Der Winter näherte sich mit raschen Schritten und wir beschlossen, uns für die unsere nächste Reise auszustatten. Wir ließen unsere Rüstungen ausbessern, ich frischte meine Vorräte an Salben und Arzneien auf, Miyako und ich sicherten uns auch bei einem Alchemisten des Elementarsterns einige magische Heiltränke. Dabei drängte ich die KanThai durchaus dazu, etwas mehr als nötig einzukaufen – von einem großen Goldvorrat konnten wir uns in der Not wenig leisten.
Schließlich suchten Ricardo, Miyako und ich uns auf Drängen der Frau dicke, warme Kleidung für winterliche Gefilde. Ich war etwas verwundert, war es doch selbst in der kalten Jahreszeit in Candranor recht warm und das nächste Ziel der Reise stand noch nicht fest. Oder?
Am Abend dieses Einkaufs kehrten wir im „Goldenen Apfel“ ein, das Gasthaus, das seit einigen Tagen unsere Bleibe geworden war. Die Ruhe bei einem Glas Tee nutzte ich, um Miyako nun zu fragen, warum wir uns dicke Mäntel, pelzgefütterte Handschuhe und so weiter gekauft hatten.
„Nun, da wir offen und frei in der Welt sind und Nichts uns aufzuhalten scheint, würde ich gerne die Suche nach meiner Schwester zu einem Ende bringen. Ich erzählte dir einst, dass ihr Handelsschiff auf der letzten Reise von Waelingern überfallen worden war. In Alba fand ich heraus, dass die Spuren dieses Raubschiffes nach Usegorm führen. Dorthin will ich – und ich hoffe, dass du und Ricardo mich begleiten.“
„Wie hieß dieses Schiff?“, fragte ich nach.
„Es war die Goldene Schildmaid“, erklärte Miyako, die hierin Gewissheit zu besitzen schien.
„Und dieser Überfall ist jetzt etwa…“, ich überschlug die Zeit, die seit unseren ersten gemeinsamen Reisen vergangen war. „Zwei Jahre her?“
„Ungefähr.“
„Verzeih, wenn ich so direkt auf das Unausgesprochene dränge, aber: planen wir eine Rettung – oder eine Rache?“
„Der Tod ihres Mannes ist bestätigt“, meinte Miyako, die natürlich erkannte, was ich meinte. „Harukas Verbleib ist jedoch ungewiss. Ich hoffe sie im Norden wiederfinden zu können.“
„Dann… Usegorm“, erwiderte ich. „Natürlich werde ich dich begleiten.“
„Ich ebenfalls“, meinte der bis dahin stille Ricardo – und vertiefte sich kurz darauf wieder in Schweigen. Er schien über irgendetwas nachzubrüten, etwas, das er wohl vergessen hatte.
„Was wissen wir über die Goldene Schildmaid? Gibt es das Schiff noch und wer ist die Besatzung?“, fragte ich indes weiter.
„Sie wurde meinem Wissen nach nicht versenkt und der Großteil der Besatzung besteht freilich auch aus Waelingern.“
Miyako verstummte dann und blickte auf. Ich folgte ihrem Blick und gewahrte eine Gestalt, die sich uns näherte. Eine durchaus außergewöhnliche, wie ich sie nicht in einem Gasthaus in Candranor erwartet hätte – obwohl man hier alles erwarten sollte.
Es war eine Frau in einer stählernen Vollrüstung. Lediglich den Helm hatte sie nicht aufgesetzt und ließ somit ein wunderschönes Gesicht erkennen dessen sanfte Züge in einem interessanten Zusammenspiel mit den kurzen, etwas unordentlichen, blonden Haaren standen. Ich erkannte sofort, dass ich hier eine Angehörige meines Volkes vor mir hatte. Und auch die anderen konnten anhand der Ohren und womöglich auch aufgrund der Machart der Rüstung erkennen, dass dies eine Elfe war. Sie bewegte sich zielstrebig auf uns zu, wobei sie insbesondere mich anblickte. Über ihre Schultern hinweg wies der Griff eines Bihänders, der das kriegerische Auftreten noch weiter unterstrich. Die Sicherheit, mit der sie sich trotz einer Vollrüstung bewegte kündete von einer umfassenden Ausbildung. Dabei bewegte sie sich sehr elegant – was ich angesichts dieser eisernen Platten kaum für möglich gehalten hatte. Eine außergewöhnliche Kriegergestalt, die mich überdies um einen Kopf überragte.
„Mae govannen“, grüßte sie mich, als sie unseren Tisch erreicht hatte. Dann sprach sie weiter auf Eldalyn: „Ich freue mich, einen anderen Angehörigen unseres Volkes zu treffen.“
Ich grüßte ebenfalls auf Eldalyn und fuhr in derselben Sprache fort: „Ich mich ebenfalls. Eine angenehme Überraschung, setzt Euch doch zu uns. Sprecht Ihr Comentang; wegen meinen Gefährten?“
„Durchaus“, erwiderte die Elfe in der vesternessischen Handelssprache. Sie setzte sich zu uns, dann sprach sie weiter: „Seid alle gegrüßt. Ich bin Marathaentir Vènthiel. Ihr könnt mich auch einfach Mara nennen.“
„Ilfarin Tinuhên.“
„Miyako Kinjo.“
„Ricardo.“
„Sehr erfreut“, erklärte Mara mit einem Lächeln. „Ich hatte euch bereits gestern beim Alchemisten gesehen. Du bist mir natürlich aufgefallen, Ilfarin. Ihr habt Heiltränke gekauft, nicht wahr? Da bin ich etwas neugierig geworden. Rechnet ihr mit Gefahren?“
„Nun, wir planen eine weitere Reise“, klärte ich Mara auf. „Es soll nach Norden gehen, in die waelische Stadt Usegorm. Doch zunächst bin auch ich neugierig: wo kommst du her?“
„Ich komme aus dem Broceliande in Alba. Dort habe ich lange Jahre in der Garde eines Heiligen Hains gedient. Schließlich packte mich jedoch die Neugier und ich wollte mehr von der Welt sehen. Also brach ich auf und reiste einige Zeit mit einer Gnomin namens Flangasanna. Sanna war eine gute Begleiterin gewesen für meine ersten Reisen außerhalb meiner vertrauten Heimat…“
„War? Ist ihr etwas zugestoßen?“
„Sie ist leider gestorben… sie verfiel der Spielsucht, machte Schulden bei den falschen Menschen… nun, ich will die Stimmung dieses Abends nicht ruinieren. Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt.“
„Das tut mir leid, Mara. Wir kennen deinen Schmerz, auch wir haben die Last der Trauer zu tragen. Unser letztes Abenteuer hat zwei unserer Freunde das Leben gekostet. Die Welt offenbart sich in sternenlosen Nächten als der tiefste Schrecken.“
Mara nickte kurz und ihr Blick schweifte einen Moment ab. Es folgte ein kurzer Moment der Stille, in dem wir allesamt an diesem Tisch an vergangene Tage dachten. Und während ich und wohl jeder Angehörige meines Volkes tagelang in diesem Zustand der Melancholie verharren kann, war dies nicht das Wesen sterblicher Wesen und Mara durchbrach das Schweigen zugunsten von Miyako und Ricardo: „Was treibt euch drei nach Usegorm?“
Ich blickte fragend zu Miyako, denn mir war nicht klar, wie viel die KanThai einer Fremden zu offenbaren bereit war. Sie ließ sich einen Moment Zeit und sprach sehr bedacht und wenig, wie man es von ihr kannte: „Ich suche nach meiner Schwester, Haruka Kinjo. Die letzte Spur von ihr führt in diese Stadt.“
„Das klingt spannend. Es wirkt vielleicht nun etwas plötzlich, aber… dürfte ich euch begleiten? Ich bin neugierig auf die Welt da draußen und bei einer Reise würde ich mich in eurer Gesellschaft deutlich wohler fühlen.“
„Ich wäre durchaus erfreut nach einigen Jahren wieder mit einer Angehörigen meines Volkes zu reisen“, sagte ich ihr zu. „Außerdem glaube ich, dass deine offenkundigen Waffenfertigkeiten uns zugutekommen werden.“
„Ich denke auch“, bestätigte Miyako während Ricardo stumm nickte.
„Das freut mich“, lachte Mara mit hellklingender Stimme auf. „Wann brechen wir auf?“
„Sobald wie möglich“, erklärte Miyako. „Wir müssen nur noch ein Schiff finden, das uns nach Usegorm bringen kann.“
„Und dann sollten wir für dich noch warme Oberbekleidung besorgen, Mara“, setzte ich hinzu. „Ich habe noch keinen waelischen Winter selbst erlebt, aber der ‚hohe Norden‘ spricht für sich selbst.“
Mara stimmte zu, ehe sie zunächst auf ihr Zimmer ging, um ihr Gepäck und vor allem die schwere Rüstung abzulegen. Doch als sie wieder kam, verabschiedete ich mich bald und ging ebenfalls zu Bett. Das Gespräch und das Kennenlernen an diesem Abend waren zwar zwanglos gewesen – doch hatte es auch Erinnerungen erweckt, die die letzten Tage wieder stärker auf mich eingedrungen waren. Anfangs hatte ich mich in Candranor durch das Lernen neuer Fertigkeiten ablenken können, aber frühzeitig, zumindest im Vergleich zu Miyako, hatte ich meinen Ehrgeiz neue Erfahrungen in Wissen umzusetzen verloren. Und selbst wenn die Sonne schien, konnte ich nicht verhindern, dass Gedanken an vergangene Gräuel wie ein grauer Dunstschleier über meiner Wahrnehmung lag.
Am nächsten Morgen suchten wir zu viert den Hafen auf. Mara hatte ihre Vollrüstung für diesen Weg nicht angelegt, sodass ihr athletischer Körperbau deutlicher wurde. Eine bemerkenswerte Vertreterin des Alten Volkes, in der Tat.
Im Hafen wandten wir uns zunächst dem üblichen Aufseher zu, der uns bereits häufig eine Überfahrt vermittelt hatte – wenngleich wir uns wie immer in reservierter Anonymität übten.
„Ah, ihr seid es wieder. Wohin soll die Reise gehen?“, eröffnete der Mann freundlich.
„Wir wollen nach Usegorm“, erklärte Miyako. „Fährt ein Schiff innerhalb der nächsten Tage ab?“
„Nach Waeland? Es ist Anfang Winter! Wollt ihr nicht lieber hier in Candranor ausharren, bis es wärmer wird?“
„Nein, die Zeit drängt.“
„Nun dann…“, der Mann blätterte einen Moment lang in den Aufzeichnungen der vor Anker liegenden Schiffe, bis er schließlich den Kopf schüttelte. „Es gibt kein Schiff, das Usegorm als Ziel hat.“
„Vielleicht etwas in der Nähe?“
„Ihr könntet bei der Wogenwolf nachfragen. Das ist ein godrisches Handelsschiff, welches wohl bald die Heimreise antreten wird. Ein Halt in Usegorm scheint zwar nicht geplant, aber vielleicht könnt ihr den Kapitän von eurem Anliegen überzeugen.“
„Vielen Dank. Wo finden wir das Schiff?“
„Geht einfach den Pier entlang, ein godrisches Schiff wird euch sicherlich auffallen“, erklärte der Hafenaufseher, woraufhin ein Moment peinlicher Stille eintrat. Erwartungsvoll sah er uns an, überzeugt, dass alles gesagt sei – und etwas irritiert blickten wir uns gegenseitig an, bis ich das Wort ergriff: „Ein godrisches Schiff? Was bedeutet godrisch?“
Der Mann zog die Augenbrauen hoch, ehe er erklärte: „Die Godren sind einer der Stämme der Waelinger! Ihre und eigentlich alle Schiffe aus Waeland fallen vor allem dadurch auf, dass – wie sage ich es unkompliziert – nun, dadurch, dass sie vorne und hinten gleich sind. Es gibt keine Heckaufbauten oder dergleichen… Meint ihr nicht, ihr solltet vielleicht etwas mehr über Waeland in Erfahrung bringen, ehe ihr dort hinreist? Ihr scheint ja nicht mal ihre Stämme zu kennen!“
„Äh, da habt Ihr wohl recht“, gestand ich. „Was könnt Ihr uns denn auf die Schnelle über den Hohen Norden berichten?“
„Also, wo fange ich da an… die Waelinger teilen sich in Stämme auf. Es gibt die Godren, aber auch die Aeglier, die Freden, die Veidaren und so fort. In Usegorm leben übrigens die Aeglier… der Sohn des Kapitäns ist ein Skalde, ihr würdet wohl sagen: ein Barde. Er kann euch sicherlich mehr über seine Heimat erzählen. Und er hat auch die Zeit dafür.“
„Dann vielen Dank noch einmal für Eure Hilfe. Auf ein baldiges Wiedersehen.“
„Ja, ja“, verabschiedete uns der Mann und wir machten uns auf den Weg, den Pier entlang.
Neben den typischen Handelsschiffen, wie sie uns vertraut waren, fiel uns alsbald auch ein Schiff auf, wie es der Hafenaufseher beschrieben hatte. Nun, da wir eines vor Augen hatten, kamen sie uns auch durchaus wieder bekannt vor; schließlich lagen in Haelgarde auch einige waelische Schiffe vor Anker. Sie unterschieden sich aber in der Tat sehr von den anderen hier zu Anker liegenden. Sie wirkten flach, beinah wie plattgedrückt. Dazu waren sie, wie bereits vom Aufseher beschrieben, in beide Richtungen spitz zulaufend. Besäßen sie gar an beiden Enden ein Ruder; man könnte kaum sagen wo vorne und wo hinten ist. Viel Platz konnte es im Innenleben eines solchen Schiffes doch kaum geben – ein offensichtlicher Trugschluss angesichts der großen Anzahl Kisten, die auf dem Pier standen und von einigen Männern nach und nach an Deck geschleppt wurden. Einer stand dabei, lehnte gegen einen großen Stapel des Transportgutes und schien die anderen bei der Arbeit zu beobachten. Zielsicher schlossen wir daraus, dass dieser Waelinger eine höhere Position als die anderen einnehmen musste und traten an ihn heran. Da trat plötzlich Mara hervor und begrüßte den Mann in seiner Muttersprache. Die grobe, etwas unbeholfene Sprache passte so gar nicht zur klangvollen und melodiösen Stimme der Elfe. Der Mann schien sie dennoch zu verstehen und grüßte mit einem Nicken zurück – auch wenn er genauso verblüfft dreinschaute wie wir.
„Seid gegrüßt“, übernahm nun Miyako das Gespräch auf Comentang.
„Tag, die Damen. Und die Herren. Was wollt ihr?“, erwiderte der Waelinger.
„Ist das die Wogenwolf? Wir suchen den Kapitän.“
„Ja, das ist sie. Der Käpt’n ist aber auf Landgang, in einer Kneipe oder so.“
„Ist sein Sohn zufällig da?“, hakte ich ein.
„Ne, der ist mit seinem Vater weg. Was wollt ihr denn nun?“
„Wir suchen eine Überfahrt nach Usegorm. Könnt Ihr uns da vielleicht weiterhelfen?“, fragte Miyako.
„Hm. Da müsst ihr dann schon mit dem Käpt’n sprechen. Vielleicht ist er bald wieder da“, bekundete der Waelinger eher gelangweilt.
„Wohin ist er denn gegangen? Vielleicht können wir ihn in der Kneipe ausfindig machen.“
„Das weiß ich doch nicht, ich steh hier schon den ganzen Tag.“
„Was genau tut Ihr eigentlich?“, fragte Mara neugierig nach.
„Ich? Ich bin Bootsmann und beaufsichtige die Schlepper hier. Nicht, dass einer ‘ne Kiste kaputt wirft. Sven Harkon mein Name übrigens. Nun, wegen meinem Käpt’n: vielleicht seht ihr ja den Schiffsjungen, der bei ihm ist. Der fällt auf. Hat ein bisschen dunklere Haut, ihr versteht?“
„Der Schiffsjunge? Er ist bei dem Kapitän?“, fragte Mara nach.
„Ja! Stehst du auf sowas? Ich meine auf die, mit ‘ner dunkleren Haut als wir. Gefällt dir das?“, fragte der Mann mit einem breiten, etwas zahnlückigen Grinsen nach. Wir ließen das unter typisch-waelischen Humor laufen und übergingen es. Stattdessen fragte Miyako kurz und knapp nach den Namen und einem Erkennungsmerkmal von Kapitän und Sohn.
„Eike Gunderson ist unser Käpt’n. Ihr erkennt ihn an einer dicken Narbe an der rechten Schläfe. Sieht gefährlich aus. Sein Sohn ist Egil Silberzunge, er wird sich in seiner Nähe herumtreiben.“
„Danke. Bis auf bald“, verabschiedete sich Miyako vorerst von Sven Harkon und wir machten uns auf den Weg zu den Kneipen, die zu dutzenden entlang des Hafens aufgereiht waren. Als wir umkehrten, schienen die Waelinger den beiden Damen beinah extra auffällig nach zu starren.
Es verging einige Zeit, die wir mehr oder weniger ratlos den Hafen entlang liefen, hie und da einen Blick in eine Schenke warfen und doch keine Spur von den Waelingern ausmachten, die wir suchten. Dann war es Miyako, die in einer Seitenstraße einen Jungen ausmachte, dessen dunkle Hautfarbe ihn als den Schiffsjungen der Wogenwolf ausweisen könnte. Gerade hatte die KanThai uns darauf hingewiesen, da prasselte plötzlich Wasser, versetzt mit allerlei Unrat und zu guter Letzt auch noch Fäkalien auf sie herab – blitzschnell huschte sie zur Seite und starrte ärgerlich hoch, wo eine ältere, feiste Dame aus einem Fenster lugte und keifte: „Verschwindet! Ihr raubt mir die Kundschaft!“
Irritiert blickte ich mich um. Unser Weg hatte uns tatsächlich, ohne, dass wir es zunächst bemerkt hatten, in eine der Bordellstraßen Candranors geführt. Leicht bekleidete Frauen luden, angepriesen von schmierigen Gesellen, vor den sich aufreihenden Etablissements zu körperlicher Ablenkung ein.
Miyako versuchte sich der der Dame zu erklären, gab es allerdings rasch auf und wir setzten unseren Weg zu dem Jungen fort.
„Bist du der Schiffsjunge der Wogenwolf?“, fragte ihn die KanThai.
„Jepp, der bin ich! Und wer bist du?“
„Ich suche deinen Kapitän; Eike Gunderson.“
„Der ist drin. Aber ich darf da nicht rein. Deswegen warte ich hier“, erklärte der kleine Junge.
Wir blickten auf das Gebäude vor dem wir standen und natürlich handelte es sich auch hierbei um ein Bordell. Mara und Miyako zogen die Brauen hoch, während Ricardo sich pikiert schweigend und aktionistisch einen Schritt von der Tür entfernte. So blieb es an mir hängen: „Ich werde mal nachsehen, ob ich den Kapitän ausfindig machen kann.“
Mit diesen Worten trat ich ein, schritt durch einen kurzen Gang, der mit Perlenschnüren verhangen war, und erblickte sodann zwei gar unbekleidete, wunderschöne Frauen.
Es kam, wie es kommen musste. Ein Körper, der zwar geheilt, dessen Geist jedoch vernarbt ist – dahinschreitend, mit einem Verstand, der stets zu leugnen sucht, was er sucht. Hohe Minne eines fernen und lang verschollenen Mysteriums hält ihn gepackt; doch ist es innere Kälte, die geerntet wird, wenn man Eis sät. Ein Verstand, ein Geist, der sich stets versucht, aufrecht zu halten. Gegen stürmischen Tod und brachialen Hass, auf wilder Reise in feindlichen Gefilden. Der sich in einen stetigen Schleier kalten Dunst hüllt, um neue Schrecknisse gleichgültig darin aufnehmen zu können. Kein Verarbeiten, kein Bedenken; nur äußere Stille, wenn im Inneren alles schreit.
Und so bricht die Hülle, wanken die Mauern. Ein Ausfall des Gefühls; des Geistes der sucht – der die Wärme sucht, die durch den grauen Dunst seit langer Zeit nicht mehr vorgedrungen war. So ließ ich mich fallen, hinein in den stürmischen Wirbel.
Als ich das Etablissement einige Zeit später verließ, mit leicht geröteten Wangen und einem Ausdruck süßlicher Trunkenheit im Gesicht, stellte ich fest, dass meine Gefährten nicht mehr da waren. Eilends machte ich mich auf den Weg zurück zur Wogenwolf – sicherlich war der Kapitän in der Zwischenzeit herausgekommen und war abgefangen worden.
Meine Annahme fand sich bestätigt: am Pier entdeckte ich neben Sven Harkon und seinen Schleppern einen großen Waelinger mit einer rechten Narbe an der Schläfe, der gerade im Gespräch mit Miyako und Mara vertieft war. Gerade als ich sie erreichte, schien das Gespräch beendet zu sein und der Kapitän ging an Bord seines Schiffes.
„Was hat er gesagt?“, fragte ich sogleich nach, als Miyako und Mara mich erreichten.
„Er sagte, dass er sich mit seinem Stevenmann besprechen müsse. Wir sollen später wiederkommen.“
„Stevenmann?“
„Ich weiß auch nicht, wer das ist“, brummte die KanThai.
„Wo warst du eigentlich so lange?“, fragte Mara mit geschürzten Lippen.
„Nun… ich wurde aufgehalten“, versuchte ich es mit einem Scherz, der jedoch nicht sonderlich gut bei der Elfe anzukommen schien. Der Blick, den sie mir zuwarf, war eindeutig vorwurfsvoll, wenn nicht sogar enttäuscht.
Wir besprachen das Thema nicht weiter, sondern besorgten stattdessen für Mara passende Kleidung für eine Reise nach Waeland. Das notwendige Gold bezahlten wir, war es doch für uns vergleichsweise wenig, während die Elfe derzeit nicht viel Geld bei sich hatte. Als sie jedoch noch auf besonders schöne Stiefel bestand, ließen wir sie selbst zahlen.
„Stammst du aus hohem Hause, dass du darauf solchen Wert legst?“, frage Miyako interessiert nach.
„Nein, das ist lediglich meine Eitelkeit. Ich komme zwar aus einer angesehenen Familie aus einer der elfischen Städte im Broceliande, aber wir spielen keine Rolle in der Politik unseres Volkes. Ilfarin, woher kommst du eigentlich?“
„Ebenfalls aus Alba, allerdings lebte ich die meiste Zeit eher am Rande des großen Broceliande.“
„Ah, vom Rande, da hattest du wohl viel Kontakt mit Menschen? Das erklärt wohl deinen… nun, uneingeschränkten Kontakt zu ihnen!“, zog Mara ihre Schlussfolgerung mit einem weiteren Seitenhieb auf meine kürzliche Eskapade. Wenn sie wüsste, wie falsch sie damit lag…
„Hm, es könnte womöglich sein, dass ich einen falschen Eindruck erweckt habe“, gestand ich der Elfe zumindest zu, blieb allerdings hinsichtlich einer Aufklärung vage. „Womöglich wird sich das noch zeigen.“
Nachdem wir den Einkauf erledigt und eine Mahlzeit im Goldenen Apfel eingenommen hatten, kehrten wir zur Wogenwolf zurück, wo uns Sven Harkon zu erwarten schien.
„Was hat Eike Gunderson beschlossen?“, fragte Miyako nach kurzem Gruß nach.
„Ihr könnt mit. Wir werden einen Zwischenhalt einlegen“, erklärte der Bootsmann.
„Was wird uns das kosten?“
„Zwei Goldstücke pro Tag, wir werden ungefähr zwanzig Tage brauchen. Ihr könnt jetzt zahlen oder ihr arbeitet auf der Reise. Dann gibt’s vielleicht einen Nachlass.“
„Das klingt vernünftig. Ist die Nahrung miteinbegriffen?“, hakte Mara nach.
„Natürlich nicht! Aber ich kann euch etwas besorgen… das kostet dann sieben Goldstücke pro Tag.“
„Für uns alle?“
„Quatsch, für einen.“
Nachdem wir uns kurz stirnrunzelnd angeblickt hatten, verkündete Miyako: „Wir werden uns da selbst etwas organisieren. Wann brechen wir auf und bis wann soll unsere Verpflegung hier sein?“
„Wir reisen in drei Tagen ab. Es wäre gut, wenn ihr das Essen gut verpackt einen Tag vorher vorbeibringt, damit wir es gescheit verstauten können.“
„Das werden wir tun. Auf bald“, verabschiedeten wir uns von Sven und kehrten zurück zum Goldapfel. Dort konnten wir deutlich preiswerter immer noch hochwertige und haltbare Verpflegung bestellen. Auf unsere Bitte hin, veranlasste der Wirt zudem, dass die kleinen Fässer von einem Knecht zur Wogenwolf gebracht werden würden. Auch hier mussten wir wieder für Mara vorlegen und ich befürchtete allmählich, dass auch ich nicht mehr lange so reich war, wie ich gedacht hätte.
Damit waren unsere Vorbereitungen abgeschlossen und wir konnten die nächsten Tage nutzen, um noch etwas mehr zu Waeland in Erfahrung zu bringen. Da fiel uns der Rat des Hafenaufsehers wieder ein und wir beschlossen, am Abend die Mannschaft der Wogenwolf abzupassen – sicherlich würden sie eine Kneipe aufsuchen. Bei einem Bier für die Waelinger und etwas weniger Alkoholischem für uns würde uns der Skalde Egil Silberzunge sicherlich einiges über seine Heimat erzählen können.
Wir erwischten bei einbrechender Dämmerung genau den richtigen Zeitpunkt, als sich die Mannschaft der Wogenwolf geschlossen auf den Weg machte, um eine Kneipe aufzusuchen. Wir traten hinzu, grüßten Kapitän Eike Gunderson und auch Sven Harkon und schlossen uns der Gesellschaft an. Die Männer wirkten weder begeistert noch abgeneigt und gingen weiter ihrem üblichen Trott nach.
In einer Schenke unweit des Piers angekommen, verteilte sich die Mannschaft entlang der Theke und an verschiedenen Tischen. Der Kapitän saß an einer langen Tafel und neben ihm ein scheinbar jüngeres Abbild seiner selbst, der wohl der Sohn war, den wir suchten.
„Seid Ihr Egil Silberzunge?“, sprach ich ihn an, während wir vier uns zu ihm setzten.
„Ja, das bin ich!“, bestätigte der Mann, wobei sich sein Gesicht aufhellte. „Ihr kennt mich?“
„Durchaus, wir haben bereits von Euch gehört. Ihr sollt ein sehr guter Skalde sein, wurde uns vom Hafenaufseher berichtet!“
„Der Hafenaufseher? Nun, ich wünschte lieber, eine dralle Maid hätte mich erwähnt. Ha!“, bei den Worten schlug er mir kräftig auf den Rücken. „Aber ja, ich bin Egil Silberzunge, Skalde, Geschichtenerzähler und Barde!“
„Könntet Ihr eine Eurer Geschichten vortragen?“, fragte ich neugierig. „Meine Gefährten und ich kennen Waeland kaum, da wäre es für uns sehr spannend, mehr über Eure Heimat zu erfahren.“
„Ihr vier wollt eine Saga hören? Hm, ich glaube das funktioniert nicht. Die Sagas werden stets in Waelska verfasst, unserer Muttersprache. Und selbst wenn ihr die verstehen würdet… wir benutzen viele Anspielungen und bestimmte Stile, die euch gar Nichts sagen würden“, erklärte Egil fachmännisch. Doch nichtsdestotrotz wirkte er nun recht angetan von uns und ich begann, ihn nach seiner Heimat zu fragen. Insbesondere bat ich ihn, uns vor Zweideutigkeiten zu warnen, die uns im Hohen Norden schneller auf einen Scheiterhaufen oder dergleichen brachten, als uns lieb war.
„Nun, wo fange ich an… also zunächst einmal will ich klar machen, dass wir Waelinger einen schlechteren Ruf in der Welt haben, als wir verdient haben! Wir sind sehr gastfreundlich, weswegen ihr gar keine große Angst vor der Reise zu haben braucht. Nur bestehlt Niemanden oder tötet gar jemanden! Aber das versteht sich wohl von selbst.“
„Wie sieht es mit den Stämmen aus in Waeland? Welche gibt es und welche Beziehungen habt ihr zueinander?“
„Nun, wir – die Mannschaft der Wogenwolf – wir sind Godren. Wir sind zumeist Händler und die gastfreundlichsten unter den Waelingern. Bei den Aegliern solltet ihr dann doch mehr aufpassen. Sie sind mit ihren Vidhingfahrten für unseren schlechten Ruf in der Welt verantwortlich, würde ich sagen. Die meisten von ihnen sind wirklich Räuber! Also fast alle, aber sagt das nicht unserem Stevenmann. Der ist auch Aeglier, aber vollkommen in Ordnung. Dann gibt es noch die Freden. Sie stellen den Jarlkunr, den König der aller Stämme. Der vierte große Stamm sind die Veidaren. Sie leben am nördlichsten und haben keine Siedlungen wie wir anderen, sondern ziehen stetig umher.“
„In welcher Beziehung stehen die Stämme zu diesem König der Freden?“
„Er ist der König aller Stämme! Jeder Stamm hat mehrere Jarls, welche einen Hökjarl wählen, der die Geschicke seines Stammes bestimmt. Und diese Hökjarl unterstehen dann dem König, wenn es um große Fragen oder Bedrohungen für Waeland geht.“
„Interessant. Ah, dein Vater erwähnte den Begriff ‚Stevenmann‘. Was bedeutet das?“
„Ein Stevenmann ist der strategische Berater an Bord eines jeden Schiffes. Auch unsere Handelsschiffe kommen nicht ohne einen aus.“
„Dann ist also auch ein jedes Handelsschiff gewissermaßen ein Kriegsschiff“, dachte Miyako laut.
„Ich würde sagen, wir sind immer bereit“, bekundete der Skalde, wobei er einen tiefen Zug aus seinem Bierkrug nahm, als würde das seine Aussage unterstreichen.
„Nun sag, Egil, wie haltet ihr es mit der Religion in Waeland?“, fragte ich weiter.
„In meiner Heimat glauben wir an andere Dinge, als die Menschen um das Meer der Fünf Winde herum. Unsere Götter sind mehr wie legendäre Menschengestalten, welche einst oder immer noch über den Boden Midgards wandeln! Wir ehren sie und hoffen, dass wir dafür ihre Gunst erhalten – und ihren Zorn auf unsere Feinde entladen. Es gibt einige Götter, die besonders mächtig sind und die meiste Ehrung erfahren. Da sind die drei Brüder Vidar, Fjörgynn und Asvargr. Asvargr ist der feurige Kriegsfürst, Fjörgynn der Lebensspender und Vidar, der Älteste der drei, ist der Herrscher aller Götter. Sein ärgster Widersacher ist Trynn, der Herr von Zwietracht und Neid. Dann wäre da noch Wyrd, die Tochter Vidars. Sie besitzt die Gabe der Vorausschau und lehrt die Heilkunst. Ein weiterer ist Kjull, der Listenreiche. Er bedient sich gerne der Zauberei und treibt häufig seinen Schabernack mit allen Parteien des Pantheons.“
„Eine faszinierende Auswahl. Sind die Priester dieser Götter streng organisiert, wie etwa die Kirgh in Alba?“, hakte ich nach.
„Das wohl nicht. Es gibt reisende Orakel, die uns die alten Geschichten und Gebote lehren – doch es ist in der Verantwortung eines jeden Einzelnen nicht den heiligen Zorn auf sich herab zu beschwören. Sollte es religiöse Streitfragen geben, so können die Priester diese klären. Aber auch unsere Jarl sind dazu berechtigt.“
„Du sprachst von Kjull als einem Gott der Zauberei. Was haltet ihr Waeländer denn von Magie?“
„Wieso? Bist du ein Zauberer?“, fragte Egil etwas argwöhnisch, was mich bereits aufmerken ließ.
„Ich bin zunächst daran interessiert, nicht das falsche zu sagen, sodass ich einen vorschnellen Tod vermeiden kann“, erwiderte ich vorsichtig.
„Dann sprich das Thema lieber nicht an. Ich bin da etwas offener als die meisten, daher können wir darüber sprechen. Andere werden euch jedoch womöglich schneller als ihr es wollt als Seidwirker, also Schwarzmagier, verdächtigen. Daher lasst lieber Vorsicht walten“, mahnte Egil mich freundlich, aber eindringlich.
Da stand plötzlich einer der Waelinger von der Theke auf und rief laut, wenn auch etwas verwaschen einige Worte in Waelska. Fragend blickten Miyako und ich zu Mara, die es rasch übersetzte: „Er fragt, ob jemand auf eine Reise geschickt werden will.“
Das erhellte uns nicht wirklich, allerdings schien ein anderer aus der Mannschaft die passende Antwort zu kennen: er stand auf und schlug dem bereits vom Alkohol taumelnden Mann mitten ins Gesicht. Der setzte sich zur Wehr und der Rest der Mannschaft, einschließlich Eikes und Egils, begann rhythmisch mit den Fäusten auf dem Holz der Tische zu trommeln und die beiden laut anzufeuern. Es dauerte nicht lange, dann bekam derjenige, der die Sache herausgefordert hatte, einen weiteren Treffer im Gesicht ab und kippte hintenüber. Der andere lachte laut, packte einen nahestehenden Krug Bier und verschlang den Inhalt in einem Zug. Die Waelinger johlten laut und klatschten zum Ende hin noch einmal so kräftig auf die Tische, dass der Wirt hinter dem Tresen kurz erblasste. Dann setzte sich der Gewinner des Zweikampfes wieder und die Mannschaft widmete sich wieder ihren Bierkrügen. Ich beugte mich auf meinem Stuhl etwas nach hinten und warf einen kurzen Blick auf den Besiegten. Der war zwar ohnmächtig und blutete aus der Nase, aber nicht wirklich verletzt. Daher wandte ich mich wieder Egil zu und fragte, wie der Stevenmann hieß. Der Aeglier könnte uns womöglich etwas über Usegorm erzählen.
„Sneifir Boldafjörd ist sein Name. Aber er spricht nur Waelska, also macht euch da keine Mühen. Der Gesprächigste ist er auch nicht. Aber ich kann euch auch etwas über Usegorm erzählen. Das Dorf, oder nein, schon eher eine Stadt fällt in der Tat in das Gebiet der Aeglier. Die meisten Menschen dort sind recht jung, so wie wir. Viele heuern für Vidhingfahrten an, für die Usegorm ein beliebter Ausgangspunkt ist.“
„Hm. Du hast nicht zufällig schon einmal etwas von der Goldenen Schildmaid gehört?“
„Oh doch! Ich meine mich erinnern zu können, dass einmal ein anderer Skalde eine Saga über die Fahrten der Goldenen Schildmaid vorgetragen hat.“
„Eine Saga sogar? Dann muss das Schiff ja eine Berühmtheit sein“, schätzte ich, überrascht, dass Egil bereits etwas davon gehört hatte.
„Sie scheint zumindest weit herumgekommen zu sein, es wurde viel über ihre Reisen erzählt. Es muss ein verdammt schnelles Schiff sein, das angeblich bereits einen Kontinent umrundet und durch alle Weltmeere gesegelt ist. Wenn ihr etwas Genaueres wissen wollt, müsst ihr aber einen anderen Skalden fragen.“
„Danke, das ist schon etwas… ach, eine Frage habe ich noch: wie stark ist die Hierarchie eurer Gesellschaft? Es gibt die Jarls und weitere Adelige, aber gibt es auch Unfreie, Fronarbeiter oder dergleichen?“
„Wir Waelinger sind frei und folgen uns selbst!“, verkündete Egil stolz. „Da gibt es nur die Jarls, aber die können auch nicht machen, was sie wollen, wie so mancher Adeliger in Vesternesse. An die Selbstbestimmung eines Waelingers wird keine Hand gelegt.“
Ich nickte erstaunt, wenn auch nicht gänzlich überzeugt, da hakte Mara sich in das Gespräch ein: „Und wie sieht es mit den Frauen in eurer Heimat aus?“
„Die Frauen? Sie sind uns Männern ebenbürtig, manche ziehen auch mit in die Schlacht. Natürlich steht es aber auch jeder Frau frei, sich unter den Schutz eines Mannes zu stellen. Wir ehren sie stets, das müsst ihr wissen!“, bekundete Egil, scheinbar eifrig bemüht, Mara ein schönes Bild seiner Heimat zu malen. Allerdings fügte er auch eine Prise ehrlicher, dunkler Wahrheit hinzu: „Bei den Aegliern sehen das aber wohl nicht alle so. Man kennt da ja düstere Geschichten von ihren Raubzügen. Überfälle, Plünderungen und was sie Frauen antun.“
„Und Elfen?“
„Elfen? Tja, die spielen bei uns eigentlich keine Rolle. Wenn welche von ihnen bei uns leben, dann als Einzelgänger; die meisten reisen doch eher nur durch. Es gibt zwar Geschichten, mal gute, mal schlechte, aber ob die jemanden wirklich scheren, das glaube ich kaum.“
„Ich habe von einem Elfenvolk des Nordens gehört“, erklärte Mara dann. „Die Askiälbainen.“
„Die Eiselfen? Ja, da gibt es Geschichten. Sie sollen dereinst im Krieg gegen das EIS verwickelt gewesen sein. Die Legende besagt, dass sie in der letzten Schlacht vom Frost eingeschlossen worden sind und seitdem von der Welt abgetrennt sind. Den Kampf gegen die Thursen haben sie damit wohl verloren. Allerdings habe ich noch einen dieser Eiselfen gesehen und ich weiß nicht, wie viel Wahrheit hinter dieser Erzählung liegt.“
„Thursen?“, fragte ich nach.
„Die Riesen des Nordens, die Diener des EISes. Oder sie gebieten über das EIS, das weiß keiner so genau. Gegen so einen zu kämpfen… das wäre mal eine wahre Heldengeschichte wie aus den alten Tagen. Vielleicht kann ich euch noch mehr dazu erzählen, wenn unsere Reise begonnen hat. Es ist eine lange Geschichte, die in dutzenden wenn nicht hunderten Sagas erzählt werden kann.“
„Das würde mich freuen. Es klingt nach fesselnder Geschichte“, erklärte ich mein Interesse.
Egil nickte, dann schien ihm noch etwas einzufallen: „Ach, was ich noch vergessen habe: du fragtest ja nach Dingen, die missverstanden werden können. In Waeland gibt es einen ausgeprägten Sklavenhandel, wir Godren sind daran reichlich beteiligt, wenn auch nicht unsere Mannschaft persönlich. Ich hoffe ihr habt damit keine großen Probleme und selbst wenn, wäre es besser, wenn ihr den Kloß hinunterschluckt. Versteht das als freundlich gemeinten Ratschlag.“
So viel zur „freien“ waelischen Gesellschaft, dachte ich mir säuerlich, behielt es aber für mich. Sklaverei war ein Übel, das durch sämtliche menschlichen Kulturen zu fließen schien, auf die eine oder andere Weise. Auch Mara wirkte nicht gerade glücklich, verstand es aber ebenso, ihre Meinung zurückzuhalten, wenn sie zu äußern doch keinen Nutzen einbringen konnte. Durch einen Disput in einer candranorischen Hafenkaschemme mit einem angetrunkenen Waelinger würde man sicherlich nicht die Welt verändern. Und selbst wenn wir im Norden ankamen, war es doch fraglich, ob wir dort – als Fremde – Einfluss nehmen konnten.
Allmählich war der Abend lang geworden und schließlich machte sich die Mannschaft der Wogenwolf auf den Weg zurück zu ihrem Schiff. Den daniederliegenden Waelinger päppelten sie grob wieder auf. Mit zwei Augen, die in verschiedene Richtungen starrten, erwachte der Mann und schaffte es irgendwie seinen Freunden zu folgen. Wir verabschiedeten uns von Egil und den anderen und kehrten heim in den Goldenen Apfel, wo wir rasch zu Bett gingen.
Drei Tage später fanden wir uns morgens auf der Wogenwolf ein. Wir vier und Maglos gingen an Bord des Schiffes und die Waelinger warteten nicht mehr lange, bis sie Segel setzten und uns zugleich mit kräftigen Ruderschlägen hinaus aufs offene Meer brachten. Wieder einmal hieß es Candranor hinter uns zu lassen und auf eine Reise aufzubrechen, deren Ende ungewiss war.
Sobald die Küste außer Sicht geraten war, stellte sich Eike Gunderson auf eine Kiste und hielt eine kurze Rede, die Mara für uns übersetzte.
„Männer! Es geht ab nach Hause! Wir haben viel geschafft in den letzten Wochen und das Schiff voll mit Waren, die wir gut verkaufen können! Es geht nach Hause, wo wir wieder Met trinken und mit unseren Frauen feiern können. Zwanzig Tage noch, dann haben wir es geschafft. Es wird nur einen Zwischenhalt in Usegorm geben, wo wir unsere Gäste rauslassen, aber dann geht es mit voller Fahrt nach Boras. Es wird alles glatt gehen, dessen bin ich mir sicher. Die Rote Rotte wird uns nicht erwischen, ha!“
Die Waelinger antworteten wie ein Mann mit einem tiefen „Huh!“. Dann gingen sie wieder an die Arbeit, während wir zunächst noch einmal auf Eike zugingen. Mara übernahm es zu fragen: „Wer ist denn die Rote Rotte?“
„Das ist ein Aeglierschiff. Die machen vor gar Nichts halt und werden auch uns Waelinger überfallen, wenn sie fette Beute riechen. Ich hoffe, dass uns das erspart bleibt.“
„Das wünsche ich auch. Welche Arbeit sollen wir nun an Deck übernehmen?“, fragte ich.
„Ihr könntet rudern, Taue sortieren… oder“, fügte er hinzu, als er bemerkte, dass ich weniger für die groben Arbeiten an Deck geeignet war. „dem Koch aushelfen.“
Mara übernahm es, bei den schwereren Tätigkeiten auszuhelfen, was dem einen oder anderen Waelinger einen neugierigen Blick abtrotzte. Ich ging stattdessen in die Kombüse und half dem Koch dabei, das Essen zuzubereiten. Es handelte sich bei ihm um denselben, der in der Kneipe jemanden hatte auf Reise schicken wollen – nur um dann selbst auf den Planken zu landen. Sein Name war Orm und er hatte ein übles Schlappmaul, aus dem kein Satz ohne einen Fluch oder eine Beleidigung drang. Ich lernte binnen des ersten Tages, ihm nicht länger zuzuhören, als ich es für die einfache Arbeit brauchte. Miyako indes suchte sich einen ruhigen Ort an Deck und erachtete es offensichtlich als unter ihrer Würde, hier zu arbeiten.
Die ersten vier Tage stellte sich die übliche Routine einer Seefahrt ein, wobei ich diesmal zumindest etwas zu tun hatte. Wir fuhren über die offene See nordwärts auf Waeland zu, während das endlose Meer um uns herum unverändert blieb. In den Pausen, die ich hatte, spielte ich mit Maglos, um dem armen Hund zumindest etwas Beschäftigung zu geben. Es war eine dieser Pausen, da beobachtete ich ein Gespräch zwischen Orm und einem weiteren Matrosen. Plötzlich brüllte der andere Waelinger auf und schlug dem Smutje, wieder einmal, mitten ins Gesicht. Es entwickelte sich eine weitere Schlägerei, während der sich auch Mara neugierig hinzugesellte.
„Was hat der Mann zu Orm gesagt?“
„Das Essen hat ihm nicht geschmeckt. Daraufhin hat der Koch irgendwie seine Mutter beleidigt. Dann ging die Schlägerei los.“
Während wir sprachen unterlag Orm, woraufhin die Männer allesamt ein Wort immer und wieder brüllten. Fragen blickte ich zu Mara, die zwar übersetzte, aber genauso ratlos wirkte wie ich: „Sie rufen ‚Schleppanker‘.“
Die Mannschaft holt den Anker des Schiffes an Deck und banden den Koch daran fest. Anschließend ließen sie den Mann mitsamt seinem schweren Gewicht hinab. Das schien mir doch schon etwas mehr als ein grober Spaß zu sein und besorgt blickte ich an der Reling hinunter, wo ich Orm erblickte. Die Männer hatten den Anker gerade soweit hinabgelassen, dass die Beine des Smutjes im Wasser schleiften, während sein an den Anker gebundener Oberkörper mitgeschleift wurde. Das Gesicht des Waelingers verriet einige Schmerzen in dieser unangenehmen Situation.
Doch ehe es notwendig wurde, einzuschreiten, holten die Waelinger ihren Koch wieder an Bord und schienen ihm wohl noch einmal einzuschärfen, dass er sich fortan gefälligst mehr Mühe geben sollte. Ich schluckte schwer und hoffte, dass nicht sonst ich das nächste Mal „geschleppankert“ werden würde. Dieses Volk war in der Tat grober und rauer, als ich es gewohnt war und selbst in dem so wenig verratenden Blick Miyakos erkannte ich eine Mischung aus Belustigung und pikierter Verachtung.
Es war der Abend des achten Tages, während wir mit der Mannschaft zusammen an Deck saßen und gemeinsam aßen, da begann Gorm eine Geschichte zu erzählen. Er war schon etwas älter; wohl der typische Seebär auf den kein Schiff verzichten durfte. Mara übersetzte wieder für Miyako und mich, während Ricardo sich bereits etwas früher zurückgezogen hatte.
„Wisst ihr, Jungs, wir passieren in drei Tagen eine düstere Stelle im Meer, nicht weit weg von der Küste. Oft sind wir da schon lang gefahren, doch nie zu genauer dieser Zeit. Es gab eine Schlacht dort, vor mehr als dreihundert Jahren. Aeglier kämpften dort gegen Freden, beide mit gewaltigen Aufgeboten an Schiffen und Männern. Die Kriegstrommeln habe man bis nach Runsgard gehört und das Wasser hat sich durch das Blut der Gefallenen auf ewig dunkel gefärbt. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als die Herrschaft über Waeland, es war die Schlacht um den Jarlkunr, den König aller Jarl! Wie ihr alle wisst, verloren die Aeglier diese Schlacht und seit jenem Tage stellen die Freden den Herrscher. Doch es war ein blutiger Sieg, ein grausamer. Hunderter furchtloser Seemänner sind zugrunde gegangen. Und nicht alle haben den Weg nach Tyggrgard gefunden. Ihre rastlosen Seelen sollen von Helja verdammt worden sein, sich jedes Mal aufs Neue zu erheben, wenn sich die Schlacht jährt. Und das meine Freunde, wird in drei Tagen zum 322. Mal der Fall sein – gerade dann, wenn wir jene dunkle Stelle im Wasser passieren. Man wird den Hörnerklang hören, das sage ich euch!“
Gorm lehnte sich zurück und ließ glücklich den Blick über die gestandenen Männer schweifen, die sich nun einige unsichere Blicke zuwarfen, dann setzte er mit einem schallenden Lachen hinzu: „Natürlich nur, wenn man solche Geschichten glauben mag!“ Der eine oder andere stimmte verhalten in das Lachen des Seebärs ein, um zu beweisen, dass sie sich nicht ängstigten, während er plötzlich wieder ernst wurde und abschließend raunte: „Aber hört auf meine Worte, wenn wir den Hörnerklang hören…“
Schließlich winkten die meisten der Mannschaft ab und ließen Geschichte Geschichte sein. Auch wir Gäste an Bord des Schiffes, maßen Gorms Erzählung nicht mehr als neugieriges Interesse bei. Den Zeitpunkt nutzte ich jedoch, um Egil auf die Thursen und die lang vergangenen Riesenkriege anzusprechen.
„Diese Geschichte berührt das Volk der Zwerge tiefer als alle andere, doch auch wir haben unsere Art und Weise davon zu erzählen. Es gibt Sagas, die euch nicht vortragen kann, aber ich gebe mein Bestes, um zu berichten, was dereinst geschehen ist.
Es waren die Zwerge, welche immer weiter und weiter nach Norden vordrangen, um dort das legendäre Eisen zu finden, das vom Himmel herabgekommen war. In ihrer legendären Stadt Kuz Alhadur schmiedeten sie die mächtigsten Waffen, die Midgard wohl jemals zu Gesicht bekommen sollte. Doch sie entdeckten im hohen Norden mehr als Reichtum – dort, in so weiter Ferne, entdeckten sie ein Land, das fest in der Hand von Eis und Schnee war. Ein fremdes Land, das von finsteren Mächten beherrscht wurde: den Thursen. Diese gewaltigen Eisriesen, die mächtiger und auch listiger sind, als alles, was ihr kennt, gewahrten ihre neuen Nachbarn im Süden. Ihre Gier erwachte; die Gier nach Reichtümern aber auch nach Herrschaft und der Knechtschaft all derer, die schwächer waren als sie selbst. So begannen die finsteren Mächte Thurisheims ihren Krieg gegen Midgard. Doch sie kamen nicht nur mit roher Gewalt und auch hinterhältige Listen waren nicht alles, was sie hatten. Sie kamen mit finsterer Hexerei; wahrer, abscheulicher Magie – sie brachten das EIS. Kein Reif, kein Frost oder Schnee, wie wir ihn aus unserer Welt kennen. Dieses EIS war der reine, erstickende Tod. Wo es das Land besetzte, gab es Nichts mehr, wovon man leben konnte und man konnte froh sein, wenn man fliehen konnte. Gegen die Thursen, ihre Knechte und das EIS führten die Zwerge mit all ihren Verbündeten einen verzweifelten Krieg, in dem es um nicht mehr und nicht weniger als das Fortbestehen ihres nördlichen Königreiches ging – ja, sogar um das Fortbestehen des Nordens an sich. Auch Menschen waren an dem Konflikt beteiligt, viele flohen auch in südlichere Gefilde. Weg vom EIS.
Auch die Elfen wurden gerufen und es waren jene Askiälbainen von denen ihr gesprochen habt, die dem Ruf folgten. Ein Bündnis gegen das EIS, doch es schien aussichtslos. Kuz Alhadur ging verloren, die Macht der Zwerge gebrochen. Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte lang wütete der Krieg im Norden. Schließlich jedoch war es Dvari Nagelschwert, der größte aller zwergischen Könige, der durch eine Heldentat nach der anderen die Thursen zurückdrängte. Bis er schließlich gemeinsam mit dem Gipfelkind sowie dessen geflügelten Begleitern gegen den letzten großen Thursenhexer Farbauti kämpfte und diesen niederwarf.
Als Farbauti in seinem Blute vor ihm lag, zog sich das EIS endlich zurück. Doch das nördliche Königreich der Zwerge war am Ende, sodass ihnen heute nur noch Dvarheim geblieben ist. Die Eiselfen gingen in den Resten des EISes verloren, das sich niemals gänzlich aus Midgard zurückziehen wollte. Und auch von uns Menschen wagen sich nicht mehr viele nördlich unserer Heimat in Waeland. Es ist totes Land, wo das EIS regiert und es gemahnt uns, dass Thurisheim noch immer da oben ist. Und so manches Mal wandelt auch einer der Eisriesen an der Grenze unserer Welten und sucht nach Knechten für seine Heimat.“
Damit endete Egil Silberzunge und es blieb eine seltsame Mischung dutzender Gefühle, die von tiefer Melancholie und Trauer bis feurigem Eifer, Mut und einem seltsamen Hauch schicksalhafter Erfüllung reichten. Was mochte von dieser mit Versatzstücken aus Sagen und Mythologie versehenen Geschichtsüberlieferung stimmen? Ob diese beiden Stränge überhaupt zu trennen waren, stellte sich überdies in Frage.
Unsere Reise setzte sich fort und bald passierten wir die Inseln Svikar, Dramur und Geafr. Sie waren die größten und wichtigsten der Hjalta-Inseln – den äußersten Vorläufern des albischen Königreiches. So nah an der waelischen Küste verwunderte diese Zugehörigkeit doch, aber ich ersparte es mir, allzu genau mit den Waelingern darüber zu sprechen. Mehr überlegte ich indes, was wohl aus Caileass geworden war. Es waren ebenjene Inseln an deren Küste er gespült worden war; damals nach dem Sturm, der uns zwischen Deorstead und Haelgarde erwischt hatte. Ob der Glücksritter noch immer hier war? Es würde mich wundern, war er doch genauso eine Wanderseele wie wir anderen gewesen.
Unmittelbar an die Hjalta-Inseln schlossen sich auch andere waelische Inseln an, auf denen sich zwei Vulkane regten. Sie waren aktiv und verströmten stete, wenn auch dünne, Rauchfäden, die sich gen Himmel reckten. Ich hatte nicht gewusst, dass sich hier Pfade ins Herz der Welt gruben und war umso faszinierter von dem Anblick, der sich uns bot.
Daran waren wir jedoch auch bald vorüber und es kam der elfte Tag der Reise – und jener verheißungsvolle Abend, den Gorm angekündigt hatte…
Nebel zog auf während die Sonne allmählich am Horizont verschwand. Es dauerte nicht lange, da hatte uns eine intensive, undurchdringliche Dunkelheit umfasst. Die Stimmung an Deck wirkte wie eingefroren. Gespräche waren erstorben und die Ruderer ließen mit jedem Schlag weiter nach, während die Unsicherheit wuchs. Verstohlene Blicke über die Reling und ein Kapitän, der bei seinem Steuermann stand und selbst misstrauisch in den Dunst starrte. Da erschallte aus der Ferne das laute Dröhnen eines Kriegshorns! Die Worte Gorms waren allen noch im Gedächtnis: die lang vergangene Schlacht, die unruhigen Toten…
In einiger Entfernung konnten Mara und ich es als erste ausmachen: ein Blubbern im Wasser. Es wirkte wie ein Brodeln und zwischen den Nebel wallte daraus weiterer, unwirklicher Dunst. Wir fuhren genau darauf zu! Hastig lief ich zu Eike Gunderson: „Kapitän, da vorne, seht Ihr das Brodeln im Wasser?“
„Ja!“, hauchte der Waelinger und sagte leise, wenn auch bestimmt: „Ruder halt!“ Und die Männer hielten, die Wogenwolf kam zum Stehen.
„Ich vermute vulkanische Aktivität“, gab ich meine Meinung kund.
„Bist du ein Naturkundler?“, blickte mich Eike etwas überrascht an.
„Sagen wir, ich habe einige Kenntnisse über die Natur. Es erscheint mir zumindest nicht unwahrscheinlich.“
„Dann danke ich dir“, brummte der Waelinger, einigermaßen überzeugt. Als langsam der Schwefelgeruch aufstieg und uns allesamt die Gesichter verziehen ließ, war meine Theorie bestätigt und wir warteten ab, bis sich das Meer und vor allem der unterseeische Vulkan beruhigen würde – oder zumindest der Nebel so licht war, dass man die Stelle umfahren konnte.
Doch dann näherte sich uns ein Licht. Einer feurigen Kugel gleich schälte es sich durch die Finsternis einer sternenlosen Nacht, über die zudem ein dichter Nebelschleier geworfen war. Mit offenen Mündern standen die Waelinger von ihren Plätzen auf und auch Miyako, Mara und ich schritten an die Reling, um zu beobachten, was da auf uns zukam.
Die erste Kontur, die wir schließlich ausmachen konnten, war der Kopf eines Drachen. Hölzern und am Bug eines Schiffes, doch spie er dennoch Feuer. Eine sinistre Konstruktion, gemacht, um einfachen Geistern Schrecken einzujagen. Doch hätte jenes Schiff, das dem Drachenkopf folgte, dies nicht mehr gebraucht. Das Holz war dunkel verfärbt, zuweilen grünlich, und Moder hatte sich darüber hinweggezogen. Schimmel und Algen wucherten über den Rumpf hinweg, der sogar löchrig zu sein schien. Es widersprach allen Gesetzen der Natur, dass sich dieses Ding nun über das Wasser bewegte anstatt auf dem Grund des Meeres zu liegen. Zerfetzte Segel hingen reglos am Mast, während abgebrochene Ruder das Schiff auf unmögliche Weise vorantrieben.
In diesem Moment brüllte der Stevenmann laut auf: „Zu den Waffen!“
Die Waelinger packten an die Außenseite der Wogenwolf, wo ihre Schilde hingen und griffen zu den Speeren, die unter ihren Bänken lagen. Entlang der Reling stellten sie sich auf, bereit jedem zu begegnen, der einen Enterversuch wagte. Miyako, Mara und ich liefen rasch unter Deck und packten unsere Waffen, um bewaffnet wieder nach oben zu eilen. Wieder an Deck zog ich zunächst Kraft aus der Baumrinde, wodurch sich meine Haut schlagartig in Holz wandelte. Ich hoffte, dass die Waelinger im Chaos, das nahte, nicht allzu sehr auf mich achten würden, sodass die Zauberei unbemerkt blieb. Anschließend zückte ich einen Fliegenpilz und sprach einen Spruch der profanen Zauberei, welcher kurzzeitig magische Stärke durch meinen Körper jagte – und den von Mara und Miyako, die ich ebenfalls verzaubert hatte. Die KanThai war zwar keine Freundin der Magie, aber sie schien es glücklicherweise nur unterbewusst zu bemerken…
Während wir uns vorbereiteten mussten wir feststellen, dass es mehr als ein Schiff war, das sich uns näherte. Genau von der anderen Seite aus glitt ein anderes durch das nachtschwarze Wasser, ebenso modrig und faulig wie das andere. Es war widernatürlich, dass diese Dinge hier weilten; ihren lang vergangenen Tod überdauerten…
„Seht, ihre Farben sind unterschiedlich!“, bemerkte Mara. Da erkannte ich auch, dass die Totenschiffe wie die Wogenwolf Schilde an der Außenseite trugen. Und die Wappen der beiden einst waelischen Schiffe unterschieden sich.
„Freden und Aeglier… die Schlacht wird fortgesetzt“, keuchte ich, während Miyako hastig zu Eike Gunderson rief: „Wir müssen hier weg! Das ist nicht unser Kampf!“
Der Waelinger wirkte im Moment jedoch alles andere als Herr der Lage. Es war der Stevenmann, der nun das Kommando führte und die Mannschaft nahezu wie in Schildwällen an den Schiffseiten aufstellte. Doch es war nun auch zu spät und wir konnten die Bemannung der grausigen Schiffe erkennen: skelettierte und darüber hinaus verfaulte Leichname, die noch immer ihre verfallenen Rüstungen trugen und schartige wie rostige Waffen in die Luft reckten. Hätten sie noch Lungen besessen, würden ihre Kriegsrufe zweifellos durch die Nacht hallen. So blieb es bei der beängstigenden Stille und dem leeren Stieren der Totenschädel. Und sobald wir die Untoten erblickt hatten, begannen sie den Angriff. Pfeile hagelten auf uns herab, jedoch ungezielt und unpräzise – wenngleich in ausreichender Zahl um uns in die Defensive zu drängen. Sodann flogen etliche mit Haken bestücke Seile heran… und bildeten behelfsmäßige Brücken für die untote Schar.
Miyako drängt sich nach Backbord und hieb mit ihrem Langschwert auf eines der Taubündel ein, Mara tat dies Steuerbord – mit ihrem gewaltigen Bihänder. Die Elfe führte das große Schwert als wöge es so leicht wie eine Feder, was nicht nur mir sondern auch den umstehenden Waelingern einen erstaunten Blick abrang. Wenige Momente später waren die ersten Untoten von ihren Schiffen auf die Seile gesprungen und eilten in irrwitziger Geschwindigkeit über die Taue der Wogenwolf entgegen. Da, wo Mara und Miyako zugeschlagen hatten, riss die behelfsmäßige Brücke jedoch und jeweils eine Ausgeburt der meerischen Untiefen stürzte in die eisigen Fluten hinab. Doch das reichte bei Weitem nicht aus, um den Ansturm aufzuhalten.
Ich sammelte meine Kraft und sprach jene Worte, die die Konzentration des Lebens entfesselten. Binnen weniger Sekunden drang ein Kreis aus grünem Licht von mir aus in sämtliche Richtungen, um sich dann allmählicher aber bestimmt weiter auszubreiten.
Da schwangen die ersten Untote zusätzlich an Seilen aus der Takelage hinüber um sich in die Rücken der waelischen Verteidiger zu bringen. Einer davon stürzte mitten in den Ring aus grüner Magie hinein und verging noch im Flug zu Asche. Ich fragte mich einen Moment lang, was die Mannschaft der Wogenwolf zu dieser offen zur Schau gestellten Magie sagen würde – ich hoffte Nichts, immerhin rettete ich gerade ihr Leben.
Der Kampf entbrannte nun offen, als die untoten Freden und Aeglier die Verteidigung der godrischen Mannschaft aufgebrochen hatten. Nun hieß es Mann gegen Mann, wobei die Stoßspeere eine nahezu unbrauchbare Waffe gegen die skelettierten Angreifer darstellten. So stellte sich Mara gegen drei Untote gleichzeitig und ließ ihren Bihänder in weiten Schwüngen kreisen, dass sich selbst die gestandenen Seekrieger in Deckung warfen. Ein Skelett wurde indes gänzlich gespalten. Miyako nutzte die Zeit um von Tau zu Tau zu huschen und die Behelfsbrücken zu den Totenschiffen zu kappen.
Und der Ring des Lebens bahnte sich unbarmherzig und gerecht seinen Weg über das Deck. Das grüne Licht wirkte in tiefster Finsternis wie der gestaltgewordene Hoffnungsschimmer der Wogenwolf. Meter für Meter kroch es über die Planken, drängte die Untoten zurück – und jene, die nicht weichen wollten, wurden von der gebündelten Lebenskraft, die für sie mehr war als reines Gift, bis zur Gänze vernichtet.
Nach einer Minute löste sich die Magie schließlich auf, dazu hatten Mara und Miyako sämtliche Taue gekappt. Die erste Angriffswelle war zurückgeschlagen! Aber wir hörten nun das unheilvolle Schlagen von Eisen auf Holz, als die untoten Krieger der Freden und Aeglier auf ihre Schilde schlugen. Die nächste Welle machte sich bereit.
„Werft euch in die Riemen!“, brüllte Eike Gunderson mit aller Kraft und seine Mannschaft ließ ihre Waffen an Ort und Stelle fallen, um sich an die Ruder zu setzen. Es hieß, so schnell wie möglich von den beiden Geisterschiffen wegzukommen.
Da flogen die nächsten Untoten heran. Einer düsteren Welle gleich schwappten sie über die Reling, gleich drei davon standen plötzlich um mich herum und es schien mir förmlich als würden in ihren leeren Augenhöhlen ein gieriger Schimmer glänzen, als würde in dem ewigen Totenschädelgrinsen ein Hauch des Hohns liegen – nun, da sie mich umstellt hatten.
Ich entfesselte den nächsten Ring grüner Lebensmagie, der alle drei Unheilsgestalten zu Asche verwandelte, die Körper zur Ruhe schickte wo schon lange keine Seelen mehr hausten.
Aber die zweite Angriffswelle hatte uns überrumpelt. Ein Waelinger war von einem der an Seilen heransausenden Untoten mit einem Schlag an den Kopf getroffen worden. Er lag blutig an Deck und es war schwer zu sagen, ob er jemals wieder aufstehen würde. Wenige Momente später ließ einer der untoten Aeglier Miyakos ungewohnt ungelenken Angriff an seinem Schild abprallen. Der Griff des Langschwerts entwand sich ihrer Hand… und die Waffe trudelte vom Schwung getragen über die Reling in die eisigen Fluten. Über den Kampfeslärm hinweg war der laute Fluch in der fremden, fernöstlichen Sprache zu vernehmen, ehe sich die KanThai mit einem Dolch auf ihren Gegner stürzte – freilich eine ungeeignete Waffe, um Knochen zu zertrümmern.
Doch Maras behände Rundumschläge und der sich immer weiter über die Planken fräsende Ring geballter Lebensenergie drängten die Untoten zurück – sie wurden in Stücke geschlagen oder zu Asche verwandelt. Lediglich einer der Untoten widerstand dem direkten Kontakt mit der Grünen Magie; schwer gezeichnet doch nicht endgültig gebannt. Ihn erkor Miyako für ihre persönliche Rache aus und zertrümmerte den geschwächten Schädel mit einem heftigen Dolchstoß.
Und endlich war Bewegung in die Wogenwolf gekommen: mit kräftigen Ruderschläge hatte uns die Mannschaft bereits die ersten Meter vorangebracht und wir schlüpften aus der Engstelle zwischen Aegliern und Freden. Diese gingen nun aufeinander los, um dem üblen Fluch, der sie behaftete, Folge zu leisten. Verdammt zur ewigen Schlacht an jener Stelle, wo das Meer „dunkel“ geworden war. Gorms Seemannsgarn entpuppte sich als brutalere Wahrheit, als der Seebär selbst hatte ahnen können.
Ohne einen zweiten Blick zurück fuhren wir so schnell uns die Ruder treiben konnten weiter nach Norden und ließen auch bald den unnatürlichen Nebel hinter uns. Womöglich lag hinter diesem grauen Schleier ein noch größeres Grauen, als wir es gesehen hatten.
Der Waelinger, den die Axt des Untoten getroffen hatte, war tot. Ein Schlag mit vollem Schwung geführt hatte seinen Schädel gespalten und so blieb Nichts, außer ihn für eine Seebestattung vorzubereiten. Ich versorgte währenddessen diejenigen aus der Mannschaft, die Wunden davon getragen hatten. Doch es waren nicht viele, da die Grüne Magie viele Untote rasch vernichtet hatte. Die Waelinger schwiegen zu dieser Tatsache und ich war so weise, es nicht anzusprechen. An dieser Stelle hatte ich kein Problem mit ihrem gesunden Pragmatismus – darüber hinaus ihre grundsätzliche Haltung in Zweifel zu ziehen, hätte mich aber mit Sicherheit über Bord gebracht.
Miyako bemerkte nach dem Kampf, dass sich im Besitz Maras auch ein Langschwert befand. Etwas betreten näherte sie sich der Elfe und bat sie darum, ihr die Klinge auszuleihen, was natürlich kein Problem darstellte.
Die weitere Reise gestaltete sich wieder deutlich ruhiger. Am 15. Tag verloren wir die Inseln aus dem Blick und am 18. War es schließlich so weit, dass wir die waelische Küste ansteuerten. Wir fuhren in einen der Fjorde, wobei seine Flanken nicht so steil abfielen, wie wir dies andernorts gesehen hatten. Es lag bereits Schnee und ein kühler Wind pfiff um unsere Ohren, während wir auf dem Wasser einige Eisschollen treiben sahen, die bis zum späten Frühling nicht mehr schmelzen würden. Weiter im Norden würde man besondere Schiffe benötigen, um durch das Packeis zu kommen, wie Gorm uns Fremden erzählte.
Dann, am Ende des Fjords, lag Usegorm vor uns. Die Stadt zog sich am Ufer entlang und am Pier lagen bereits einige Schiffe vor Anker, die allermeisten davon im typischen Baustil. Und es waren nicht die kleinsten Schiffe; vor so manchem dieser Kriegsschiffe mochten sich sicherlich auch chryseiische Galeeren fürchten. Die Stadt selbst bestand zum allergrößten Teil aus Holzbauten, die zunächst äußerst massiv wirkten, da die Waelinger für sie zu großen Teilen ganze Baumstämme benutzt hatten. Als wir uns später jedoch einige Häuser näher betrachten konnten, erkannten wir die zahlreichen hineingeschnitzten Verzierungen, die von der hohen Kunstfertigkeit der Waelinger zeugten. Abgeschlossen wurde Usegorm zur Landseite hin mit einer hohen Holzpalisade. Man konnte ungefähr schätzen, dass sich hier etwa viertausend Seelen heimisch fühlten.
Die Wogenwolf landete am Pier an und wurde sorgfältig vertäut. Mara, Miyako, Ricardo und ich holten unser Gepäck und bezahlten die Überfahrt bei Eike Gunderson.
„Könnt Ihr uns ein Gasthaus empfehlen?“, fragte Miyako den beistehenden Egil Silberzunge.
„Es gibt ein ganz gutes, das euren Ansprüchen sicherlich gerecht wird. Geht zum Marktplatz und sucht dort nach einem Langhaus mit einem Schild davor. Davon gibt es nur eins, das werdet ihr als Gasthaus erkennen.“
„Wohin werdet Ihr nun weiterreisen?“, wandte ich mich an den Kapitän.
„Eine Nacht werden wir hier verbringen und erstmal wieder ordentlichen Met trinken. Dann geht es weiter in unsere Heimat nach Boras, das Zentrum unseres Stammes.“
„Dann wünschen wir euch allen noch eine ruhige Reise“, verabschiedete ich mich und wir verließen die Wogenwolf.
Auf dem Weg zum Gasthaus fiel uns auf, dass Usegorm tatsächlich so war, wie Egil es ein einmal beschrieben hatte: recht jung. Es schienen zumeist Waelinger zu sein, die wohl auch auf den Schiffen anheuerten und nun eine Wartezeit bis zur nächsten Vidhingfahrt einlegten.
Am Marktplatz angekommen fanden wir recht schnell das Gebäude, das uns Egil Silberzunge beschrieben hatte – und prompt stolperten zwei mächtig betrunkene Männer aus der Tür und mühten sich Arm in Arm über den Platz. Mehr als einen gleichgültigen Blick schienen sie von keinem zu erhalten und auch wir wunderten uns nicht mehr über die waelische Kultur. Ohne weitere Umschweife betraten wir das Gasthaus, wo wir uns mit dem Wirt besprachen. Mara übernahm das Reden, da sie Waelska sprach und somit vielleicht etwas Wohlwollen erregen konnte. Wir erfuhren, dass es nur große 8-Bett-Zimmer gab. Aus Angst, ausgeraubt zu werden, beschlossen wir ein solches komplett für uns vier und Maglos zu beziehen. Es war dennoch nicht teuer, was wohl auch daran lag, dass es keine Küche gab. An Verpflegung besaßen wir allerdings noch unsere Vorräte aus dem Goldenen Apfel, sodass dies für uns kein Problem darstellte.
Mit dem Schlüssel schritten wir nach oben und verstauten unsere Sachen. Dann blickte ich erwartungsvoll Miyako an, immerhin waren wir nun an ihrem Ziel angelangt.
„Ich würde sagen, wir versuchen zunächst mehr über die Goldene Schildmaid herauszufinden“, schlug sie vor. „Was man über sie gehört hat, ob sie vor Anker liegt, ob wir vielleicht ein Mannschaftsmitglied ausfindig machen können.“
„Nun, da wir jetzt hier sind“, entgegnete Mara. „Wäre ich doch neugierig zu erfahren, was genau mit deiner Schwester geschehen ist und wie uns das nach Usegorm geführt hat?“
Miyako nickte und erzählte in Kürze von ihrer Schwester, die mit ihrem Mann vor knapp zwei Jahren auf Handelsreise gewesen war. Die Goldene Schildmaid hat das Schiff überfallen und versenkt, wobei Miyakos Schwager umgekommen ist. Allerdings gibt es keine gesicherten Hinweise zum Verbleib von Haruka Kinjo, weswegen wir nun die Goldene Schildmaid in ihrem Heimathafen Usegorm suchen – die Mannschaft wird sich womöglich erinnern, fahren doch nicht gerade viele KanThai so weit weg von der Heimat zur See. Es besteht noch die Hoffnung, Haruka lebend wieder zu finden… oder zumindest Gewissheit zu haben.
Nun war Mara im Bilde und wirkte fest entschlossen, Miyako bei der Suche zu helfen, der sich auch Ricardo und ich angeschlossen hatten.
Der erste Anlaufpunkt unserer Nachforschungen war das Gasthaus selbst. Es wurde bereits reichlich getrunken, vor allem von jenen Männern, die nicht so recht etwas mit sich anzufangen wissen während sie hier sind. Und wo sich Menschen gesellten, da waren auch Unterhalter aller Art nicht fern. So suchten wir uns einen Waelinger, der mit seinen Geschichten ohnehin die Menschen unterhielt – ein Skalde, der sicherlich auch etwas über die Goldene Schildmaid berichten konnte.
Wieder übernahm Mara das Reden, während Miyako und ich anregten, was wir alles wissen mussten. Der Waelinger, zunächst etwas verwundert, aber auch schon angetrunken, berichtete uns vom typischen Seemannsgarn. Es waren Geschichten, die wohl jedem Schiff anhafteten, das mehr als zwei Fahrten und einen Kampf überstanden hatte – Erzählungen, die man aufschnappte und beim nächsten Wiedergeben mit eigenen Ausschmückungen und Interpretationen versah, bis die Sichtung eines Wals zum heimtückischen und tagelangen Kampf mit einer Seeschlange wurde. Oder zwei.
So habe die Goldene Schildmaid bereits einen Kontinent umschifft und Raubfahrten in fremden oder gar allen Ländern Midgards erlebt. Der gewitzte Kapitän habe mit seinen fünfzig Mann schon manchen Kampf überstanden und der Skalde erzählte weiter, dass bereits einige küstennahe Klöster und Dörfer gebrandschatzt und die Bevölkerung entweder abgeschlachtet oder versklavt worden ist. Das berichtete er in einer Art und Weise, die den Fokus auf Gold und Reichtum legte, ohne jegliches Mitleid für die Opfer der Raubzüge. Zumindest traf auch kein Mitleid die eigenen Leute, denn monoton erklärte der Skalde, dass immer wieder Männer auf See starben – dann kam die Goldene Schildmaid nach Usegorm, um sich Nachschub für die Ruder zu besorgen.
All diese Geschichten gab es freilich nicht umsonst, auch wenn die Währung des Mannes eher ungewöhnlich war. Er drängte Miyako dazu, von ihrer fernen (ihm unbekannten) Heimat zu berichten. Mit vagen Antworten, die Mara übersetzte, hielt sie ihn bei Laune. Schließlich gaben wir es jedoch auf, uns bei einem Geschichtenerzähler winzige Informationsbrocken zusammen zu klauben und gingen an den Hafen.
Dort konnten wir zunächst die Kriegsschiffe in Blick nehmen. Der Zufall war uns jedoch nicht hold; wir sichteten keine Gallionsfigur, die auf die Goldene Schildmaid hindeuten würde. Stattdessen bemerkten wir, dass der Drachenkopf, den das vermoderte Aeglierschiff zur Schau gestellt hatte, wohl mittlerweile aus der Mode gekommen war. Zu unserem Leidwesen erblickten wir außerdem einige Sklaven, die man in Käfige gesperrt hatte. Widerwärtige Barbaren feilschten gerade um den Preis, umgeben von hünenhaften Schlägern. Es wäre übertrieben, wenn ich von einem konkreten Plan sprechen würde, diese Männer und Frauen zu befreien. Vielmehr zogen sich müde Gedanken durch mein Hirn und ich kam zu dem Ergebnis, dass es Nichts gab, was wir tun konnten, was einen tatsächlichen Sinn oder Unterschied machen konnte. So nahm ich das Leid der Menschen hin, als wäre eine graue Regenwolke vorbeigezogen. Das war es wohl, was so mancher aus meinem Volk meinte: das Leben unter Menschen kann eine Krankheit sein, die zuerst den Geist vergiftet.
Wir scheiterten an der Unübersichtlichkeit des Hafens, der natürlich über keine Aufseher in dem Sinne verfügte, wie wir sie aus Candranor kannten. Allerdings kam ich auf die Idee, bei der Wogenwolf vorbeizuschauen – und tatsächlich erfuhren wir dort von Eike Gunderson, dass ein gewisser Björne am Ende des Piers lebte. Der Waelinger habe wohl in der Regel eine gute Kenntnis, welche Schiffe vor Anker lagen und welche erwartet würden.
Dem Fingerzeig folgend fanden wir am Ende des Hafens eine kleine Hütte, in die wir nach einfachem Klopfen direkt hereingebeten wurden. Drinnen erwartete uns ein etwas älterer Waelinger – der jedoch auch nur seine Muttersprache beherrschte. Ohne Mara hätte es hier in der Tat ziemlich düster ausgesehen…
Zunächst fanden wir dank der Elfe heraus, dass der Mann tatsächlich Björne war und er reagierte auch recht freundlich, als wir ihn auf seinen Bekannten Eike Gunderson ansprachen. Und tatsächlich besaß der Waelinger einiges Wissen über das Kommen und Segeln der Schiffe im Hafen Usegorms.
„Ihr fragt nach der Goldenen Schildmaid?“, übersetzte uns Mara. „Die kommt nur unregelmäßig nach Usegorm, meistens, wenn sie Ersatz für ihre gefallenen Krieger sucht. Das letzte Mal war sie vor einem halben Jahr da, also könnte sie vielleicht bald wieder kommen. Oder erst nach dem Winter. Oder in einem Jahr, das kann man wirklich nicht sagen. Sind halt freie Männer und keine verweichlichten Krämer, wie die aus‘m Süden.“
„Wenn schon die Schildmaid selbst nicht hier ist, dann vielleicht ein ehemaliges Mannschaftsmitglied?“, fragte Miyako. Nach der Übersetzung überlegte Björne eine Weile, bis ihm sichtbar ein Licht aufging und hastig berichtete Mara, dass der Waelinger sich tatsächlich an jemanden erinnere: „Ansgar Höggir ist ein ehemaliger Matrose der Goldenen Schildmaid. Er lebt seit etwa einem Jahr auf einem Bauernhof, draußen vor der Stadt!“
Damit schienen wir einen Glückstreffer gelandet zu haben, da Ansgar damit wohl noch an Bord des Raubschiffes gewesen war, als es zum Überfall auf den kanthaipanischen Handelssegler gekommen war. Wir ließen uns die Beschreibung von Björne geben, ehe wir im Gasthaus unsere Waffen holten und zum Bauernhof aufbrachen.
Wir ließen die Hütten und Langhäuser Usegorms hinter uns und gingen auf einem nur rudimentär befestigten Weg an den Feldern vor der Stadt vorbei. Sie waren ausnahmslos eingeschneit, weswegen wir auf Ansgars Hof zumindest nicht mit Zeugen rechnen mussten. Denn obwohl es unausgesprochen blieb: wir alle rechneten damit, dass es hässlich werden würde. Da wirkte es beinah seltsam an, den so gewöhnlichen Hof vorzufinden, den uns Björne beschrieben hatte. Abgegrenzt mit einer niedrigen Steinmauer lag der kleine Flecken Land dar.
Ohne zu zögern näherten wir uns dem Haus und nach einem kräftigen Klopfen rief uns ein Mann hinein. Rasch huschten wir alle vier mitsamt Maglos hinein, die Waffen zum Teil in der Hand – Mara trug außerdem ihre Vollrüstung.
Das Innere des Gebäudes bestand nur aus einem großen Raum, in dessen Mitte ein großes Feuer prasselte. Die wohlige Wärme stand der stickigen Luft gegenüber und die Holzbalken an der Decke waren bereits rußgeschwärzt. Wenige Fenster und kein Rauchfang machten aus dem Haus eine Räucherkammer. Lediglich ein Mann schien dies auszuhalten und hier zu wohnen; er hockte auf einem Stuhl nah an den Flammen. Es war ein Waelinger, der zwar noch nicht alt, aber übel mitgenommen aussah. Sein eines Auge war schlimm verletzt, womöglich blind, und sein linkes Bein endete oberhalb des Knies in einem Stumpf.
Entsetzt blickte der Mann uns, die wir waffenstarrend hineingestürmt waren. Doch in der Angst lag auch ein gewisses Erkenntnis. Es mochte jene poetische Erfahrung sein, dass ein Mann seinen Taten niemals entrinnen konnte – oder schlichtweg das dumpfe Wissen, dass er jetzt ein Problem hatte. Umso brisanter wurde es, da sich seine Augen erschrocken weiteten, als sein Blick auf Miyako fiel.
„Ansgar?“, fragte Miyako auf Comentang.
„Ja“, erwiderte der Mann mit bebender Stimme. Es klang etwas verwaschen, aber es reichte. „Was wollt ihr von mir? Verschwindet, ich kenne euch nicht!“
„Ihr wart einst an Bord der Goldenen Schildmaid!“, brachte Miyako bebend hervor.
„Kann sein, aber jetzt bin ich hier! Ich bin Bauer!“
„Hört zu“, sprach Mara nun deutlich sanfter. „Wir wollen Euch Nichts tun, wir brauchen nur ein paar Antworten.“
„Verschwindet! Ich weiß Nichts.“
„Das werden wir sehen“, schnappte Miyako. „Ihr wart bis vor einem Jahr Teil der Mannschaft. Während eurer Zeit habt Ihr ein Schiff überfallen, vor etwa zwei Jahren. Erinnert ihr euch? An Bord waren KanThai, so wie ich.“
„Wir haben Niemanden überfallen“, ächzte Ansgar noch einmal vergebens.
„Ich erinnere Euch, wir wollen nur Antworten. Euch wird Nichts geschehen“, beschwichtigte Mara während neben ihr Miyako stand und unverhohlen mit der Hand auf ihren Schwertgriff tippte.
„Also gut“, keuchte der Waelinger. „Wir haben ein Schiff überfallen und da waren Leute wie die da drauf.“
„Was ist mit dem Schiff und der Mannschaft geschehen?“, fragte Mara mit ruhiger Stimme nach.
„Das Boot wurde versenkt, die Mannschaft starb größtenteils. Wir haben nur wenige Gefangene gemacht.“
„Waren Frauen unter den Gefangenen? Wo sind sie jetzt?“, bellte Miyako deutlich harscher als Mara und Ansgar zuckte in seinem Stuhl zurück. Wäre es ihm möglich, er hätte sicherlich bei dem Anblick der zornentbrannten KanThai versucht zu fliehen.
„Es waren drei!“, jaulte er auf. „Eine haben wir bereits in Candranor verkauft, zwei weitere in Usegorm.“
„In Usegorm… an wen habt Ihr sie da verkauft?“, übernahm Mara nun wieder das Ruder des Verhörs.
„Sie gingen an die Sklavenhändler. Die eine wurde direkt an Bord eines Schiffes gebracht, das nach Süden aufbrach. Die andere wurde an den Hökjarl der Godren verkauft.“
„Die, die wir suchen war eine bedeutende Person an Bord gewesen“, hakte Miyako nach. „Sie muss euch besonders aufgefallen sein. Welche der dreien war sie?“
„Ich weiß es nicht! Vielleicht diejenige, die an den Hökjarl ging. Das war zumindest die Hübscheste“, beeilte der Mann sich sein Wissen preis zu geben. Die Taktik der beiden Frauen war aufgegangen und zwischen Beschwichtigung und Druck hatte er aufgegeben, sich dumm zu stellen.
„Wir werden uns erstmal verabschieden, Ansgar. Wenn du gelogen haben solltest, jedoch…“, erklärte Miyako vielsagend. Damit verließen das Haus und kehrten zurück zur Stadt.
Es galt die Aussagen von Ansgar zu überprüfen, allerdings stellten wir bei Björne fest, dass dieser mehr auf die Schiffe und weniger auf den Sklavenhandel achtete. Allerdings verwies er uns an einen gewissen Floki, welcher sich in dem Gewerbe angebliche auskannte.
Natürlich fanden wir den Mann bei den vormals gesichteten Käfigen, deren Zahl bereits gesunken war. Der Mann, der durch sein abgeschnittenes Ohr auffiel, schien bester Laune, als wir uns ihm näherten. Auch er sprach Comentang, sogar recht flüssig.
„Wie kann ich euch helfen? Wollt ihr kaufen oder verkaufen?“, bei seinen letzten Worten blickte er zu Miyako. Wir ignorierten die Anfrage vorerst und hofften auf einen schlechten Scherz.
„Tatsächlich suchen wir jemanden“, eröffnete ich. „Eine KanThai, wie unsere Begleiterin. Sie wurde wahrscheinlich vor anderthalb bis zwei Jahren hier angeboten.“
„Ah, ich erinnere mich. Das war eine größere Sache, es waren sogar zwei dieser exotischen Schönheiten. Solche haben wir hier nicht oft“, erzählte der Mann mit schmieriger Stimme und rieb sich dabei wohl eher unbewusst die Hände. Aus der vormals genannten Regenwolke über meinem Gemüt entwickelte sich ein Sturmtief, was noch durch meine Unfähigkeit, irgendetwas zu tun, verstärkt wurde.
„Erinnert Ihr euch, wer sie gekauft hat?“, fragte Mara nach.
„Eine ging über einen Sklavenhändler nach Alba…“
„Alba?“, fragte ich verwundert nach. Das Land war ebenfalls recht rückständig, aber Sklaven?
„Ja, durchaus. Da heißen sie nur nicht Sklaven. Sind ja ‚zivilisert‘, diese Albai“, feixte der Mann, der dann auf seine ursprüngliche Frage zurückkam: „Ich würde euch übrigens ein gutes Angebot für diese KanThai machen. Sie sieht gut gewachsen aus, zudem attraktiv! Sagen wir, ich kontaktiere meine Kreise und von der Bezahlung erhaltet ihr… 30 Prozent!“
„Sie wird nicht verkauft“, brummte ich. „Wohin wurde die andere KanThai verkauft?“
„Ah ja, das war die hübschere der beiden. Wirkte recht stilvoll und anmutig, deswegen habe ich sie gekauft. Ich habe meine Kontakte und weiß, wer auf solche steht. Diese spezielle habe ich sogar an den Hökjarl der Godren verkauft! Ha, das war ein guter Abschluss.“
„Der Hökjarl der Godren? Aus Boras?“
„Ja, wer denn sonst?“, erwiderte der Mann gedehnt. „Er wird schon seinen Spaß mit der Frau haben.“
Wir verabschiedeten uns mit zusammengebissenen Zähnen so höflich, wie wir es vermochten und kehrten für ein Gespräch in unser Gasthaus zurück, wo wir auf unserem Zimmer zunächst etwas aßen.
„Wir müssen nach Boras“, eröffnete Miyako schließlich die Planung. „Ich gehe davon aus, dass der Hökjarl meine Schwester hat und wenn nicht, können wir die Godren immerhin ausschließen und uns den anderen Fährten zuwenden.“
„Zudem liegt das von allen genannten Zielen am nächsten“, ergänzte Mara.
„Dann können wir uns wieder der Wogenwolf anschließen. Eike Gunderson wollte ja bereits morgen wieder in See stechen“, schloss ich und wir waren uns einig.
Die Mannschaft der Wogenwolf war schnell ausfindig gemacht und wir setzten uns zunächst mit einem der Umgebung geschuldeten Krug Met zu Eike Gunderson.
„Seid gegrüßt, Kapitän“, eröffnete Miyako. „Unsere Reiseziele haben sich erweitert: wir würden gerne weiter mit euch reisen, bis nach Boras.“
„Guten Abend“, brummte der Waelinger. „Darf ich fragen, wie ihr drauf kommt?“
„Wir wollen den Hökjarl treffen.“
„Den Hökjarl? Den habe selbst ich noch nie getroffen. Wäre schon ein Ding, für Fremde wie euch. Ihr kennt ihn doch nicht etwa?“
„Ich würde sagen, indirekt. Mehr oder weniger geschäftlich“, blieb Miyako vage, aber so brennend schien es Eike nicht zu interessieren, dass er nachhakte.
„Dann würde ich sagen: willkommen zurück an Bord! Versorgt euch mit Nahrung und seid spätestens Morgen Mittag bei der Wogenwolf. Dann geht es nach Boras.“ Und lauter setzte er hinzu: „Auf in die Heimat!“
Grölend fielen die anderen Mannschaftsmitglieder mit ein, reckte ihre Trinkhörner und stürzten sich den süßlichen Honigwein die Kehlen hinunter. Wir zogen uns früh genug zurück, um nicht ein weiteres Mal Orm erleben zu müssen.
Das Ziel war klar – doch wie würden wir eine Sklavin des Hökjarls befreien können?