinnerte, war dazu jedoch mindestens doppelstöckig und an den Seiten erweitert. Die Bezeichnung „Langhaus“ wurde dieser Residenz kaum gerecht, wenngleich die Waelinger es wohl niemals anders nennen würden.
Bis zum Mittag gingen nur wenige Menschen aus und ein und diejenigen, die herauskamen schienen stets auf die eine oder andere Weise hervorzustechen; entweder durch ihre Rüstungen und Waffen oder schmuckbehangene Kleidung und weiße Pelze. Damit bestätigte sich unsere Kenntnis, dass hier nicht jeder Kommen und Gehen durfte.
Doch – Mara erhob sich und lief ohne ein Wort zu uns auf die Wachen zu. Verdutzt folgten wir ihr rasch, was wohl einen merkwürdigen Eindruck machen musste – auch wenn es glücklicherweise auf dem Treiben des Marktplatzes unterging.
Die Elfe sprach mit den beiden godrischen Wachen, welche in voller Brünne vor der Eingangspforte Wache hielten. Zwar verstand ich die gesagten Worte nicht, doch allein ihre Aussprache sowie die entschlossene, körperliche Präsenz Maras überraschten mich. Sie wirkte in diesem Moment in der Tat wie jemand, der das Recht haben sollte, zum Hökjarl der Godren vorgelassen zu werden. Zwar trugen wir keine Waffen, die Elfe aber dennoch die deutlich unter der Winterkleidung erkennbare Vollrüstung, was von den Wachen auch deutlich gemustert wurde. Und dann… trat der eine Mann zur Seite, der andere öffnete uns die Tür. Ich versuchte mir meine Verblüffung nicht ansehen zu lassen und folgte den anderen hinein, nachdem Mara entschlossen den ersten Schritt gemacht hatte.
Wir wurden von einem weiteren Waelinger in Empfang genommen, was jedoch nicht mehr hieß, als dass er uns durch den Eingangsraum führte. Dann standen wir bereits in der Halle des Hökjarls. Eine langgezogene Feuerstelle nahm die Mitte des Raumes ein, um sie herum hatte man Bänke aufgestellt. Dahinter, an der rückwärtigen Wand, befand sich auf einer leichten Empore ebenfalls ein Tisch. Zentral für alle, die diesen Raum betraten saß dort auf seinem breiten, wenn auch nicht unbedingt thronartigen, Stuhl ein Mann fortgeschrittenen Alters in fein gearbeiteter Kleidung und prachtvoll geschnittenem wie verziertem Bart. Er mochte irgendetwas zwischen vierzig und fünfzig Jahren zählen, wirkte dafür aber noch äußerst wehrhaft. Erste Falten konkurrierten in seinem Gesicht mit alten Narben und die großen, rauen Hände schienen nicht unbedingt eine Axt zu brauchen, um gefährlich zu sein. Allerdings saß er recht lässig auf seinem Stuhl und kaute lustlos auf einer Fleischkeule herum, was dem üblichen Herrscherbild ziemlich entgegenstand. Waeland eben.
Wir wurden bis vor den Tisch von Hökjarl Harald geführt und verneigten uns kurz und knapp. Mara erfragte sodann, ob ein Gespräch auf Comentang möglich sei, was der Waelinger jedoch verneinte. So musste die Elfe wieder einmal für uns übersetzen, wenngleich ich es für mich ohnehin nicht als Problem empfand, mich nur indirekt ausdrücken zu müssen. Meine Umgangsformen, insbesondere mit wie auch immer geartetem Adel, waren noch nie sonderlich feinfühlig gewesen.
Nach kurzem Zwiegespräch beschlossen wir, dass Mara sogleich offen und frei vor dem Hökjarl sprechen sollte. Die Hoffnung bestand darin, dass uns das zunächst Sympathie einbringen würde, ehe wir in einen wie auch immer gearteten Handel übergingen, um Haruka Kinjo zu befreien. Die Elfe führte also unsere Sache vor, wobei sie auch auf Miyako verwies und mit emotionsgeladener Stimme von der Familienbande der KanThai berichtete. Harald war offensichtlich neugierig geworden und hatte sich während der Erklärung Maras vorgebeugt. Als sie endete, lachte er kurz auf und warf seine angenagte Fleischkeule in eine Ecke, wo sich zwei Hunde wild darauf stürzten. Anschließend erhob er sich und ging zu uns hinüber, wo er vor allem Miyako eindringlich musterte. Er begann zu reden während er die KanThai umschritt, die Dicke der Arme fühlte und einen Blick auf ihre Zähne warf. Miyako wurde behandelt wie ein Pferd, doch ertrug sie es mit stoischer Gelassenheit, während ich Mühe hatte, nicht aus der Haut zu fahren. Dabei rührte mein Zorn nicht allein von der abfälligen Behandlung einer Freundin her, sondern überhaupt von der Anmaßung, Menschen wie Vieh betrachten zu können.
„Er glaubt, wir hätten ihm eine zweite Sklavin gebracht“, erklärte Mara, als sich der Hökjarl wieder auf seinen Platz begeben hatte. „Und Haruka Kinjo… hat er zur Frau genommen.“
„Wo ist sie jetzt?“, knurrte Miyako, der mittlerweile deutlich die Anspannung anzusehen war. Wir waren jetzt mehrfach kurz vor dem Ziel gewesen und diese neue Erkenntnis verschlimmerte es wieder einmal. „Ich möchte sie sehen. Wissen, dass es ihr gut geht.“
Mara leitete die Frage weiter und erhielt eine knappe Antwort: „Sie befindet sich an einem Ort namens Dalgdröm. Es scheint aber nicht für uns Außenstehende möglich zu sein, dass wir sie besuchen.“
„Wo befindet sich das? Kann sie nicht herkommen?“
Ein kurzes Zwiegespräch, bei dem Haralds Gesicht Arroganz und Herablassung widerspiegelte. Die Frage schien den Hökjarl in irgendeiner Form beleidigend gewesen zu sein oder war für den Mann einfach zu banal, als dass er sie einer Antwort würdigte. Mara schien das noch retten zu wollen, doch die Mine des Godrenherrschers blieb eisern.
„Er hält es für lächerlich, dass wir nicht wissen, was und wo Dalgdröm ist…“, erklärte unsere Elfe. „Miyakos Schwester könnte er wohl herbringen lassen, scheint dazu aber keine Lust zu haben.“
„Wenn dieser barbarische und zurückgebliebene Sklaventreiber Haruka nicht herbringt, dann gehen wir eben ohne seine Zustimmung nach Dalgdröm und befreien sie“, zischte ich. „Wahrscheinlich sollten wir jetzt gehen.“
„Das solltet ihr wohl in der Tat“, knurrte Hökjarl Harald in einem tadellosen Comentang.
Verdutzt blickten wir zu dem Mann hinüber, der ein finsteres Grinsen im Gesicht hatte. So viel zur Gastfreundschaft der Godren; er hatte uns belogen, um uns belauschen zu können. Wenngleich das nicht überraschte und meine eigene Torheit einen voreiligen Schluss gefasst hatte, war ich dennoch erzürnt über diese anmaßende Gestalt eines Herrschers. Der Hökjarl winkte einen Moment später abfällig mit der Hand und von der Feuerstelle erhoben sich acht Krieger, die entschlossen auf uns zugingen. Wir wandten uns entsprechend ab und verließen das Langhaus Haralds zügig, ehe die Waelinger zu sinnloser Gewalt griffen.
Draußen begrüßte uns die beißende Kälte einer bitteren Ermahnung gleich, dass wir nun andere Wege und Mittel suchen mussten, um Haruka Kinjo befreien zu können. Obwohl ich die Schuld am voreiligen Scheitern der Verhandlung trug, so machte mir keiner meiner Begleiter einen Vorwurf – es schien uns ohne weitere Worte einleuchtend, dass mit Hökjarl Harald kaum ein sinnvolles Gespräch auszumachen war. Dafür erkannte er unsere Stellung als zu gering und behandelte uns zu sehr wie Vieh, das man höchstens zur Schlachtbank treiben konnte.
Es lockt stets, die Umwelt zu verurteilen; die Umstände dem Scheitern voranzustellen. So ist es einfach, ein Versagen an äußere Einflüsse zu verweisen, ihnen die eigene Abneigung zuzuweisen. Schlicht gesagt ist dies die süße Liebkosung des eigenen Selbst. Doch kann es auch mehr sein als das. Es ist die Erkenntnis, die in der Betrachtung der eigenen Schwäche offenbar wird. Es ist die Abneigung, die sich manifestiert, nachdem man glaubte, den eigenen Fehler gesehen zu haben. Damit erhebt sich die Wahrnehmung über die bloße Enttäuschung und man vermeint eine Verurteilung aussprechen zu können. Anmaßend oder nicht, das Urteil wird gefällt – der Schuldige hingegen… verurteilt? In Sippenhaft genommen?
Da uns überhaupt grundlegendes Wissen fehlte, suchten wir zunächst das Haus von Eike Gunderson auf, der uns sogleich freundlich empfing. Wir vier wandten uns an seinen Sohn Egil und stellten ihm Fragen über dieses Dalgdröm, das der Hökjarl erwähnt hatte.
Es stellte sich heraus, dass Dalgdröm tatsächlich eine recht große Siedlung war – ungefähr vergleichbar mit Usegorm. Allerdings war Fremden, sogar Waelingern aus anderen Stämmen, der Zutritt strengstens untersagt. Es musste eine enorme Befestigung geben, wie uns Egil beschrieb. So wunderte es kaum, dass hier auch die eigentliche Residenz des Hökjarls war… und seiner Frauen. In diesem Moment erfuhren wir zum ersten Mal, dass auch die waelischen Jarl – fernen Herrschern ähnlich – eine Art Harem besaßen, in dem mehrere Frauen lebten und eine große Zahl an Kindern zeugten. Zum nachfolgenden Herrscher wurde dann jener erkoren, welcher einen nie genannten, aber doch erwünschten Wettkampf untereinander als letzter überlebte. Gerade als Angehöriger eines nur noch kleinen Volkes kam mir diese archaische Hackordnung im ursprünglichsten Sinn ungeheuer barbarisch vor. Dagegen erschienen mir beinah die ausbeuterischen und rücksichtslosen Adelsherren Albas zivilisiert und ich stand kurz vor dem nächsten Wahn angesichts der menschlichen Zustände in der Welt.
Eine erste bitte Vorahnung erhielten wir zudem durch die Nachricht, dass vor etwas mehr als einem halben Jahr eine Frau Harald eine Tochter geboren hatte. Von der Zeit her könnte es passen, aber mochte es tatsächlich sein? Wir vertieften den Gedanken vorerst nicht weiter.
Die Situation hatte sich für uns erheblich verschlechtert. Über Land würde es laut Egil etwa fünf Tage nach Dalgdröm dauern – durch eine schneebedeckte Einöde. Sicherer wäre die Fahrt über die See, welche in zwei Tagen erledigt wäre, allerdings das Problem barg, dass wir wohl keinen godrischen Handelsfahrer fanden, der uns dorthin bringen würde. Eike Gunderson sagte uns dies ebenfalls unmissverständlich ab. Geschweige denn, dass wir in Dalgdröm nicht von Bord dürften.
Das Problem der Erreichbarkeit verband sich sogleich mit dem er Überwindbarkeit: erst einmal angekommen; wie sollten wir über die Palisaden gelangen? Uns schossen allerlei Ideen durch den Kopf, von denen eine abstruser als die andere war. Während ich noch mit dem Gedanken ans verdeckte Einschleichen auf einem Karren spielte, war Ricardo bereits dabei sich bizarre Schauspielereien auszudenken, welche die Frauen des Dorfes zu uns hinauslocken sollten. Sofern er nicht einen passenden Zaubergesang beherrschte, erschien uns allen, und auch zum Teil ihm, höchst unrealistisch.
Doch für Resignation war kein Platz. Unwirsch trieb uns Miyako an, erst Schritt für Schritt den Weg nach Norden zu planen. Die KanThai wirkte getrieben wie noch nie und eine kalte, gefährliche Entschlossenheit lag in ihrem Blick. Die eiserne Ruhe ihrer sonstigen Miene war dahin und offenbarte den unbändigen Wunsch, die Schwester zu retten. Wenngleich im Sinnen nobel, huschte mir gleichfalls ein kalter Schauer, wenn ich nun in Miyakos Augen blickte… nur ansatzweise erahnend, was die KanThai zu tun bereit war, um Haruka Kinjo wieder in ihre Arme zu schließen.
Wir griffen schließlich Maras zunächst eher ironische Idee auf: der Feind unseres Feindes ist unser Freund. Denn auch wenn die Stämme der Waelinger derzeit keinen offenen Krieg austrugen, so stritten sie weiterhin unerbittlich miteinander. So gingen wir in unser Gasthaus zurück, wo der einzige war, der uns in dieser Situation hilfreich erscheinen mochte: der Stevenmann Sneifir Boldafjörd vom Stamme der Aeglier.
Tatsächlich trafen wir den Mann mitsamt einigen weiteren Mannschaftsmitgliedern der Wogenwolf an. Sie hockten an einem langen Tisch und nahmen große Schlucke aus den vor ihnen stehenden Methörnern, die mit Sicherheit schon einige Mal geleert worden waren. Es war gerade einmal später Nachmittag und die Waelinger wirkten bereits betrunken – selbst für ihre Verhältnisse.
Nichtsdestotrotz stellten wir uns Stühle dazu und Mara begann sich mit Sneifir zu unterhalten. Seine verwaschene Aussprache machte es schwierig zu erkennen, ob er überhaupt redete oder schon im Brabbeln angekommen war. Die Elfe bewies jedoch ein weiteres Mal Geduld, während Ricardo sich darum kümmerte, dass dem Waelinger der Met nicht ausging. Das führte zwar dazu, dass der Küstenstaatler selbst auch recht unwillig am Alkohol nippen musste, aber offensichtlich wirkte uns der Stevenmann einige Minuten später doch recht zugeneigt. Wir setzten uns mit ihm an einen anderen Tisch, um etwas ungestört von godrischen Ohren zu sein.
„Sneifir – kannst du uns nach Dalgdröm bringen?“, sprach Mara schließlich unser Anliegen an und übersetzte im Folgenden für uns.
„Dalktröm?! Was wollt‘ er da? Daff doch keiner hie, nichma‘ mich lassen se da rein.“
„Wir haben Angelegenheiten dort“, machte es Miyako knapp, was Mara übersetzte.
„Nu… isch könnt euch scho da hie bringe. Bin ja son Seefahrer un alles. Brauchn nochn Schipp. Un ne Crew.“
„Kannst du uns auch hinein bringen? Hinter die Palisade?“
„Hm, ich kann so einiges!“, lallte der Mann weiter. „Muss aber auch erstma mich mit Freunnen besprechen, was wir so schaffe könne. Würd sagen, wir drinke jetzt erstmal!“
In dem Zustand war mit dem Stevenmann Nichts anzufangen und mehr oder weniger genervt machten wir mit dem Mann aus, uns am nächsten Morgen wieder zusammen zu setzen – im nüchternen Zustand. Anschließend gingen wir zurück auf unser Zimmer. Lediglich Ricardo verweilte noch einige Zeit bei Sneifir, zum stummen Mittrinken verdammt.
Wir trafen uns am nächsten Morgen im Gastraum wieder und nahmen ein Frühstück ein. Boldafjörd wirkte noch ziemlich erschlagen von der Nacht, war aber da und nüchtern. So konnten wir nach einem gemeinsamen Mahl das Thema vom Abend wieder aufgreifen.
„Also, Sneifir. Kannst du uns vier unbemerkt nach Dalgdröm bringen? Wir müssen in die Siedlung.“
„Ja, ich kenne da meine Leute. Wir Aeglier sind hier eine recht kleine, aber verschworene Gemeinschaft. Mit einem kleinen Schiff könnten wir nach Dalgdröm fahren – aber euch nur an der Küste herauslassen. In die Stadt kommen wir ebenso wenig wie ihr. Man würde uns bereits angreifen und versenken, wenn wir in Sichtweite der Siedlung kommen.“
„Gibt es keine geheimen Zugänge oder Kontakte in Dalgdröm, die uns hineinbringen könnten?“, fragte Mara auf meinen Vorschlag hin.
„Davon weiß ich Nichts“, wiegelte Sneifir ab. „Wir können euch hinbringen und wieder mitnehmen, um den Rest müsstet ihr euch selbst kümmern. Aber… wie sieht es eigentlich mit unserer Bezahlung aus?“
„Wir könnten euch… fünfhundert Goldstücke bieten?“, schlug Ricardo vor, was Mara übersetzte und noch dazu fragte: „Wie groß wird die Mannschaft denn sein?“
„Zehn Mann und ich. Also fünfhundert? Wir müssen nach Dalgdröm, das sind zwei Tage. Dann warten wir auf euch und fahren dann nach Usegorm… glaube ja nicht, dass ihr vier nach dem Was-auch-immer in Dalgdröm zurück nach Boras wollt?“
Wir stimmten dem Stevenmann an der Stelle zu, woraufhin er seine Überlegungen wieder aufnahm: „Also mit der Bezahlung müssten wir noch einmal sprechen… meinen Männern und mir wäre es nämlich lieber, wenn ihr etwas anderes tätet. Wisst ihr, die aktuelle Thronfolge sagt uns nicht gerade zu. Der Älteste von Haralds Bälgern ist für seine Herrschsüchtigkeit bekannt. Sollte er seinem Vater nachfolgen, könnte es zu heftigen Konflikten mit uns Aegliern kommen. Eine wenig… Trubel und Veränderung in der Thronfolge wäre also ein großer Dienst für uns – und natürlich für den Frieden in Waeland!“
Ungläubig starrte ich den Mann an, sobald Mara fertig übersetzt hatte. Doch ich mochte von den Waelingern halten, was ich mochte – ihre morbiden und barbarischen Streitigkeiten gingen mich Nichts an. Doch wahres Erschrecken entfaltete sich, als ich zu meinen Begleitern blickte. Miyako legte den Kopf schräg und ich konnte in ihrem Gesichtsausdruck deutlich sehen, wie sie rechnete. Ein Menschenleben umgedreht in schnödes Gold. Schlagartig wurde mir wieder klar, wo die KanThai herkam – was sie war. Und wenn ich nicht wüsste, was Miyako bereits Gutes geleistet hatte und das ihr eigentlich Edles im Sinn stand, so hätten mich der Ekel und die Abscheu übermannt. Allzu deutlich blieb jedoch der Blick hinter die in meinem Geiste heraufbeschworene Illusion – eine Enttäuschung im wahrsten Sinne.
„Ich hoffe, das klar ist, dass dies für uns nicht in Frage kommt“, mahnte ich meine Begleiter.
„Natürlich nicht!“, bestätigte mir Ricardo. Miyako blieb erwartungsgemäß still, da sagte plötzlich Mara: „Nun ja… wenn Sneifir sagt, es handele sich um eine Sache des Friedens…“
Natürlich war ihr auch klar, dass der Stevenmann an dieser Stelle erzählte, was ihm passte. So ging es denn auch ihr nicht um den naiven Glauben daran, dass ein Mord in Dalgdröm gerechtfertigt sein könnte. Ihr war womöglich das Menschenleben schlicht egal, das auf dem Altar von Miyakos Suche geopfert werden sollte. Ich zuckte bei ihren Worten zurück, als hätte mich ein Schlag getroffen und schüttelte einfach nur meinen Kopf: „Wir können nicht wegen einem Menschenleben – auch wenn es dir noch so teuer sein mag, Miyako – durch Waeland ziehen und jeden abschlachten, der uns dabei im Wege steht! Das wäre der Abgrund für uns alle.“
An dieser Stelle war das kurze Zwiegespräch bereits beendet. Mara und Miyako wären bereit gewesen, einen Menschen zu töten, doch brannten sie nicht so darauf, dass sie eine Diskussion mit Ricardo und mir zum Ende durchziehen wollten – schließlich bestand noch die Möglichkeit, schlicht selbst Gold an die Aeglier zu bezahlen.
„Sneifir, wir werden die Thronfolge unberührt lassen. Aber wir können dich und deine Männer gut bezahlen, wenn ihr uns einen Preis nennt“, fasste Mara zusammen.
„Dann werde ich mich zunächst mit ihnen zusammensetzen und die Sache grob planen. Wir treffen uns am besten heute Abend wieder hier und bereden das Ganze.“
Damit waren auch wir einverstanden und Sneifir verabschiedete sich von uns. Wir vier blieben zurück am Tisch; Maglos hatte es sich zu unseren Füßen bequem gemacht.
Einige Zeit lang hingen wir alle unseren eigenen Gedanken nach, bis ich schließlich wieder zur Sprache bringen musste, was uns bereits am Vortage fast in Lethargie gedrängt hätte: „Meine Freunde. Was sollen wir denn eigentlich tun, wenn wir in Dalgdröm sind? Wir kennen die Stadt nicht – wissen nicht einmal, wie man hereinkommt. Und selbst wenn ihr drin sind, müssten wir uns irgendwie an viertausend Waelingern vorbeischleichen. Sieht uns ein einziger, wird er uns sofort als Fremde enttarnen. Und dann kommt es zum Blutvergießen, womöglich werden Menschen sinnlos sterben, sehr wahrscheinlich auch wir. Es ist Wahnsinn – wir werden niemals nach Dalgdröm hinein und heraus kommen. Und auf dem Rückweg haben wir noch Haruka…“
„Möglicherweise mit einer Tochter“, setzte Mara hinzu. Ricardo und Miyako nickten stumm, wobei sich für die KanThai gerade die Pforte der Hölle zu öffnen schien. Angesichts unserer nahezu aussichtslosen Lage, die sie so persönlich und direkt berührte, bröckelte ihre sonst so felsenfeste Fassade.
„Wir müssen noch einmal zum Hökjarl und versuchen, das auf diplomatischem Wege zu regeln. Zumindest soweit, dass Haruka herkommen kann“, schloss ich mit bitterer Stimme. Ich war wohl einer der letzten, der mit dem archaischen Herrscher verhandeln wollte – doch es blieb Nichts anderes. Wie so häufig.
Plötzlich erhellte sich Maras Gesicht: „Ich habe eine Idee, wie wir unsere Position stärken. Man scheint uns schließlich nicht zu glauben, dass Miyako mit Haruka verwandt ist. Schicken wir doch einen Brief!“
Es wirkte so… simpel. Aber die Möglichkeit einer direkten Korrespondenz hatten wir bisher nicht im Sinn gehabt und auch wenn es verlockend klang, würde sich erweisen müssen, ob es erfolgreich sein konnte. Doch einen Versuch war es wert – und Miyako begann in Abstimmung mit uns einen Brief zu schreiben. Sie nutzte die Schriftzeichen des KanThaiTun damit auch Niemand außer Haruka das Schriftstück würde lesen können. So sahen auch wir zum ersten Mal die fremde Sprache schwarz auf weiß niedergeschrieben. Sie war vollkommen anders als das valianische Alphabet und auch die mir geläufigen Ogam-Zeichen der Druiden zeigten keinerlei Ähnlichkeit.
Miyako schrieb zunächst einige persönliche Fragen hinein, vor allem zu Befinden ihrer Schwester. Daran musste sich jedoch auch die Feststellung anknüpfen, ob es wirklich ihre Schwester war. Dass es eine KanThai war, die antworten musste, galt durch die fremde Schrift sichergestellt – doch konnte es jede sein, die noch mit an Bord gewesen war und bis hierhin von uns verwechselt worden war.
„Gibt es nicht irgendeine Kindheitserinnerung, die du ansprechen könntest, Miyako?“, fragte ich nach. „Etwas, das nur Haruka dir beschreiben könnte, wenn du es erwähnst?“
Sie überlegte etwas, ehe ihr Blick weitschweifig wurde. Für einige Momente versank sie in halb verblassten Erinnerungen, ehe sie etwas niederschrieb und nur halb etwas vom Berg „HoShi“ sprach.
Schließlich musste auch angesprochen werden, was es mit dem Kind auf sich hatte – und dann konnten wir zu den brennenden Fragen übergehen: wie konnten wir sie befreien? Miyako erfragte Möglichkeiten, wie Haruka nach Boras kommen könnte, oder umgekehrt: wir nach Dalgdröm. Und schließlich die wohl alles umfassende Ergänzung. Wollte Haruka überhaupt befreit werden?
Nachdem Miyako den Brief mit sicherer und ruhiger Hand beschrieben hatte, rollten wir ihn zusammen und gingen nach einem entsprechenden Hinweis des uns bekannten Orn zum hiesigen Botendienst. Hier zeigten die Waeländer sich von einer wiederum interessanteren Seite, war es ihnen doch gelungen, sich Raben zu züchten, von denen einer unsere Nachricht nach Norden bringen konnte. Ricardo gab dem Botenmeister ein Goldstück, was für die Verhältnisse schon viel war, und wir zogen uns zurück ins Gasthaus – baldige Antwort erhoffend.
Wir vertrösteten Sneifir und seine Aeglier, was er widerwillig hinnehmen musste. Dann begann eine ungewisse Wartezeit, die insbesondere an Miyako Spuren hinterließ. Die sonst stets ausgeglichene und geduldige KanThai tigerte im Zimmer auf und ab und warf immer wieder einen Blick zum Himmel. Dort erblickte sie zwar immer wieder Raben, aber das half uns schließlich Nichts – wir mussten weiter warten: man hatte uns die Auskunft gegeben, dass es frühestens in vier Tagen Antwort geben könne.
Doch dann war es endlich so weit. Nachdem wir vier Tage allesamt kaum mehr getan hatten, als dem Schnee beim Fallen zuzusehen, erhielten wir an der Botenstation einen Brief ausgehändigt – beschrieben in KanThaiTun. Eilends liefen wir zurück ins Gasthaus und Miyako überflog hastig die Zeilen. Offen war ihr ein Wechselbad der Gefühle anzusehen, das schließlich in einer seltsamen Konfusion zu enden schien.
„Es ist meine Schwester Haruka“, begann sie zu erklären. „Sie konnte mir genau beschreiben, was am Berg HoShi geschehen ist. Es geht ihr gut, schreibt sie – sehr gut sogar. Nachdem sie als Sklavin hierhergekommen war, wurde sie im Großen und Ganzen recht gut behandelt. Und das Kind des Hökjarl ist ihre Tochter… Thyra.“ Einen Moment lang stockte sie und sortierte ihre Gedanken. Nun hatte sie Gewissheit, doch wer hätte sich in seinen kühnsten Vorstellungen ausmalen können, dass Haruka ausgerechnet am Hofe eines waelischen Jarl, eines Hökjarls sogar landen würde? Mit dem sie zudem direkt verheiratet worden war, da ihr Mann kaum einige Monate tot gewesen sein konnte. Doch wie Miyako den Brief schilderte, schien ihre Schwester in der Tat aus dem gleichen, widerstandsfähigen Holz geschnitzt zu sein und ihr Schicksal zu tragen, wie ich es mir kaum vorstellen konnte.
„Sie wird nicht ohne Thyra gehen, schreibt sie. Aber sie würde gerne nach Boras kommen, auch wenn das ohne einen triftigen Grund schwer werden könnte. Was dann ist, werden wir sehen. Haruka vermisst unsere Heimat, unsere Familie, aber…“, Miyako schluckte schwer, da ihr ebenfalls jene Erkenntnis nahekam, die bereits ihre Schwester erfahren hatte. „Sie weiß nicht, ob sie zurückkönnte. Mit ihrer Tochter… nach allem was geschehen ist.“
Es verschlug uns allen die Sprache und einige Minuten sagte keiner etwas. Ich hatte mit dem schlimmsten gerechnet und zumindest war Haruka nicht tot. Dafür hatte man sie jedoch eingesperrt, fern der Heimat. Bei Menschen, die sie nicht kannte und nun für den Rest ihres Lebens wird ertragen müssen. Und sie wurde – will man die brutale Wahrheit benennen – vergewaltigt.
Doch hatte sie sich nun scheinbar in ihr Schicksal eingefügt und es akzeptiert, lebte in Dalgdröm und das augenscheinlich nicht schlecht. Doch die wirkliche Veränderung war wohl mit Thyras Geburt eingetreten: dem Silberstreif ihres Lebens. Es war die elterliche Kraft und Liebe, die das Leben für Haruka scheinbar wieder sinnhaft gemacht hatte. Die neue Sonne, um welche sie wandeln würde.
Schließlich begannen wir jedoch weitere Planungen. Miyako setzte einen weiteren Brief auf, in dem sie Haruka aufforderte, zwei Briefe zu senden. Einer sollte an den Hökjarl gehen, mit der Bitte nach Boras reisen zu dürfen. Der andere sollte für uns sein: in Waelska verfasst, um den Wachen der Godren ausweisen zu können, dass wir zu Harald vorgelassen werden mussten. Die Waelinger mochten roh und barbarisch sein, doch musste ihnen die Familie auch etwas bedeuten – und Miyako war nun die Schwägerin des Hökjarls.
Wir sandten den Brief mit dem Raben aus und warteten weitere Tage im Gasthaus in Boras. Miyako übte sich in Geduld, ich vertrieb mir meine Zeit mit leeren Spielereien mit Maglos und Ricardo sowie Mara schienen zumindest ab und an neugierige Spaziergänge durch Boras zu machen. Alles in allem schien sich jedoch keiner von uns mit der waelischen Seele anfreunden zu können und wir blieben unter uns.
Und schließlich erreichte uns ein Brief! Er schien von jemand anderes im Auftrag geschrieben worden zu sein – in waelischer Runenschrift. Keiner von uns konnte erahnen, was geschrieben stand. Ein Siegel am unteren Ende machte jedoch den Eindruck, dass es eine offizielle Nachricht war, die hoffentlich Gewicht hatte. Wir zögerten nicht und gingen sofort, es war gerade Mittag, zum Langhaus des Hökjarls. Die Wachen waren andere diesmal, allerdings schienen sie von unserem letzten Besuch unterrichtet worden zu sein. Entsprechend abfällig blickten sie uns an… und waren umso verdutzter, als Miyako das Schreiben hochhielt, während Mara übersetzte: „Miyako Kinjo, Schwester von Haruka Kinjo, Ehefrau des Hökjarl Harald, begehrt Einlass.“
Die Männer sahen sich an und zuckten mit den Schultern, ehe sie beiseitetraten. Wir traten ein, wurden wieder von einem Waelinger empfangen und in die Halle des Hökjarl gebracht – der wie immer speiste. Harald blickte auf und allein weil sich weder Verwirrung noch Verachtung zeigten erschien klar, dass ihn der Brief seiner Frau erreicht haben musste.
„Seid gegrüßt, Hökjarl Harald“, begann Miyako auf Comentang, da uns ja nun bekannt war, dass der Waelinger durchaus die gemeine Handelssprache von Vesternesse sprach. „Ich bin gekommen, um über meine Schwester zu sprechen.“
„Sei auch du mir gegrüßt, Schwägerin“, erwiderte der Mann und wies auf einige Stühle an der Feuerstelle. Wir nahmen Platz und er setzte sich zu uns. „Ich glaube, es ist womöglich eine Entschuldigung angebracht. Ich konnte ja nicht wissen, dass du wirklich die Schwester meiner Frau bist“, brummte der Waelinger, während aufgetischt wurde. „Aber auch von eurer Seite“, setzte Harald fort und warf mir dabei einen Blick zu, auf den ich vorerst nicht reagierte.
„Ich möchte meine Schwester sehen“, drängte Miyako. „Ihr müsst einen Brief erhalten haben, indem sie auch Euch bittet, hierherkommen zu dürfen.“
„Ja, in der Tat“, erwiderte der Hökjarl. „Ich habe bereits veranlasst, dass sie herkommt. Wenn der Brief sie in zwei Tagen erreicht, kann sie ungefähr in vier Tagen hier sein. Aber… ihr werdet doch nichts Unüberlegtes versuchen? Sie zu befreien? Denkt an unser Kind!“
„Natürlich werden wir nichts Entsprechendes versuchen“, versicherte Miyako.
„Nun, das klang vor einigen Tagen noch anders“, blaffte Harald und wies auf mich.
„Unser letztes Gespräch war geprägt von mehreren Missverständnissen“, erwiderte ich. „So hatte sich mir der Eindruck aufgedrängt, dass Haruka in bedrohlicher Lage sei – worüber ich nun bessere Kenntnis verfüge. Dementsprechend möchte ich mich auch für meine voreiligen Worte entschuldigen.“
Harald nickte gönnerhaft, während ich mir wünschte, mit den Kopf voran in die glühenden Kohlen springen zu können. Nicht nur, dass ich den Hökjarl verabscheute, ich musste auch noch so tun, als sei er im Recht. So verblieb ich den Rest des Gesprächs still, während Miyako und Harald im Gespräch ausmachten, dass wir bei ihm im Langhaus speisen durften, um unsere Zwistigkeiten „auszuräumen“. Sobald Haruka hier wäre, würde es ihr auch gestattet sein, einen Tag mit ihrer Schwester zu verbringen. Dann würde es jedoch wieder heißen, Abschied zu nehmen.
Die nächsten Tage vergingen in relativer Unruhe und beständiger Erwartung. Trotz des „Familienessens“ gab es keinerlei weitere Annäherung zwischen dem Hökjarl und uns. Das lag auch nicht in unserem Interesse, waren wir ja nicht hier, um irgendwelche Kontakte mit Waelingern zu knüpfen.
Dann war es endlich so weit: ein Bote benachrichtigte uns nach dem Frühstück im Gasthaus, dass die Frau Haralds angekommen sei und schleunigst machten wir uns auf den Weg zum Langhaus. Verständlicherweise wirkten die Wachen immer noch etwas verwirrt, dass ein derart buntgemischter, fremdländischer Haufen zu ihrem Herrscher vorgelassen wurde, ließen uns aber natürlich durch. Und schon standen wir in der Großen Halle, sahen Hökjarl Harald an seiner Tafel und links neben ihm eine Frau. Ihre fernöstlichen Züge waren unverkennbar, da tat auch ihre typisch-waelische Kleidung keinen Abbruch. Schwarzes Haar umrahmte ihr Gesicht, das einen äußerst bekannten wenn auch hier undurchsichtigen Anblick bot, der lediglich einen Hauch von Gefühlen erahnen ließ. Allein der Blick in den Augen war es, der uns andere wissen ließ: dies war Haruka Kinjo, die lang verschollene Schwester von Miyako. Dann fiel unser Blick weiter und wir sahen das Kind, das auf dem Schoß der Frau saß. Dicht eingepackt war in dem Bündel kaum etwas zu erkennen, aber als Haruka kurz hinabblickte und sich Wonne über ihr Gesicht ausbreitete, war klar, dass dies ihr Kind sein musste.
Miyako blieb kurz stehen, als wir ihrer Schwester gewahr wurden und ich bemerkte ein leichtes Zittern, das ihren Körper befallen hatte. Ihre Augen waren aufgerissen, der Mund stand offen – dann stürmte sie los und kein Waelinger hätte sie aufhalten können, bis sie kurz vor Haruka stand. Das Kind übergab sie einer nahen Zofe, dann erhob sie sich – und die beiden Schwestern warfen sich einander um den Hals.
Es war indes der erste, ruckartige Freudenausbruch gewesen, der den beiden Frauen ein noch nie gesehenes Lächeln verlieh. Ergreifender und in Gefühlen machtvoller waren dann die nächsten Momente, als die beiden nah aneinander standen und sich ansahen, während sie in ihrer hektischen, schnellen Sprache leise miteinander sprachen. Es war nicht zu ermessen, wie glücklich die beiden gerade waren. Dann blickte Haruka zu uns hinüber und schenkte uns dreien sowie Maglos ein sanftes, warmes Lächeln. Mehr bedurfte es nicht, um das Ausmaß ihrer Dankbarkeit auszudrücken und mit Wonne in der Brust zogen wir uns zurück und überließen den beiden Schwestern einen Tag in seliger Zweisamkeit, die sie ungestört verbringen sollten.
Wir schlenderten noch etwas über den Marktplatz, ehe wir tatsächlich wieder ins Gasthaus zurückkehrten. Miyako kam erst spät am Abend wieder und so aufgewühlt und gelöst hatte ich die KanThai noch nie erlebt. Sie erzählte vor Freude nur unzusammenhängend, über das sie alles mit ihrer Schwester gesprochen hatte. Obzwar ich ihr niemals reine Gefühlslosigkeit unterstellt hatte, war dieser ekstatische Ausbruch so ungewohnt, dass es mir die Sprache verschlug. Auch das kleine Kind, Thyra, schien es ihr angetan zu haben und sie erzählte mit feuchten Augen, wie sie mit dem Mädchen gespielt hatte. Dachte man an unsere vergangenen Reisen zurück… sahen wir hier eine andere Miyako? Das wäre wohl ein klares Ja, aber sahen wir hier auch eine veränderte Miyako? Jene KanThai, die zu den Schwarzen Mördern KanThaiPans gehörte, konnte sie durch diesen Moment der tiefsten Emotion Glück finden?
Am nächsten Morgen trafen wir uns mit Hökjarl Harald und seinem Gefolge am Hafen von Boras. Das Schiff, mit dem Haruka hergekommen war, hatte man bereits wieder bereit gemacht, um Ablegen zu können. Die Frau des Hökjarls hatte sich natürlich auch bereits eingefunden und blickte mit schweren Augen zu den Planken, die sie zurück nach Dalgdröm tragen würden. Doch schien ihr jeder Moment mit ihrer Tochter Thyra die notwendige Kraft zu geben. Miyako und sie standen noch einmal beieinander, tauschten einige Worte – diesmal leise und eindringlich. Die Leichtigkeit war dahin, denn es wurde bereits Zeit, Abschied zu nehmen. Letzte Fragen zu stellen. Dann stupste Miyako noch einmal das dicke Fellbündel an, in das Thyra gegen die Kälte gepackt worden war, woraufhin sich eine kleine, rosa Hand herausschob und den Finger der KanThai packte. Ein sanfter Griff, der sogleich wieder losließ. Dann umarmten sich die Schwestern – ein letztes Mal.
Nach einigen Minuten ließ sie erst los und Miyako trat zu uns zurück, das Gesicht offen mit Tränen überströmt, die sie nicht länger zurückhalten konnte und wollte. Keine Schande lag in der Trauer, nur tiefes Bedauern mit einem Gefühl kalter Notwendigkeit; dem Grau in Grau dieser Welt.
Nicht minder unter Tränen ging Haruka an Bord des Schiffes und trat ans Heck – wo sie uns noch einmal unter aller Aufbietung ein Lächeln schenkte, während sie ihre Tochter im Arm wiegte. Dann legte das Schiff ab.
Uns blieb nicht mehr, als ein Kloß im Hals, während wir dastanden und dem kleiner werdenden Segel nach zu starren. Harald und seine Männer zogen sich bereits in ihr Langhaus zurück, den Abschiedsgruß erwiderten wir nur knapp.
Schließlich kehrten wir ohne Worte zurück ins Gasthaus, wo wir zunächst allesamt einen warmen Met einnahmen, während Miyako uns noch die letzten Dinge erklärte: „Ich werde unseren Eltern einen Brief schreiben… Haruka und ich kamen darüber ein, dass wir … ihren Tod berichten werden.“ Die KanThai stockte, sammelte sich und fuhr fort: „Diese Situation hier – in Waeland, in Dalgdröm – ist für sie und das Kind nicht schlecht. Sie kann nicht mehr heim, wenn sie das Kind nicht aufgibt – was sie niemals tun würde. Und würden wir sie befreien, wo sollte sie hin? Der Hökjarl würde uns jagen und selbst, wenn wir flöhen; wer sorgte für sie? Es bleibt uns Nichts, außer dem Wissen, dass es ihr hier gut geht…“
Darin konnte sich Nichts finden, außer eine blanke und unverhüllte Wahrheit. Trotz aller Emotion behielt die bittere Vernunft die Oberhand, auch wenn der Schmerz, den dies bereitete, nur allzu deutlich zu sehen war. Eine tiefe Zerrissenheit, die uns andere nur einen Hauch der Trauer zeigte, die in der Luft lag – und alles klammerte sich an den kleinen Hoffnungsschimmer, der in Harukas Armen lag.
Bereits am nächsten Tag ergriffen wir die Chance eines der letzten Schiffe zu nehmen, das noch Segel setzte. Dem tiefsten Winter und kommendem Eis entflohen wir auf den Planken eines kleinen Seglers bis Usegorm, wo wir ein weiteres Schiff erwischten, das wieder Candranor zum Ziel hatte.
Auch die abnehmende Kälte und schließlich wiederkehrende Wärme des Meeres der Fünf der Winde konnte die grauen Gedanken nicht gänzlich vertreiben, die uns nachhingen. So erschien es mir wie bittere Ironie, dass das erste Gasthaus, das wir im Hafen Candranors anliefen, den Namen trug: „Zum Goldenen Käfig“. Ein zynischer Geist hätte lachen können, während wir jedoch – es war bereits spät – rasch ein Zimmer aufsuchten und zu Bett gingen.
Wir wachten nicht wieder auf.